Sein Und Zeit
Von
Martin Heidegger
Elfte, unveränderte Auflage
1967
Max Niemeyer Verlag Tübingen
Zuerst erschienen als Sonderdruck aus
»Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung«
Band
VIII herausgegeben von Edmund Husserl
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1967
Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany
Druck: Gutmann & Co., Heilbronn
Einband von Heinr. Koch, Tübingen
Digitalisiert in Deutschland 2002 vom Schwarzkommando
Edmund Husserl
In Verehrung und Freundschaft zugeeignet
Todtnauberg
i. Bad. Schwarzwald zum 8. April 1926
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Vorbemerkung
Die Abhandlung »Sein und Zeit« erschien zuerst Frühjahr 1927
in dem von E. Husserl herausgegebenen Jahrbuch für Phänome-
nologie und phänomenologische Forschung Bd. VIII und gleich-
zeitig als Sonderdruck.
Der vorliegende, als neunte Auflage erscheinende Neudruck
ist
im Text unverändert, jedoch hinsichtlich der Zitate und der
Interpunktion neu durchgesehen. Die Seitenzahlen des Neu-
druckes stimmen bis auf geringe Abweichungen mit denen der
früheren Auflagen überein.
Die in den bisherigen Auflagen angebrachte Kennzeichnung
»Erste Hälfte« ist gestrichen. Die zweite Hälfte läßt sich
nach
einem Vierteljahrhundert nicht mehr anschließen, ohne daß
die
erste neu dargestellt würde. Deren Weg bleibt indessen auch
heute noch ein notwendiger, wenn die Frage nach dem Sein
unser
Dasein bewegen soll.
Zur Erläuterung dieser Frage sei auf die im gleichen Verlag
er-
schienene »Einführung in die Metaphysik« verwiesen. Sie
bringt
den Text einer im Sommersemester 1935 gehaltenen Vorlesung.
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VII
Einleitung
Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein
Erstes Kapitel
Notwendigkeit, Struktur und Vorrang der Seinsfrage
§ 1. Die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Wiederholung der
Frage
nach dem Sein ... 2
§ 2. Die formale Struktur der Frage nach dem Sein ... 5
§ 3. Der ontologische Vorrang der Seinsfrage ... 8
§ 4. Der ontische Vorrang der Seinsfrage ... 11
Zweites Kapitel
Die Doppelaufgabe in der Ausarbeitung der Seinsfrage
Die Methode der Untersuchung und ihr Aufriß
§ 5. Die ontologische Analytik des Daseins als Freilegung
des Horizontes
für eine Interpretation des Sinnes von Sein überhaupt ... 15
§ 6. Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der
Ontologie ... 19
§ 7. Die phänomenologische Methode der Untersuchung ... 27
A. Der Begriff des Phänomens ... 28
B. Der Begriff des Logos ... 32
C. Der Vorbegriff der Phänomenologie ... 34
§ 8. Der Aufriß der Abhandlung ... 39
Erster Teil
Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit
und die Explikation der Zeit als des transzendentalen
Horizontes
der Frage nach dem Sein
Erster Abschnitt
Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins
Erstes Kapitel
Die Exposition der Aufgabe einer vorbereitenden Analyse des
Daseins
§ 9. Das Thema der Analytik des Daseins ... 41
§ 10. Die Abgrenzung der Daseinsanalytik gegen
Anthropologie, Psy-
chologie und Biologie ... 45
§ 11. Die existenziale Analytik und die Interpretation des
primitiven
Daseins. Die Schwierigkeiten der Gewinnung eines
»natürlichen
Weltbegriffes« ... 50 VIII
Zweites Kapitel
Das In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des
Daseins
§ 12. Die Verzeichnung des In-der-Welt-seins aus der
Orientierung am
In-Sein als solchem ... 52
§ 13. Die Exemplifizierung des In-Seins an einem fundierten
Modus. Das
Welterkennen ... 59
Drittes Kapitel
Die Weltlichkeit der Welt
§ 14. Die Idee der Weltlichkeit der Welt überhaupt ... 63
A. Die Analyse der Umweltlichkeit und Weltlichkeit überhaupt
§ 15. Das Sein des in der Umwelt begegnenden Seienden ... 66
§ 16. Die am innerweltlich Seienden sich meldende
Weltmäßigkeit der
Umwelt ... 72
§ 17. Verweisung und Zeichen ... 76
§ 18. Bewandtnis und Bedeutsamkeit; die Weltlichkeit der
Welt ... 83
B. Die Abhebung der Analyse der Weltlichkeit gegen die
Interpretation
der Welt bei Descartes
§ 19. Die Bestimmung der »Welt« als res extensa ... 89
§ 20. Die Fundamente der ontologischen Bestimmung der »Welt«
... 92
§ 21. Die hermeneutische Diskussion der cartesischen
Ontologie der
»Welt« ... 95
C. Das Umhafte der Umwelt und die »Räumlichkeit« des Daseins
§ 22. Die Räumlichkeit des innerweltlich Zuhandenen ... 102
§ 23. Die Räumlichkeit des In-der-Welt-seins ... 104
§ 24. Die Räumlichkeit des Daseins und der Raum ... 110
Das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein. Das »Man«
§ 25. Der Ansatz der existenzialen Frage nach dem Wer des
Daseins
......... 114
§ 26. Das Mitdasein der Anderen und das alltägliche Mitsein
... 117
§ 27. Das alltägliche Selbstsein und das Man ... 126
Fünftes Kapitel
Das In-Sein als solches
§ 28. Die Aufgabe einer thematischen Analyse des In-Seins
... 130
A. Die existenziale Konstitution des Da
§ 29. Das Da-sein als Befindlichkeit ... 134
§ 30. Die Furcht als ein Modus der Befindlichkeit ... 140
§ 31. Das Da-sein als Verstehen ... 142
§ 32. Verstehen und Auslegung ... 148
§ 33. Die Aussage als abkünftiger Modus der Auslegung ...
154
§ 34. Da-sein und Rede. Die Sprache ... 160 IX
B. Das alltägliche Sein des Da und das Verfallen des Daseins
§ 35. Das Gerede ... 167
§ 36. Die Neugier ... 170
§ 37. Die Zweideutigkeit ... 173
§ 38. Das Verfallen und die Geworfenheit ... 175
§
39. Die Frage nach der ursprünglichen Ganzheit des Strukturganzen
des Daseins ... 180
§ 40. Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine
ausgezeichnete Er-
schlossenheit des Daseins ... 184
§ 41. Das Sein des Daseins als Sorge ... 191
§ 42. Die Bewährung der existenzialen Interpretation des
Daseins als
Sorge aus der vorontologischen Selbstauslegung des Daseins
...
196
§ 43. Dasein, Weltlichkeit und Realität ... 200
a) Realität als Problem des Seins und der Beweisbarkeit der
»Außenwelt« ... 202
b) Realität als ontologisches Problem ... 209
c) Realität und Sorge ... 211
§ 44. Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit ... 212
a) Der traditionelle Wahrheitsbegriff und seine
ontologischen
Fundamente ... 214
b) Das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit und die Abkünf-
tigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffes ... 219
c) Die Seinsart der Wahrheit und die Wahrheitsvoraussetzung
....... 226
Zweiter Abschnitt
Dasein und Zeitlichkeit
§ 45. Das Ergebnis der vorbereitenden Fundamentalanalyse des
Daseins
und die Aufgabe einer ursprünglichen existenzialen
Interpretation
dieses Seienden ... 231
§ 46. Die scheinbare Unmöglichkeit einer ontologischen
Erfassung und
Bestimmung des daseinsmäßigen Ganzseins ... 235
möglichkeit eines ganzen Daseins ... 237
möglichen anderen Interpretationen des Phänomens ... 246
....... 249
§ 51. Das Sein zum Tode und die Alltäglichkeit des Daseins
... 252
§ 52. Das alltägliche Sein zum Ende und der volle
existenziale Begriff des
Todes ... 255
§ 53. Existenzialer Entwurf eines eigentlichen Seins zum
Tode ... 260 X
§ 54. Das Problem der Bezeugung einer eigentlichen
existenziellen Mög-
lichkeit ... 267
Seinkönnens ... 295
§ 61. Vorzeichnung des methodischen Schrittes von der
Umgrenzung des
eigentlichen daseinsmäßigen Ganzseins zur phänomenalen Frei-
legung der Zeitlichkeit ... 301
§ 62. Das existenziell eigentliche Ganzseinkönnen des
Daseins als vor-
laufende Entschlossenheit ... 305
stenzialen Analytik überhaupt ... 310
Analyse ... 331
§ 67. Der Grundbestand der existenzialen Verfassung des
Daseins und
die Vorzeichnung ihrer zeitlichen Interpretation ... 334
zendenz der Welt ... 350
a) Die Zeitlichkeit des umsichtigen Besorgens ... 352
b) Der zeitliche Sinn der Modifikation des umsichtigen
Besorgens
zum theoretischen Entdecken des innerweltlich Vorhandenen
....... 356
c) Das zeitliche Problem der Transzendenz der Welt ... 364
§ 70. Die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit ...
367
§ 71. Der zeitliche Sinn der Alltäglichkeit des Daseins ...
370 XI
Fünftes Kapitel
Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit
§ 72. Die existenzial-ontologische Exposition des Problems
der
Geschichte 372
§ 73. Das vulgäre Verständnis der Geschichte und das
Geschehen des
Daseins ... 378
§ 74. Die Grundverfassung der Geschichtlichkeit ... 382
§ 75. Die Geschichtlichkeit des Daseins und die
Welt-Geschichte ... 387
§ 76. Der existenziale Ursprung der Historie aus der
Geschichtlichkeit
des Daseins ... 392
§ 77. Der Zusammenhang der vorstehenden Exposition des
Problems
der Geschichtlichkeit mit den Forschungen W. Diltheys und
den
Ideen des Grafen Yorck ... 397
§ 78. Die Unvollständigkeit der vorstehenden zeitlichen
Analyse des
Daseins ... 404
§ 79. Die Zeitlichkeit des Daseins und das Besorgen von Zeit
... 406
§ 80. Die besorgte Zeit und die Innerzeitigkeit ... 411
§ 81. Die Innerzeitigkeit und die Genesis des vulgären
Zeitbegriffes
......... 420
§ 82. Die Abhebung des existenzial-ontologischen
Zusammenhangs von
Zeitlichkeit, Dasein und Weltzeit gegen Hegels Auffassung
der
Beziehung zwischen Zeit und Geist ... 428
a) Hegels Begriff der Zeit ... 428
b) Hegels Interpretation des Zusammenhangs zwischen Zeit und
Geist ... 433
§ 83. Die existenzial-zeitliche Analytik des Daseins und die
fundamental-
ontologische Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt ... 436
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::: dÁlon
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ÐpÒtan ×n
fq?gghsqe) p£lai gignèskete, ¹mevj de prÕ toà men
òÒmeqa, nàn d' ºpor?kamen::: »Denn offenbar seid ihr doch
schon
lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr
den
Ausdruck seiend gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar
zu
verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen«1.
Haben wir heute eine Antwort auf die Frage nach dem, was wir
mit dem Wort »seiend« eigentlich meinen? Keineswegs. Und so
gilt es denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu
stellen.
Sind wir denn heute auch nur in der Verlegenheit, den
Ausdruck
»Sein« nicht zu verstehen? Keineswegs. Und so gilt es denn
vor-
dem, allererst wieder ein Verständnis für den Sinn dieser
Frage zu
wecken. Die konkrete Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn
von
»Sein« ist die Absicht der folgenden Abhandlung. Die
Interpreta-
tion der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden
Seinsver-
ständnisses überhaupt ist ihr vorläufiges Ziel.
Das Absehen auf ein solches Ziel, die in solchem Vorhaben
beschlossenen und von ihm geforderten Untersuchungen und der
Weg zu diesem Ziel bedürfen einer einleitenden Erläuterung.
1 Plato,
Sophistes 244a. 2
Einleitung
Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein
Erstes Kapitel
Notwendigkeit, Struktur und Vorrang der Seinsfrage
§ 1. Die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Wiederholung der
Frage nach dem Sein
Die genannte Frage ist heute in Vergessenheit gekommen, ob-
zwar unsere Zeit sich als Fortschritt anrechnet, die
»Metaphysik«
wieder zu bejahen. Gleichwohl hält man sich der
Anstrengungen
einer neu zu entfachenden gigantomac?a perp tÁj oÙs?aj für
ent-
hoben. Dabei ist die angerührte Frage doch keine beliebige.
Sie
hat das Forschen von Plato und Aristoteles in Atem gehalten,
um
freilich auch von da an zu verstummen – als thematische
Frage
wirklicher Untersuchung. Was die beiden gewonnen, hat sich
in
mannigfachen Verschiebungen und »Übermalungen« bis in die
»Logik« Hegels durchgehalten. Und was ehemals in der
höchsten
Anstrengung des Denkens den Phänomenen abgerungen wurde,
wenngleich bruchstückhaft und in ersten Anläufen, ist längst
trivialisiert.
Nicht nur das. Auf dem Boden der griechischen Ansätze zur
Interpretation des Seins hat sich ein Dogma ausgebildet, das
die
Frage nach dem Sinn von Sein nicht nur für überflüssig
erklärt,
sondern das Versäumnis der Frage überdies sanktioniert. Man
sagt: »Sein« ist der allgemeinste und leerste Begriff. Als
solcher
widersteht er jedem Definitionsversuch. Dieser allgemeinste
und
daher undefinierbare Begriff bedarf auch keiner Definition.
Jeder
gebraucht ihn ständig und versteht auch schon, was er je
damit
meint. Damit ist das, was als Verborgenes das antike
Philoso-
phieren in die Unruhe trieb und in ihr erhielt, zu einer
sonnenkla-
ren Selbstverständlichkeit geworden, so zwar, daß, wer darnach
auch noch fragt, einer methodischen Verfehlung bezichtigt
wird.
Zu Beginn dieser Untersuchung können die Vorurteile nicht
ausführlich erörtert werden, die ständig neu die
Bedürfnislosig-
keit eines Fragens nach dem Sein pflanzen und hegen. Sie
haben
ihre Wurzel 3
in der antiken Ontologie selbst. Diese ist wiederum nur –
hin-
sichtlich des Bodens, dem die ontologischen Grundbegriffe
ent-
wachsen sind, bezüglich der Angemessenheit der Ausweisung
der
Kategorien und ihrer Vollständigkeit – zureichend zu
interpretie-
ren am Leitfaden der zuvor geklärten und beantworteten Frage
nach dem Sein. Wir wollen daher die Diskussion der
Vorurteile
nur so weit führen, daß dadurch die Notwendigkeit einer
Wiederholung der Frage nach dem Sinn von Sein einsichtig
wird.
Es sind deren drei:
1. Das »Sein« ist der »allgemeinste« Begriff: tÕ Ôn œsti
kaqÒlou
m£lista p£ntwn.1
Illud quod primo cadit sub apprehensione est
ens, cuius
intellectus includitur in omnibus, quaecumque quis
apprehendit. »Ein Verständnis des Seins ist je schon mit
Inbegrif-
fen in allem, was einer am Seienden erfaßt.«2 Aber die
»Allgemeinheit« von »Sein« ist nicht die der Gattung. »Sein«
umgrenzt nicht die oberste Region des Seienden, sofern
dieses
nach Gattung und Art begrifflich artikuliert ist: oÜte tÕ Ôn
g?noj.3
Die »Allgemeinheit« des Seins »übersteigt« alle
gattungsmäßige
Allgemeinheit. »Sein« ist nach der Bezeichnung der
mittelalter-
lichen Ontologie ein »transcendens«. Die Einheit dieses
transzen-
dental »Allgemeinen« gegenüber der Mannigfaltigkeit der
sach-
haltigen obersten Gattungsbegriffe hat schon Aristoteles als
die
Einheit der Analogie erkannt. Mit dieser Entdeckung hat
Aristo-
teles bei aller Abhängigkeit von der ontologischen
Fragestellung
Platons das Problem des Seins auf eine grundsätzlich neue
Basis
gestellt. Gelichtet hat das Dunkel dieser kategorialen
Zusammen-
hänge freilich auch er nicht. Die mittelalterliche Ontologie
hat
dieses Problem vor allem in den thomistischen und
skotistischen
Schulrichtungen vielfältig diskutiert, ohne zu einer
grundsätz-
lichen Klarheit zu kommen. Und wenn schließlich Hegel das
»Sein« bestimmt als das »unbestimmte Unmittelbare« und diese
Bestimmung allen weiteren kategorialen Explikationen seiner
»Logik« zugrunde legt, so hält er sich in derselben
Blickrichtung
wie die antike Ontologie, nur daß er das von Aristoteles
schon
gestellte Problem der Einheit des Seins gegenüber der
Mannigfal-
tigkeit der sachhaltigen »Kategorien« aus der Hand gibt.
Wenn
man demnach sagt: »Sein« ist der allgemeinste Begriff, so
kann
das nicht heißen, er ist der klarste und aller weiteren
Erörterung
unbedürftig. Der Begriff des »Seins« ist vielmehr der
dunkelste.
1
Aristoteles, Met. B 4, 1001 a 21.
2 Thomas v.
A., S. th. II.1 qu. 94 a 2.
3
Aristoteles, Met. B 3, 998 b 22. 4
2. Der Begriff »Sein« ist undefinierbar. Dies schloß man aus
seiner höchsten Allgemeinheit.1 Und das mit Recht – wenn
defini-
tio fit per genus proximum et differentiam specificam.
»Sein«
kann in der Tat nicht als Seiendes begriffen werden; enti
non
additur aliqua natura: »Sein« kann nicht so zur Bestimmtheit
kommen, daß ihm Seiendes zugesprochen wird. Das Sein ist
defi-
nitorisch aus höheren Begriffen nicht abzuleiten und durch
nie-
dere nicht darzustellen. Aber folgt hieraus, daß »Sein« kein
Problem mehr bieten kann? Mitnichten; gefolgert kann nur
wer-
den: »Sein« ist nicht so etwas wie Seiendes. Daher ist die
in
gewissen Grenzen berechtigte Bestimmungsart von Seiendem –
die »Definition« der traditionellen Logik, die selbst ihre
Funda-
mente in der antiken Ontologie hat – auf das Sein nicht
anwend-
bar. Die Undefinierbarkeit des Seins dispensiert nicht von
der
Frage nach seinem Sinn, sondern fordert dazu gerade auf.
3. Das »Sein« ist der selbstverständliche Begriff. In allem
Erkennen, Aussagen, in jedem Verhalten zu Seiendem, in jedem
Sich-zu-sich-selbst-verhalten wird von »Sein« Gebrauch
gemacht,
und der Ausdruck ist dabei »ohne weiteres« verständlich.
Jeder
versteht: »Der Himmel ist blau«; »ich bin froh« und dgl.
Allein
diese durchschnittliche Verständlichkeit demonstriert nur
die
Unverständlichkeit. Sie macht offenbar, daß in jedem
Verhalten
und Sein zu Seiendem als Seiendem a priori ein Rätsel liegt.
Daß
wir je schon in einem Seinsverständnis leben und der Sinn
von
Sein zugleich in Dunkel gehüllt ist, beweist die
grundsätzliche
Notwendigkeit, die Frage nach dem Sinn von »Sein« zu wieder-
holen.
Die Berufung auf Selbstverständlichkeit im Umkreis der
philo-
sophischen Grundbegriffe und gar im Hinblick auf den Begriff
»Sein« ist ein zweifelhaftes Verfahren, wenn anders das
»Selbst-
verständliche« und nur es, »die geheimen Urteile der gemeinen
Vernunft« (Kant), ausdrückliches Thema der Analytik (»der
Philosophen Geschäft«) werden und bleiben soll.
Die Erwägung der Vorurteile machte aber zugleich deutlich,
daß nicht nur die Antwort fehlt auf die Frage nach dem Sein,
sondern daß sogar die Frage selbst dunkel und richtungslos
ist.
Die Seinsfrage wiederholen besagt daher: erst einmal die
Frage-
stellung zureichend ausarbeiten.
1 Vgl. Pascal,
Pensées et Opuscules (ed. Brunschvicg)
6
, Paris 1912,
S. 169: On ne
peut entreprendre de définir l’être sans tomber dans cette
absurdité: car on
ne peut définir un mot sans commencer par celui-ci,
c’est, soit qu’on
l’exprime ou qu’on le sous-entende. Donc pour définir
l’être, il
faudrait dire c’est, et ainsi employer le mot défini dans sa
définition. 5
§ 2. Die formale Struktur der Frage nach dem Sein
Die Frage nach dem Sinn von Sein soll gestellt werden. Wenn
sie eine oder gar die Fundamentalfrage ist, dann bedarf
solches
Fragen der angemessenen Durchsichtigkeit. Daher muß kurz
erörtert werden, was überhaupt zu einer Frage gehört, um von
da
aus die Seinsfrage als eine ausgezeichnete sichtbar machen
zu
können.
Jedes Fragen ist ein Suchen. Jedes Suchen hat seine
vorgängige
Direktion aus dem Gesuchten her. Fragen ist erkennendes
Suchen
des Seienden in seinem Daß- und Sosein. Das erkennende
Suchen
kann zum »Untersuchen« werden als dem freilegenden Bestim-
men dessen, wonach die Frage steht. Das Fragen hat als
Fragen
nach... sein Gefragtes. Alles Fragen nach ... ist in
irgendeiner
Weise Anfragen bei... Zum Fragen gehört außer dem Gefragten
ein Befragtes. In der untersuchenden, d. h. spezifisch
theoreti-
schen Frage soll das Gefragte bestimmt und zu Begriff
gebracht
werden. Im Gefragten liegt dann als das eigentlich
Intendierte das
Erfragte, das, wobei das Fragen ins Ziel kommt. Das Fragen
selbst hat als Verhalten eines Seienden, des Fragers, einen
eigenen
Charakter des Seins. Ein Fragen kann vollzogen werden als
»Nur-so-hinfragen« oder als explizite Fragestellung. Das
Eigen-
tümliche dieser liegt darin, daß das Fragen sich zuvor nach
all
den genannten konstitutiven Charakteren der Frage selbst
durch-
sichtig wird.
Nach dem Sinn von Sein soll die Frage gestellt werden. Damit
stehen wir vor der Notwendigkeit, die Seinsfrage im Hinblick
auf
die angeführten Strukturmomente zu erörtern.
Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom
Gesuchten her. Der Sinn von Sein muß uns daher schon in
gewis-
ser Weise verfügbar sein. Angedeutet wurde: wir bewegen uns
immer schon in einem Seinsverständnis. Aus ihm heraus
erwächst
die ausdrückliche Frage nach dem Sinn von Sein und die
Tendenz
zu dessen Begriff. Wir wissen nicht, was »Sein« besagt. Aber
schon wenn wir fragen: »was ist ›Sein‹?« halten wir uns in
einem
Verständnis des »ist«, ohne daß wir begrifflich fixieren
könnten,
was das »ist« bedeutet. Wir kennen nicht einmal den
Horizont,
aus dem her wir den Sinn fassen und fixieren sollten. Dieses
durchschnittliche und vage Seinsverständnis ist ein Faktum.
Dieses Seinsverständnis mag noch so sehr schwanken und ver-
schwimmen und sich hart an der Grenze einer bloßen Wort-
kenntnis bewegen – diese Unbestimmtheit des je schon verfüg-
baren Seinsverständnisses ist selbst ein positives Phänomen,
das
der Aufklärung be- 6
darf. Eine Untersuchung über den Sinn von Sein wird diese
jedoch nicht zu Anfang geben wollen. Die Interpretation des
durchschnittlichen Seinsverständnisses gewinnt ihren
notwendi-
gen Leitfaden erst mit dem ausgebildeten Begriff des Seins.
Aus
der Helle des Begriffes und der ihm zugehörigen Weisen des
ex-
pliziten Verstehens seiner wird auszumachen sein, was das
ver-
dunkelte, bzw. noch nicht erhellte Seinsverständnis meint,
welche
Arten der Verdunkelung, bzw. der Behinderung einer
expliziten
Erhellung des Seinssinnes möglich und notwendig sind.
Das durchschnittliche, vage Seinsverständnis kann ferner
durchsetzt sein von überlieferten Theorien und Meinungen
über
das Sein, so zwar, daß dabei diese Theorien als Quellen des
herr-
schenden Verständnisses verborgen bleiben. – Das Gesuchte im
Fragen nach dem Sein ist kein völlig Unbekanntes, wenngleich
zunächst ganz und gar Unfaßliches.
Das Gefragte der auszuarbeitenden Frage ist das Sein, das,
was
Seiendes als Seiendes bestimmt, das, woraufhin Seiendes, mag
es
wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist. Das Sein
des
Seienden »ist« nicht selbst ein Seiendes. Der erste
philosophische
Schritt im Verständnis des Seinsproblems besteht darin, nicht
màqÒn tina dihgevsqai1 »keine Geschichte erzählen«, d.h.
Seiendes
als Seiendes nicht durch Rückführung auf ein anderes
Seiendes in
seiner Herkunft zu bestimmen, gleich als hätte Sein den
Charak-
ter eines möglichen Seienden. Sein als das Gefragte fordert
daher
eine eigene Aufweisungsart, die sich von der Entdeckung des
Seienden wesenhaft unterscheidet. Sonach wird auch das
Erfragte, der Sinn von Sein, eine eigene Begrifflichkeit
verlangen,
die sich wieder wesenhaft abhebt gegen die Begriffe, in denen
Seiendes seine bedeutungsmäßige Bestimmtheit erreicht.
Sofern das Sein das Gefragte ausmacht, und Sein besagt Sein
von Seiendem, ergibt sich als das Befragte der Seinsfrage
das
Seiende selbst. Dieses wird gleichsam auf sein Sein hin
abgefragt.
Soll es aber die Charaktere seines Seins unverfälscht
hergeben
können, dann muß es seinerseits zuvor so zugänglich geworden
sein, wie es an ihm selbst ist. Die Seinsfrage verlangt im
Hinblick
auf ihr Befragtes die Gewinnung und vorherige Sicherung der
rechten Zugangsart zum Seienden. Aber »seiend« nennen wir
vieles und in verschiedenem Sinne. Seiend ist alles, wovon
wir
reden, was wir meinen, wozu wir uns so und
1 Plato,
Sophistes 242 c. 7
so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir selbst sind.
Sein
liegt im Daß- und Sosein, in Realität, Vorhandenheit,
Bestand,
Geltung, Dasein, im »es gibt«. An welchem Seienden soll der
Sinn
von Sein abgelesen werden, von welchem Seienden soll die
Erschließung des Seins ihren Ausgang nehmen? Ist der Ausgang
beliebig, oder hat ein bestimmtes Seiendes in der
Ausarbeitung
der Seinsfrage einen Vorrang? Welches ist dieses
exemplarische
Seiende und in welchem Sinne hat es einen Vorrang?
Wenn die Frage nach dem Sein ausdrücklich gestellt und in
voller Durchsichtigkeit ihrer selbst vollzogen werden soll,
dann
verlangt eine Ausarbeitung dieser Frage nach den bisherigen
Erläuterungen die Explikation der Weise des Hinsehens auf
Sein,
des Verstehens und begrifflichen Fassens des Sinnes, die
Bereitung
der Möglichkeit der rechten Wahl des exemplarischen
Seienden,
die Herausarbeitung der genuinen Zugangsart zu diesem Seien-
den. Hinsehen auf, Verstehen und Begreifen von, Wählen, Zu-
gang zu sind konstitutive Verhaltungen des Fragens und so
selbst
Seinsmodi eines bestimmten Seienden, des Seienden, das wir,
die
Fragenden, je selbst sind. Ausarbeitung der Seinsfrage
besagt
demnach: Durchsichtigmachen eines Seienden – des fragenden –
in seinem Sein. Das Fragen dieser Frage ist als Seinsmodus
eines
Seienden selbst von dem her wesenhaft bestimmt, wonach in
ihm
gefragt ist – vom Sein. Dieses Seiende, das wir selbst je
sind und
das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat,
fassen
wir terminologisch als Dasein. Die ausdrückliche und
durchsich-
tige Fragestellung nach dem Sinn von Sein verlangt eine
vorgän-
gige angemessene Explikation eines Seienden (Dasein)
hinsicht-
lich seines Seins.
Fällt aber solches Unterfangen nicht in einen offenbaren
Zirkel? Zuvor Seiendes in seinem Sein bestimmen müssen und
auf diesem Grunde dann die Frage nach dem Sein erst stellen
wollen, was ist das anderes als das Gehen im Kreise? Ist für
die
Ausarbeitung der Frage nicht schon »vorausgesetzt«, was die
Antwort auf diese Frage allererst bringen soll? Formale Ein-
wände, wie die im Bezirk der Prinzipienforschung jederzeit
leicht
anzuführende Argumentation auf den »Zirkel im Beweis«, sind
bei Erwägungen über konkrete Wege des Untersuchens immer
steril. Für das Sachverständnis tragen sie nichts aus und
hemmen
das Vordringen in das Feld der Untersuchung.
Faktisch liegt aber in der gekennzeichneten Fragestellung
über-
haupt kein Zirkel. Seiendes kann in seinem Sein bestimmt
wer-
den, ohne daß dabei schon der explizite Begriff vom Sinn des
Seins verfügbar sein müßte. Wäre dem nicht so, dann könnte
es
bislang noch keine 8
ontologische Erkenntnis geben, deren faktischen Bestand man
wohl nicht leugnen wird. Das »Sein« wird zwar in aller
bisheri-
gen Ontologie »vorausgesetzt«, aber nicht als verfügbarer
Begriff
–, nicht als das, als welches es Gesuchtes ist. Das
»Voraussetzen«
des Seins hat den Charakter der vorgängigen Hinblicknahme
auf
Sein, so zwar, daß aus dem Hinblick darauf das vorgegebene
Seiende in seinem Sein vorläufig artikuliert wird. Diese
leitende
Hinblicknahme auf das Sein entwächst dem durchschnittlichen
Seinsverständnis, in dem wir uns immer schon bewegen, und
das
am Ende zur Wesensverfassung des Daseins selbst gehört.
Solches
»Voraussetzen« hat nichts zu tun mit der Ansetzung eines
Grundsatzes, daraus eine Satzfolge deduktiv abgeleitet wird.
Ein
»Zirkel im Beweis« kann in der Fragestellung nach dem Sinn
des
Seins überhaupt nicht liegen, weil es in der Beantwortung
der
Frage nicht um eine ableitende Begründung, sondern um
aufwei-
sende Grund-Freilegung geht.
Nicht ein »Zirkel im Beweis« liegt in der Frage nach dem
Sinn
von Sein, wohl aber eine merkwürdige »Rück- oder Vorbezogen-
heit« des Gefragten (Sein) auf das Fragen als Seinsmodus
eines
Seienden. Die wesenhafte Betroffenheit des Fragens von
seinem
Gefragten gehört zum eigensten Sinn der Seinsfrage. Das
besagt
aber nur: das Seiende vom Charakter des Daseins hat zur
Seins-
frage selbst einen – vielleicht sogar ausgezeichneten –
Bezug. Ist
damit aber nicht schon ein bestimmtes Seiendes in seinem
Seins-
vorrang erwiesen und das exemplarische Seiende, das als das
primär Befragte der Seinsfrage fungieren soll, vorgegeben?
Mit
dem bisher Erörterten ist weder der Vorrang des Daseins
erwie-
sen, noch über seine mögliche oder gar notwendige Funktion
als
primär zu befragendes Seiendes entschieden. Wohl aber hat
sich
so etwas wie ein Vorrang des Daseins gemeldet.
§ 3. Der ontologische Vorrang der Seinsfrage
Die Charakteristik der Seinsfrage am Leitfaden der formalen
Struktur der Frage als solcher hat diese Frage als
eigentümliche
verdeutlicht, so zwar, daß deren Ausarbeitung und gar Lösung
eine Reihe von Fundamentalbetrachtungen fordert. Die Aus-
zeichnung der Seinsfrage wird aber erst dann völlig ins
Licht
kommen, wenn sie hinsichtlich ihrer Funktion, ihrer Absicht
und
ihrer Motive zureichend umgrenzt ist.
Bisher wurde die Notwendigkeit einer Wiederholung der Frage
einmal aus der Ehrwürdigkeit ihrer Herkunft motiviert, vor
allem
aber 9
aus dem Fehlen einer bestimmten Antwort, sogar aus dem Man-
gel einer genügenden Fragestellung überhaupt. Man kann aber
zu
wissen verlangen, wozu diese Frage dienen soll. Bleibt sie
ledig-
lich oder ist sie überhaupt nur das Geschäft einer
freischweben-
den Spekulation über allgemeinste Allgemeinheiten – oder ist
sie
die prinzipiellste und konkreteste Frage zugleich?
Sein ist jeweils das Sein eines Seienden. Das All des
Seienden
kann nach seinen verschiedenen Bezirken zum Feld einer Frei-
legung und Umgrenzung bestimmter Sachgebiete werden. Diese
ihrerseits, z. B. Geschichte, Natur, Raum, Leben, Dasein,
Sprache
und dgl. lassen sich in entsprechenden wissenschaftlichen
Unter-
suchungen zu Gegenständen thematisieren. Wissenschaftliche
Forschung vollzieht die Hebung und erste Fixierung der
Sachge-
biete naiv und roh. Die Ausarbeitung des Gebietes in seinen
Grundstrukturen ist in gewisser Weise schon geleistet durch
die
vorwissenschaftliche Erfahrung und Auslegung des
Seinsbezirkes,
in dem das Sachgebiet selbst begrenzt wird. Die so
erwachsenen
»Grundbegriffe« bleiben zunächst die Leitfäden für die erste
konkrete Erschließung des Gebietes. Ob das Gewicht der For-
schung gleich immer in dieser Positivität liegt, ihr
eigentlicher
Fortschritt vollzieht sich nicht so sehr in der Aufsammlung
der
Resultate und Bergung derselben in »Handbüchern«, als in dem
aus solcher anwachsenden Kenntnis der Sachen meist reaktiv
hervorgetriebenen Fragen nach den Grundverfassungen des
jeweiligen Gebietes.
Die eigentliche »Bewegung« der Wissenschaften spielt sich ab
in der mehr oder minder radikalen und ihr selbst
durchsichtigen
Revision der Grundbegriffe. Das Niveau einer Wissenschaft
bestimmt sich daraus, wie weit sie einer Krisis ihrer
Grundbe-
griffe fähig ist. In solchen immanenten Krisen der
Wissenschaften
kommt das Verhältnis des positiv untersuchenden Fragens zu
den
befragten Sachen selbst ins Wanken. Allenthalben sind heute
in
den verschiedenen Disziplinen Tendenzen wachgeworden, die
Forschung auf neue Fundamente umzulegen.
Die scheinbar strengste und am festesten gefügte
Wissenschaft,
die Mathematik, ist in eine »Grundlagenkrisis« geraten. Der
Kampf zwischen Formalismus und Intuitionismus geht um die
Gewinnung und Sicherung der primären Zugangsart zu dem, was
Gegenstand dieser Wissenschaft sein soll. Die
Relativitätstheorie
der Physik erwächst der Tendenz, den eigenen Zusammenhang
der Natur selbst, so wie er »an sich« besteht,
herauszustellen. Als
Theorie der Zugangsbedingungen zur Natur selbst sucht sie
durch Bestimmung aller Relativi- 10
täten die Unveränderlichkeit der Bewegungsgesetze zu wahren
und bringt sich damit vor die Frage nach der Struktur des
ihr
vorgegebenen Sachgebietes, vor das Problem der Materie. In
der
Biologie erwacht die Tendenz, hinter die von Mechanismus und
Vitalismus gegebenen Bestimmungen von Organismus und Leben
zurückzufragen und die Seinsart von Lebendem als solchem neu
zu bestimmen. In den historischen Geisteswissenschaften hat
sich
der Drang zur geschichtlichen Wirklichkeit selbst durch
Überlie-
ferung und deren Darstellung und Tradition hindurch
verstärkt:
Literaturgeschichte soll Problemgeschichte werden. Die
Theologie
sucht nach einer ursprünglicheren, aus dem Sinn des Glaubens
selbst vorgezeichneten und innerhalb seiner verbleibenden
Ausle-
gung des Seins des Menschen zu Gott. Sie beginnt langsam die
Einsicht Luthers wieder zu verstehen, daß ihre dogmatische
Systematik auf einem »Fundament« ruht, das nicht einem
primär
glaubenden Fragen entwachsen ist und dessen Begrifflichkeit
für
die theologische Problematik nicht nur nicht zureicht,
sondern sie
verdeckt und verzerrt.
Grundbegriffe sind die Bestimmungen, in denen das allen the-
matischen Gegenständen einer Wissenschaft zugrundeliegende
Sachgebiet zum vorgängigen und alle positive Untersuchung
füh-
renden Verständnis kommt. Ihre echte Ausweisung und »Begrün-
dung« erhalten diese Begriffe demnach nur in einer
entsprechend
vorgängigen Durchforschung des Sachgebietes selbst. Sofern
aber
jedes dieser Gebiete aus dem Bezirk des Seienden selbst
gewonnen
wird, bedeutet solche vorgängige und Grundbegriffe
schöpfende
Forschung nichts anderes als Auslegung dieses Seienden auf
die
Grundverfassung seines Seins. Solche Forschung muß den
positi-
ven Wissenschaften vorauslaufen; und sie kann es. Die Arbeit
von
Plato und Aristoteles ist Beweis dafür. Solche Grundlegung
der
Wissenschaften unterscheidet sich grundsätzlich von der
nach-
hinkenden »Logik«, die einen zufälligen Stand einer
Wissenschaft
auf ihre »Methode« untersucht. Sie ist produktive Logik in
dem
Sinne, daß sie in ein bestimmtes Seinsgebiet gleichsam
vorspringt,
es in seiner Seinsverfassung allererst erschließt und die
gewonne-
nen Strukturen den positiven Wissenschaften als
durchsichtige
Anweisungen des Fragens verfügbar macht. So ist z. B. das
philo-
sophisch Primäre nicht eine Theorie der Begriffsbildung der
Historie, auch nicht die Theorie historischer Erkenntnis,
aber
auch nicht die Theorie der Geschichte als Objekt der
Historie,
sondern die Interpretation des eigentlich geschichtlich
Seienden
auf seine Geschichtlichkeit. So beruht denn auch der
positive
Ertrag von Kants Kritik der reinen Vernunft im Ansatz zu
einer
Herausarbeitung dessen, was zu einer Natur 11
überhaupt gehört, und nicht in einer »Theorie« der
Erkenntnis.
Seine transzendentale Logik ist apriorische Sachlogik des
Seins-
gebietes Natur.
Aber solches Fragen – Ontologie im weitesten Sinne genommen
und ohne Anlehnung an ontologische Richtungen und Tendenzen
– bedarf selbst noch eines Leitfadens. Ontologisches Fragen
ist
zwar gegenüber dem ontischen Fragen der positiven
Wissenschaf-
ten ursprünglicher. Es bleibt aber selbst naiv und
undurchsichtig,
wenn seine Nachforschungen nach dem Sein des Seienden den
Sinn von Sein überhaupt unerörtert lassen. Und gerade die
onto-
logische Aufgabe einer nicht deduktiv konstruierenden Genea-
logie der verschiedenen möglichen Weisen von Sein bedarf
einer
Vorverständigung über das, »was wir denn eigentlich mit
diesem
Ausdruck ›Sein‹ meinen«.
Die Seinsfrage zielt daher auf eine apriorische Bedingung
der
Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, die Seiendes als
so und
so Seiendes durchforschen und sich dabei je schon in einem
Seinsverständnis bewegen, sondern auf die Bedingung der Mög-
lichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und
sie
fundierenden Ontologien selbst. Alle Ontologie, mag sie über
ein
noch so reiches und festverklammertes Kategoriensystem
verfü-
gen, bleibt im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer
eigensten
Absicht, wenn sie nicht zuvor den Sinn von Sein zureichend
ge-
klärt und diese Klärung als ihre Fundamentalaufgabe
begriffen
hat.
Die rechtverstandene ontologische Forschung selbst gibt der
Seinsfrage ihren ontologischen Vorrang über die bloße
Wieder-
aufnahme einer ehrwürdigen Tradition und die Förderung eines
bislang undurchsichtigen Problems hinaus. Aber dieser
sachlich-
wissenschaftliche Vorrang ist nicht der einzige.
§ 4. Der ontische Vorrang der Seinsfrage
Wissenschaft überhaupt kann als das Ganze eines Begrün-
dungszusammenhanges wahrer Sätze bestimmt werden. Diese
Definition ist weder vollständig, noch trifft sie die
Wissenschaft
in ihrem Sinn. Wissenschaften haben als Verhaltungen des
Men-
schen die Seinsart dieses Seienden (Mensch). Dieses Seiende
fas-
sen wir terminologisch als Dasein. Wissenschaftliche
Forschung
ist nicht die einzige und nicht die nächste mögliche
Seinsart dieses
Seienden. Das Dasein selbst ist überdies vor anderem
Seienden
ausgezeichnet. Diese Auszeichnung 12
gilt es vorläufig sichtbar zu machen. Hierbei muß die
Erörterung
den nachkommenden und erst eigentlich aufweisenden Analysen
vorgreifen.
Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem
Seien-
den vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet,
daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst
geht.
Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß
es
in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und
dies
wiederum besagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise
und
Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß
mit
und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist.
Seinsver-
ständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Die
onti-
sche Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es
ontologisch ist.
Ontologisch-sein besagt hier noch nicht: Ontologie
ausbilden.
Wenn wir daher den Titel Ontologie für das explizite
theoretische
Fragen nach dem Sinn des Seienden vorbehalten, dann ist das
gemeinte Ontologisch-sein des Daseins als vorontologisches
zu
bezeichnen. Das bedeutet aber nicht etwa soviel wie
einfachhin
ontisch-seiend, sondern seiend in der Weise eines Verstehens
von
Sein.
Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten
kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz. Und
weil die Wesensbestimmung dieses Seienden nicht durch Angabe
eines sachhaltigen Was vollzogen werden kann, sein Wesen
viel-
mehr darin liegt, daß es je sein Sein als seiniges zu sein
hat, ist der
Titel Dasein als reiner Seinsausdruck zur Bezeichnung dieses
Seienden gewählt.
Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz,
einer
Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu
sein.
Diese Möglichkeiten hat das Dasein entweder selbst gewählt
oder
es ist in sie hineingeraten oder je schon darin
aufgewachsen. Die
Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens
nur
vom jeweiligen Dasein selbst entschieden. Die Frage der
Existenz
ist immer nur durch das Existieren selbst ins Reine zu
bringen.
Das hierbei führende Verständnis seiner selbst nennen wir
das
existenzielle. Die Frage der Existenz ist eine ontische
»Angele-
genheit« des Daseins. Es bedarf hierzu nicht der
theoretischen
Durchsichtigkeit der ontologischen Struktur der Existenz.
Die
Frage nach dieser zielt auf die Auseinanderlegung dessen,
was
Existenz konstituiert. Den Zusammenhang dieser Strukturen
nennen wir die Existenzialität. Deren Analytik hat den
Charakter
nicht eines existenziellen, sondern existenzialen
Verstehens. Die
Aufgabe einer existenzialen Analytik des 13
Daseins ist hinsichtlich ihrer Möglichkeit und Notwendigkeit
in
der ontischen Verfassung des Daseins vorgezeichnet.
Sofern nun aber Existenz das Dasein bestimmt, bedarf die
ontologische Analytik dieses Seienden je schon immer einer
vor-
gängigen Hinblicknahme auf Existenzialität. Diese verstehen
wir
aber als Seinsverfassung des Seienden, das existiert. In der
Idee
einer solchen Seinsverfassung liegt aber schon die Idee von
Sein.
Und so hängt auch die Möglichkeit einer Durchführung der
Analytik des Daseins an der vorgängigen Ausarbeitung der
Frage
nach dem Sinn von Sein überhaupt.
Wissenschaften sind Seinsweisen des Daseins, in denen es
sich
auch zu Seiendem verhält, das es nicht selbst zu sein
braucht.
Zum Dasein gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt. Das
dem
Dasein zugehörige Seinsverständnis betrifft daher gleichur-
sprünglich das Verstehen von so etwas wie »Welt« und
Verstehen
des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich
wird.
Die Ontologien, die Seiendes von nicht daseinsmäßigem Seins-
charakter zum Thema haben, sind demnach in der ontischen
Struktur des Daseins selbst fundiert und motiviert, die die
Bestimmtheit eines vorontologischen Seinsverständnisses in
sich
begreift.
Daher muß die Fundamentalontologie, aus der alle andern erst
entspringen können, in der existenzialen Analytik des
Daseins
gesucht werden.
Das Dasein hat sonach einen mehrfachen Vorrang vor allem
anderen Seienden. Der erste Vorrang ist ein ontischer:
dieses
Seiende ist in seinem Sein durch Existenz bestimmt. Der
zweite
Vorrang ist ein ontologischer: Dasein ist auf dem Grunde
seiner
Existenzbestimmtheit an ihm selbst »ontologisch«. Dem Dasein
gehört nun aber gleichursprünglich – als Konstituens des
Existenzverständnisses – zu: ein Verstehen des Seins alles
nicht
daseinsmäßigen Seienden. Das Dasein hat daher den dritten
Vor-
rang als ontisch-ontologische Bedingung der Möglichkeit
aller
Ontologien. Das Dasein hat sich so als das vor allem anderen
Seienden ontologisch primär zu Befragende erwiesen.
Die existenziale Analytik ihrerseits aber ist letztlich
existenziell
d. h, ontisch verwurzelt. Nur wenn das
philosophisch-forschende
Fragen selbst als Seinsmöglichkeit des je existierenden
Daseins
existenziell ergriffen ist, besteht die Möglichkeit einer
Er-
schließung der Existenzialität der Existenz und damit die
Mög-
lichkeit der Inangriffnahme einer zureichend fundierten
ontolo-
gischen Problematik über- 14
haupt. Damit ist aber auch der ontische Vorrang der
Seinsfrage
deutlich geworden.
Der ontisch-ontologische Vorrang des Daseins wurde schon
früh gesehen, ohne daß dabei das Dasein selbst in seiner
genuinen
ontologischen Struktur zur Erfassung kam oder auch nur
dahin-
zielendes Problem wurde. Aristoteles sagt: ¹ yuc¾ t¦ Ônta
pèj
œstin.1 Die Seele (des Menschen) ist in gewisser Weise das
Seiende; die »Seele«, die das Sein des Menschen ausmacht,
ent-
deckt in ihren Weisen zu sein, a?sqhsij und nÒhsij, alles
Seiende
hinsichtlich seines Daß- und Soseins, d. h. immer auch in
seinem
Sein. Diesen Satz, der auf die ontologische These des
Parmenides
zurückweist, hat Thomas v. A. in eine charakteristische
Erörte-
rung aufgenommen. Innerhalb der Aufgabe einer Ableitung der
»Transzendentien«, d. h. der Seinscharaktere, die noch über
jede
mögliche sachhaltig-gattungsmäßige Bestimmtheit eines
Seienden,
jeden modus specialis entis hinausliegen und die jedem
Etwas,
mag es sein, was immer, notwendig zukommen, soll auch das
verum als ein solches transcendens nachgewiesen werden. Das
geschieht durch die Berufung auf ein Seiendes, das gemäß
seiner
Seinsart selbst die Eignung hat, mit jeglichem irgendwie
Seienden
»zusammenzukommen«. Dieses ausgezeichnete Seiende, das ens,
quod natum est convenire cum omni ente, ist die Seele
(anima).2
Der hier hervortretende, obzwar ontologisch nicht geklärte
Vor-
rang des »Daseins« vor allem anderen Seienden hat
offensichtlich
nichts gemein mit einer schlechten Subjektivierung des Alls
des
Seienden. –
Der Nachweis der ontisch-ontologischen Auszeichnung der
Seinsfrage gründet in der vorläufigen Anzeige des
ontisch-ontolo-
gischen Vorrangs des Daseins. Aber die Analyse der Struktur der
Seinsfrage als solcher (§ 2) stieß auf eine ausgezeichnete
Funktion
dieses Seienden innerhalb der Fragestellung selbst. Das
Dasein
enthüllte sich hierbei als das Seiende, das zuvor
ontologisch
zureichend ausgearbeitet sein muß, soll das Fragen ein durchsich-
tiges werden. Jetzt hat sich aber gezeigt, daß die
ontologische
Analytik des Daseins überhaupt die Fundamentalontologie aus-
macht, daß mithin das Dasein als das grundsätzlich vorgängig
auf
sein Sein zu befragende Seiende fungiert.
Wenn die Interpretation des Sinnes von Sein Aufgabe wird,
ist
das Dasein nicht nur das primär zu befragende Seiende, es
ist
über-
1 de anima G 8,
431 b 21, vgl. ib. 5, 430 a 14 sqq.
2 Quaestiones de
veritate qu. I a l c, vgl. die z. T. strengere und von
der genannten abweichende Durchführung einer »Deduktion« der
Transzendentien in dem Opusculum »de natura generis«. 15
dies das -Seiende, das sich je schon in seinem Sein zu dem
verhält,
wonach in dieser Frage gefragt wird. Die Seinsfrage ist dann
aber
nichts anderes als die Radikalisierung einer zum Dasein
selbst
gehörigen wesenhaften Seinstendenz, des vorontologischen
Seins-
verständnisses.
Zweites Kapitel
Die Doppelaufgabe in der Ausarbeitung der Seinsfrage
Die Methode der Untersuchung und ihr Aufriß
§ 5. Die ontologische Analytik des Daseins als Freilegung
des
Horizontes für eine Interpretation des Sinnes von Sein
überhaupt
Bei der Kennzeichnung der Aufgaben, die in der »Stellung«
der
Seinsfrage liegen, wurde gezeigt, daß es nicht nur einer
Fixierung
des Seienden bedarf, das als primär Befragtes fungieren
soll, son-
dern daß auch eine ausdrückliche Aneignung und Sicherung der
rechten Zugangsart zu diesem Seienden gefordert ist. Welches
Seiende innerhalb der Seinsfrage die vorzügliche Rolle über-
nimmt, wurde erörtert. Aber wie soll dieses Seiende, das
Dasein,
zugänglich und im verstehenden Auslegen gleichsam anvisiert
werden?
Der für das Dasein nachgewiesene ontisch-ontologische Vor-
rang könnte zu der Meinung verleiten, dieses Seiende müsse
auch
das ontisch-ontologisch primär gegebene sein, nicht nur im
Sinne
einer »unmittelbaren« Greifbarkeit des Seienden selbst,
sondern
auch hinsichtlich einer ebenso »unmittelbaren« Vorgegebenheit
seiner Seinsart. Das Dasein ist zwar ontisch nicht nur nahe
oder
gar das nächste – wir sind es sogar je selbst. Trotzdem oder
gerade deshalb ist es ontologisch das Fernste. Zwar gehört
zu
seinem eigensten Sein, ein Verständnis davon zu haben und
sich
je schon in einer gewissen Ausgelegtheit seines Seins zu
halten.
Aber damit ist ganz und gar nicht gesagt, es könne diese
nächste
vorontologische Seinsauslegung seiner selbst als
angemessener
Leitfaden übernommen werden, gleich als ob dieses Seinsver-
ständnis einer thematisch ontologischen Besinnung auf die
eigenste Seinsverfassung entspringen müßte. Das Dasein hat
vielmehr gemäß einer zu ihm gehörigen Seinsart die Tendenz,
das
eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es
sich
wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der »Welt«. Im
Dasein selbst und damit in seinem eigenen Seinsverständnis
liegt
das, was wir als die 16
ontologische Rückstrahlung des Weltverständnisses auf die
Daseinsauslegung aufweisen werden.
Der ontisch-ontologische Vorrang des Daseins ist daher der
Grund dafür, daß dem Dasein seine spezifische
Seinsverfassung –
verstanden im Sinne der ihm zugehörigen »kategorialen«
Struk-
tur – verdeckt bleibt. Dasein ist ihm selbst ontisch »am
näch-
sten«, ontologisch am fernsten, aber vorontologisch doch
nicht
fremd.
Vorläufig ist damit nur angezeigt, daß eine Interpretation
dieses
Seienden vor eigentümlichen Schwierigkeiten steht, die in
der
Seinsart des thematischen Gegenstandes und des thematisieren-
den Verhaltens selbst gründen und nicht etwa in einer
mangelhaf-
ten Ausstattung unseres Erkenntnisvermögens oder in dem
scheinbar leicht zu behebenden Mangel einer angemessenen
Begrifflichkeit.
Weil nun aber zum Dasein nicht nur Seinsverständnis gehört,
sondern dieses sich mit der jeweiligen Seinsart des Daseins
selbst
ausbildet oder zerfällt, kann es über eine reiche
Ausgelegtheit
verfügen. Philosophische Psychologie, Anthropologie, Ethik,
»Politik«, Dichtung, Biographie und Geschichtsschreibung
sind
auf je verschiedenen Wegen und in wechselndem Ausmaß den
Verhaltungen, Vermögen, Kräften, Möglichkeiten und Ge-
schicken des Daseins nachgegangen. Die Frage bleibt aber, ob
diese Auslegungen ebenso ursprünglich existenzial
durchgeführt
wurden, wie sie vielleicht existenziell ursprünglich waren.
Beides
braucht nicht notwendig zusammenzugehen, schließt sich aber
auch nicht aus. Existenzielle Auslegung kann existenziale
Analy-
tik fordern, wenn anders philosophische Erkenntnis in ihrer
Möglichkeit und Notwendigkeit begriffen ist. Erst wenn die
Grundstrukturen des Daseins in expliziter Orientierung am
Seinsproblem selbst zureichend herausgearbeitet sind, wird
der
bisherige Gewinn der Daseinsauslegung seine existenziale
Recht-
fertigung erhalten.
Eine Analytik des Daseins muß also das erste Anliegen in der
Frage nach dem Sein bleiben. Dann wird aber das Problem
einer
Gewinnung und Sicherung der leitenden Zugangsart zum Dasein
erst recht brennend. Negativ gesprochen: es darf keine
beliebige
Idee von Sein und Wirklichkeit, und sei sie noch so
»selbstver-
ständlich«, an dieses Seiende konstruktiv-dogmatisch
herange-
bracht, keine aus einer solchen Idee vorgezeichneten
»Katego-
rien« dürfen dem Dasein ontologisch unbesehen auf gezwungen
werden. Die Zugangs- und Auslegungsart muß vielmehr derge-
stalt gewählt sein, daß dieses Seiende sich an ihm selbst
von ihm
selbst her zeigen kann. Und zwar soll sie das Seiende in dem
zei-
gen, wie es zunächst und zumeist ist, in seiner
durchschnittlichen
Alltäglichkeit. An dieser sollen nicht beliebige und 17
zufällige, sondern wesenhafte Strukturen herausgestellt
werden,
die in jeder Seinsart des faktischen Daseins sich als
seinsbestim-
mende durchhalten. Im Hinblick auf die Grundverfassung der
Alltäglichkeit des Daseins erwächst dann die vorbereitende
Hebung des Seins dieses Seienden.
Die so gefaßte Analytik des Daseins bleibt ganz auf die
leitende
Aufgabe der Ausarbeitung der Seinsfrage orientiert. Dadurch
bestimmen sich ihre Grenzen. Sie kann nicht eine
vollständige
Ontologie des Daseins geben wollen, die freilich ausgebaut
sein
muß, soll so etwas wie eine »philosophische« Anthropologie
auf
einer philosophisch zureichenden Basis stehen. In der
Absicht auf
eine mögliche Anthropologie, bzw. deren ontologische Funda-
mentierung, gibt die folgende Interpretation nur einige,
wenn-
gleich nicht unwesentliche »Stücke«. Die Analyse des Daseins
ist
aber nicht nur unvollständig, sondern zunächst auch
vorläufig.
Sie hebt nur erst das Sein dieses Seienden heraus ohne
Interpreta-
tion seines Sinnes. Die Freilegung des Horizontes für die
ursprünglichste Seinsauslegung soll sie vielmehr
vorbereiten. Ist
dieser erst gewonnen, dann verlangt die vorbereitende
Analytik
des Daseins ihre Wiederholung auf der höheren und
eigentlichen
ontologischen Basis.
Als der Sinn des Seins des Seienden, das wir Dasein nennen,
wird die Zeitlichkeit aufgewiesen. Dieser Nachweis muß sich
bewähren in der wiederholten Interpretation der vorläufig
aufge-
zeigten Daseinsstrukturen als Modi der Zeitlichkeit. Aber
mit
dieser Auslegung des Daseins als Zeitlichkeit ist nicht auch
schon
die Antwort auf die leitende Frage gegeben, die nach dem
Sinn
von Sein überhaupt steht. Wohl aber ist der Boden für die
Gewinnung dieser Antwort bereitgestellt.
Andeutungsweise wurde gezeigt: zum Dasein gehört als onti-
sche Verfassung ein vorontologisches Sein. Dasein ist in der
Weise, seiend so etwas wie Sein zu verstehen. Unter
Festhaltung
dieses Zusammenhangs soll gezeigt werden, daß das, von wo
aus
Dasein überhaupt so etwas wie Sein unausdrücklich versteht
und
auslegt, die Zeit ist. Diese muß als der Horizont alles
Seins Ver-
ständnisses und jeder Seinsauslegung ans Licht gebracht und
genuin begriffen werden. Um das einsichtig werden zu lassen,
bedarf es einer ursprünglichen Explikation der Zeit als
Horizont
des Seinsverständnisses aus der Zeitlichkeit als Sein des
seinver-
stehenden Daseins. Im Ganzen dieser Aufgabe liegt zugleich
die
Forderung, den so gewonnenen Begriff der Zeit gegen das
vulgäre
Zeitverständnis abzugrenzen, das explizit ge- 18
worden ist in einer Zeitauslegung, wie sie sich im
traditionellen
Zeitbegriff niedergeschlagen hat, der sich seit Aristoteles
bis über
Bergson hinaus durchhält. Dabei ist deutlich zu machen, daß
und
wie dieser Zeitbegriff und das vulgäre Zeitverständnis
überhaupt
aus der Zeitlichkeit entspringen. Damit wird dem vulgären
Zeit-
begriff sein eigenständiges Recht zurückgegeben – entgegen
der
These Bergsons, die mit ihm gemeinte Zeit sei der Raum.
Die »Zeit« fungiert seit langem als ontologisches oder
vielmehr
ontisches Kriterium der naiven Unterscheidung der
verschiedenen
Regionen des Seienden. Man grenzt ein »zeitlich« Seiendes
(die
Vorgänge der Natur und die Geschehnisse der Geschichte) ab
gegen »unzeitlich« Seiendes (die räumlichen und zahlhaften
Ver-
hältnisse). Man pflegt »zeitlosen« Sinn von Sätzen abzuheben
gegen »zeitlichen« Ablauf der Satzaussagen. Ferner findet
man
eine »Kluft« zwischen dem »zeitlich« Seienden und dem »über-
zeitlichen« Ewigen und versucht sich an deren Überbrückung.
»Zeitlich« besagt hier jeweils soviel wie »in der Zeit«
seiend, eine
Bestimmung, die freilich auch noch dunkel genug ist. Das
Faktum
besteht: Zeit, im Sinne von »in der Zeit sein«, fungiert als
Krite-
rium der Scheidung von Seinsregionen. Wie die Zeit zu dieser
ausgezeichneten ontologischen Funktion kommt und gar mit
welchem Recht gerade so etwas wie Zeit als solches Kriterium
fungiert und vollends, ob in dieser naiv ontologischen
Verwen-
dung der Zeit ihre eigentliche mögliche ontologische
Relevanz
zum Ausdruck kommt, ist bislang weder gefragt, noch
untersucht
worden. Die »Zeit« ist, und zwar im Horizont des vulgären
Zeit-
verständnisses, gleichsam »von selbst« in diese
»selbstverständ-
liche« ontologische Funktion geraten und hat sich bis heute
darin
gehalten.
Demgegenüber ist auf dem Boden der ausgearbeiteten Frage
nach dem Sinn von Sein zu zeigen, daß und wie im
rechtgesehe-
nen und rechtexplizierten Phänomen der Zeit die zentrale
Prob-
lematik aller Ontologie verwurzelt ist.
Wenn Sein aus der Zeit begriffen werden soll und die
verschie-
denen Modi und Derivate von Sein in ihren Modifikationen und
Derivationen in der Tat aus dem Hinblick auf Zeit
verständlich
werden, dann ist damit das Sein selbst – nicht etwa nur
Seiendes
als »in der Zeit« Seiendes, in seinem »zeitlichen« Charakter
sichtbar gemacht. »Zeitlich« kann aber dann nicht mehr nur
besagen »in der Zeit seiend«. Auch das »Unzeitliche« und
Ȇber-
zeitliche« ist hinsichtlich seines Seins »zeitlich«. Und das
wie-
derum nicht nur in der Weise einer Privation gegen ein
»Zeit-
liches« als »in der Zeit« Seiendes, sondern in einem 19
positiven, allerdings erst zu klärenden Sinne. Weil der
Ausdruck
»zeitlich« durch den vorphilosophischen und philosophischen
Sprachgebrauch in der angeführten Bedeutung belegt ist und
weil
der Ausdruck in den folgenden Untersuchungen noch für eine
andere Bedeutung in Anspruch genommen wird, nennen wir die
ursprüngliche Sinnbestimmtheit des Seins und seiner
Charaktere
und Modi aus der Zeit seine temporale Bestimmtheit. Die fun-
damentale ontologische Aufgabe der Interpretation von Sein
als
solchem begreift daher in sich die Herausarbeitung der
Tempora-
lität des Seins. In der Exposition der Problematik der
Temporali-
tät ist allererst die konkrete Antwort auf die Frage nach
dem Sinn
des Seins gegeben.
Weil das Sein je nur aus dem Hinblick auf Zeit faßbar wird,
kann die Antwort auf die Seinsfrage nicht in einem
isolierten und
blinden Satz liegen. Die Antwort ist nicht begriffen im
Nachsagen
dessen, was sie satzmäßig aussagt, zumal wenn sie als freischwe-
bendes Resultat für eine bloße Kenntnisnahme eines von der
bisherigen Behandlungsart vielleicht abweichenden
»Standpunk-
tes« weitergereicht wird. Ob die Antwort »neu« ist, hat
keinen
Belang und bleibt eine Äußerlichkeit. Das Positive an ihr
muß
darin liegen, daß sie alt genug ist, um die von den »Alten«
bereit-
gestellten Möglichkeiten begreifen zu lernen. Die Antwort
gibt
ihrem eigensten Sinne nach eine Anweisung für die konkrete
on-
tologische Forschung, innerhalb des freigelegten Horizontes
mit
dem untersuchenden Fragen zu beginnen – und sie gibt nur
das.
Wenn so die Antwort auf die Seinsfrage zur Leitfadenanwei-
sung für die Forschung wird, dann liegt darin, daß sie erst
dann
zureichend gegeben ist, wenn aus ihr selbst die spezifische
Seins-
art der bisherigen Ontologie, die Geschicke ihres Fragens,
Findens und Versagens als daseinsmäßig Notwendiges zur Ein-
sicht kommt.
§ 6. Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der
Ontologie
Alle Forschung – und nicht zuletzt die im Umkreis der
zentra-
len Seinsfrage sich bewegende – ist eine ontische
Möglichkeit des
Daseins. Dessen Sein findet seinen Sinn in der Zeitlichkeit.
Diese
jedoch ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit von
Geschichtlichkeit als einer zeitlichen Seinsart des Daseins
selbst,
abgesehen davon, ob und wie es ein »in der Zeit« Seiendes
ist.
Die Bestimmung Geschichtlichkeit liegt vor dem, was man
Geschichte (weltgeschichtliches Geschehen) 20
nennt. Geschichtlichkeit meint die Seinsverfassung des
»Gesche-
hens« des Daseins als solchen, auf dessen Grunde allererst
so
etwas möglich ist wie »Weltgeschichte« und geschichtlich zur
Weltgeschichte gehören. Das Dasein ist je in seinem
faktischen
Sein, wie und »was« es schon war. Ob ausdrücklich oder
nicht,
ist es seine Vergangenheit. Und das nicht nur so, daß sich
ihm
seine Vergangenheit gleichsam »hinter« ihm herschiebt, und
es
Vergangenes als noch vorhandene Eigenschaft besitzt, die
zuwei-
len in ihm nachwirkt. Das Dasein »ist« seine Vergangenheit
in
der Weise seines Seins, das, roh gesagt, jeweils aus seiner
Zukunft
her »geschieht«. Das Dasein ist in seiner jeweiligen Weise
zu sein
und sonach auch mit dem ihm zugehörigen Seinsverständnis in
eine überkommene Daseinsauslegung hinein- und in ihr aufge-
wachsen. Aus dieser her versteht es sich zunächst und in
gewis-
sem Umkreis ständig. Dieses Verständnis erschließt die
Möglich-
keiten seines Seins und regelt sie. Seine eigene
Vergangenheit –
und das besagt immer die seiner »Generation« – folgt dem
Dasein nicht nach, sondern geht ihm je schon vorweg.
Diese elementare Geschichtlichkeit des Daseins kann diesem
selbst verborgen bleiben. Sie kann aber auch in gewisser
Weise
entdeckt werden und eigene Pflege erfahren. Dasein kann
Tradi-
tion entdecken, bewahren und ihr ausdrücklich nachgehen. Die
Entdeckung von Tradition und die Erschließung dessen, was
sie
»übergibt« und wie sie übergibt, kann als eigenständige
Aufgabe
ergriffen werden. Dasein bringt sich so in die Seinsart
histori-
schen Fragens und Forschens. Historie aber – genauer
Historizi-
tät – ist als Seinsart des fragenden Daseins nur möglich,
weil es
im Grunde seines Seins durch die Geschichtlichkeit bestimmt
ist.
Wenn diese dem Dasein verborgen bleibt und solange sie es
bleibt, ist ihm auch die Möglichkeit historischen Fragens
und
Entdeckens von Geschichte versagt. Das Fehlen von Historie
ist
kein Beweis gegen die Geschichtlichkeit des Daseins, sondern
als
defizienter Modus dieser Seinsverfassung Beweis dafür.
Unhisto-
risch kann ein Zeitalter nur sein, weil es »geschichtlich«
ist.
Hat andererseits das Dasein die in ihm liegende Möglichkeit
ergriffen, nicht nur seine Existenz sich durchsichtig zu
machen,
sondern dem Sinn der Existenzialität selbst, d. h. vorgängig
dem
Sinn des Seins überhaupt nachzufragen, und hat sich in
solchem
Fragen der Blick für die wesentliche Geschichtlichkeit des
Daseins
geöffnet, dann ist die Einsicht unumgänglich: das Fragen
nach
dem Sein, das hinsichtlich seiner ontisch-ontologischen Notwen-
digkeit angezeigt wurde, ist selbst durch die
Geschichtlichkeit
charakterisiert. Die Ausarbeitung der Seinsfrage muß so aus
dem
eigensten Seinssinn des Fragens 21
selbst als eines geschichtlichen die Anweisung vernehmen,
seiner
eigenen Geschichte nachzufragen, d. h. historisch zu werden,
um
sich in der positiven Aneignung der Vergangenheit in den
vollen
Besitz der eigensten Fragemöglichkeiten zu bringen. Die
Frage
nach dem Sinn des Seins ist gemäß der ihr zugehörigen
Vollzugs-
art, d. h. als vorgängige Explikation des Daseins in seiner
Zeit-
lichkeit und Geschichtlichkeit, von ihr selbst dazu
gebracht, sich
als historische zu verstehen.
Die vorbereitende Interpretation der Fundamentalstrukturen
des Daseins hinsichtlich seiner nächsten und durchschnittlichen
Seinsart, in der es mithin auch zunächst geschichtlich ist,
wird
aber folgendes offenbar machen: das Dasein hat nicht nur die
Geneigtheit, an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und
reluzent
aus ihr her sich auszulegen, Dasein verfällt in eins damit
auch
seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition.
Diese nimmt ihm die eigene Führung, das Fragen und Wählen
ab.
Das gilt nicht zuletzt von dem Verständnis und seiner
Ausbild-
barkeit, das im eigensten Sein des Daseins verwurzelt ist,
dem
ontologischen.
Die hierbei zur Herrschaft kommende Tradition macht
zunächst und zumeist das, was sie »übergibt«, so wenig
zugäng-
lich, daß sie es vielmehr verdeckt. Sie überantwortet das Über-
kommene der Selbstverständlichkeit und verlegt den Zugang zu
den ursprünglichen »Quellen«, daraus die überlieferten
Katego-
rien und Begriffe z. T. in echter Weise geschöpft wurden.
Die
Tradition macht sogar eine solche Herkunft überhaupt
vergessen.
Sie bildet die Unbedürftigkeit aus, einen solchen Rückgang
in
seiner Notwendigkeit auch nur zu verstehen. Die Tradition
ent-
wurzelt die Geschichtlichkeit des Daseins so weit, daß es
sich nur
noch im Interesse an der Vielgestaltigkeit möglicher Typen,
Rich-
tungen, Standpunkte des Philosophierens in den entlegensten
und
fremdesten Kulturen bewegt und mit diesem Interesse die
eigene
Bodenlosigkeit zu verhüllen sucht. Die Folge wird, daß das
Dasein bei allem historischen Interesse und allem Eifer für
eine
philologisch »sachliche« Interpretation die elementarsten
Bedin-
gungen nicht mehr versteht, die einen positiven Rückgang zur
Vergangenheit im Sinne einer produktiven Aneignung ihrer
allein
ermöglichen.
Eingangs (§ 1) wurde gezeigt, daß die Frage nach dem Sinn
des
Seins nicht nur unerledigt, nicht nur nicht zureichend
gestellt,
sondern bei allem Interesse für »Metaphysik« in
Vergessenheit
gekommen ist. Die griechische Ontologie und ihre Geschichte,
die
durch mannigfache Filiationen und Verbiegungen hindurch noch
heute die Begrifflichkeit der Philosophie bestimmt, ist der
Beweis
dafür, daß das 22
Dasein sich selbst und das Sein überhaupt aus der »Welt« her
versteht und daß die so erwachsene Ontologie der Tradition
ver-
fällt, die sie zur Selbstverständlichkeit und zum bloß neu
zu bear-
beitenden Material (so für Hegel) herabsinken läßt. Diese
ent-
wurzelte griechische Ontologie wird im Mittelalter zum
festen
Lehrbestand. Ihre Systematik ist alles andere denn eine
Zusam-
menfügung überkommener Stücke zu einem Bau. Innerhalb der
Grenzen einer dogmatischen Übernahme der griechischen Grund-
auffassungen des Seins liegt in dieser Systematik noch viel
unge-
hobene weiterführende Arbeit. In der scholastischen Prägung
geht
die griechische Ontologie im wesentlichen auf dem Wege über
die
Disputationes metaphysicae des Suarez in die »Metaphysik«
und
Transzendentalphilosophie der Neuzeit über und bestimmt noch
die Fundamente und Ziele der »Logik« Hegels. Soweit im
Verlauf
dieser Geschichte bestimmte ausgezeichnete Seinsbezirke in
den
Blick kommen und fortan primär die Problematik leiten (das
ego
cogito Descartes’, Subjekt, Ich, Vernunft, Geist, Person),
bleiben
diese, entsprechend dem durchgängigen Versäumnis der Seins-
frage, unbefragt auf Sein und Struktur ihres Seins. Vielmehr
wird
der kategoriale Bestand der traditionellen Ontologie mit
ent-
sprechenden Formalisierungen und lediglich negativen Ein-
schränkungen auf dieses Seiende übertragen, oder aber es
wird in
der Absicht auf eine ontologische Interpretation der
Substanziali-
tät des Subjekts die Dialektik zu Hilfe gerufen.
Soll für die Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer
eigenen
Geschichte gewonnen werden, dann bedarf es der Auflockerung
der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie
gezei-
tigten Verdeckungen. Diese Aufgabe verstehen wir als die am
Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des
über-
lieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die
ursprünglichen
Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden
Bestim-
mungen des Seins gewonnen wurden.
Dieser Nachweis der Herkunft der ontologischen Grundbe-
griffe, als untersuchende Ausstellung ihres »Geburtsbriefes«
für
sie, hat nichts zu tun mit einer schlechten Relativierung
ontologi-
scher Standpunkte. Die Destruktion hat ebensowenig den
negati-
ven Sinn einer Abschüttelung der ontologischen Tradition.
Sie
soll umgekehrt diese in ihren positiven Möglichkeiten, und
das
besagt immer, in ihren Grenzen abstecken, die mit der
jeweiligen
Fragestellung und der aus dieser vorgezeichneten Umgrenzung
des möglichen Feldes der Untersuchung faktisch gegeben sind.
Negierend verhält sich die Destruktion nicht zur
Vergangenheit,
ihre Kritik trifft das »Heute« und die herrschende 23
Behandlungsart der Geschichte der Ontologie, mag sie
doxographisch, geistesgeschichtlich oder
problemgeschichtlich
angelegt sein. Die Destruktion will aber nicht die
Vergangenheit
in Nichtigkeit begraben, sie hat positive Absicht; ihre
negative
Funktion bleibt unausdrücklich und indirekt.
Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung, die eine grundsätz-
liche Ausarbeitung der Seinsfrage zum Ziel hat, kann die zur
Fragestellung wesenhaft gehörende und lediglich innerhalb
ihrer
mögliche Destruktion der Geschichte der Ontologie nur an
grundsätzlich entscheidenden Stationen dieser Geschichte
durch-
geführt werden.
Gemäß der positiven Tendenz der Destruktion ist zunächst die
Frage zu stellen, ob und inwieweit im Verlauf der Geschichte
der
Ontologie überhaupt die Interpretation des Seins mit dem
Phä-
nomen der Zeit thematisch zusammengebracht und ob die hierzu
notwendige Problematik der Temporalität grundsätzlich
heraus-
gearbeitet wurde und werden konnte. Der Erste und Einzige,
der
sich eine Strecke untersuchenden Weges in der Richtung auf
die
Dimension der Temporalität bewegte, bzw. sich durch den
Zwang der Phänomene selbst dahin drängen ließ, ist Kant.
Wenn
erst die Problematik der Temporalität fixiert ist, dann kann
es
gelingen, dem Dunkel der Schematismuslehre Licht zu
verschaf-
fen. Auf diesem Wege läßt sich aber dann auch zeigen, warum
für
Kant dieses Gebiet in seinen eigentlichen Dimensionen und
seiner
zentralen ontologischen Funktion verschlossen bleiben mußte.
Kant selbst wußte darum, daß er sich in ein dunkles Gebiet
vor-
wagte: »Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung
der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene
Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre
Hand-
griffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie
unver-
deckt vor Augen legen werden.«1 Wovor Kant hier gleichsam
zurückweicht, das muß thematisch und grundsätzlich ans Licht
gebracht werden, wenn anders der Ausdruck »Sein« einen aus-
weisbaren Sinn haben soll. Am Ende sind gerade die
Phänomene,
die in der folgenden Analyse unter dem Titel »Temporalität«
herausgestellt werden, die geheimsten Urteile der »gemeinen
Ver-
nunft«, als deren Analytik Kant das »Geschäft der
Philosophen«
bestimmt.
Im Verfolg der Aufgabe der Destruktion am Leitfaden der
Problematik der Temporalität versucht die folgende
Abhandlung
das Schematismuskapitel und von da aus die Kantische Lehre
von
der
1 Kritik der reinen Vernunft B, S. 180 f. 24
Zeit zu interpretieren. Zugleich wird gezeigt, warum Kant
die
Einsicht in die Problematik der Temporalität versagt bleiben
mußte. Ein zweifaches hat diese Einsicht verhindert: einmal
das
Versäumnis der Seinsfrage überhaupt und im Zusammenhang
damit das Fehlen einer thematischen Ontologie des Daseins,
Kan-
tisch gesprochen, einer vorgängigen ontologischen Analytik
der
Subjektivität des Subjekts. Statt dessen übernimmt Kant bei
allen
wesentlichen Fortbildungen dogmatisch die Position
Descartes’.
Sodann aber bleibt seine Analyse der Zeit trotz der
Rücknahme
dieses Phänomens in das Subjekt am überlieferten vulgären
Zeit-
verständnis orientiert, was Kant letztlich verhindert, das
Phäno-
men einer »transzendentalen Zeitbestimmung« in seiner
eigenen
Struktur und Funktion herauszuarbeiten. Zufolge dieser
doppel-
ten Nachwirkung der Tradition bleibt der entscheidende
Zusammenhang zwischen der Zeit und dem »Ich denke« in völli-
ges Dunkel gehüllt, er wird nicht einmal zum Problem.
Durch die Übernahme der ontologischen Position Descartes’
macht Kant ein wesentliches Versäumnis mit: das einer
Ontologie
des Daseins. Dieses Versäumnis ist im Sinne der eigensten
Ten-
denz Descartes’ ein entscheidendes. Mit dem »cogito sum«
bean-
sprucht Descartes, der Philosophie einen neuen und sicheren
Boden beizustellen. Was er aber bei diesem »radikalen«
Anfang
unbestimmt läßt, ist die Seinsart der res cogitans, genauer
der
Seinssinn des »sum«. Die Herausarbeitung der
unausdrücklichen
ontologischen Fundamente des »cogito sum« erfüllt den
Aufent-
halt bei der zweiten Station auf dem Wege des destruierenden
Rückganges in die Geschichte der Ontologie. Die
Interpretation
erbringt den Beweis, daß Descartes nicht nur überhaupt die
Seins-
frage versäumen mußte, sondern zeigt auch, warum er zur Mei-
nung kam, mit dem absoluten »Gewißsein« des cogito der Frage
nach dem Seinssinn dieses Seienden enthoben zu sein.
Für Descartes bleibt es jedoch nicht allein bei diesem
Versäum-
nis und damit bei einer völligen ontologischen
Unbestimmtheit
der res cogitans sive mens sive animus. Descartes führt die
Fun-
damentalbetrachtungen seiner »Meditationes« durch auf dem
Wege einer Übertragung der mittelalterlichen Ontologie auf
die-
ses von ihm als fundamentum inconcussum angesetzte Seiende.
Die res cogitans wird ontologisch bestimmt als ens und der
Seins-
sinn des ens ist für die mittelalterliche Ontologie fixiert
im Ver-
ständnis des ens als ens creatum. Gott als ens infinitum ist
das
ens increatum. Geschaffenheit aber im weitesten Sinne der
Herge-
stelltheit von etwas ist ein wesentliches Strukturmoment des
antiken Seinsbegriffes. Der scheinbare Neu- 25
anfang des Philosophierens enthüllt sich als die Pflanzung
eines
verhängnisvollen Vorurteils, auf dessen Grunde die Folgezeit
eine
thematische ontologische Analytik des »Gemütes« am Leitfaden
der Seinsfrage und zugleich als kritische Auseinandersetzung
mit
der überkommenen antiken Ontologie verabsäumte.
Daß Descartes von der mittelalterlichen Scholastik
»abhängig«
ist und deren Terminologie gebraucht, sieht jeder Kenner des
Mittelalters. Aber mit dieser »Entdeckung« ist philosophisch
so
lange nichts gewonnen, als dunkel bleibt, welche
grundsätzliche
Tragweite dieses Hereinwirken der mittelalterlichen
Ontologie in
die ontologische Bestimmung, bzw. Nichtbestimmung der res
cogitans für die Folgezeit hat. Diese Tragweite ist erst
abzuschät-
zen, wenn zuvor Sinn und Grenzen der antiken Ontologie aus
der
Orientierung an der Seinsfrage aufgezeigt sind. M. a. W. die
Destruktion sieht sich vor die Aufgabe der Interpretation
des
Bodens der antiken Ontologie im Lichte der Problematik der
Temporalität gestellt. Hierbei wird offenbar, daß die antike
Aus-
legung des Seins des Seienden an der »Welt« bzw. »Natur« im
weitesten Sinne orientiert ist und daß sie in der Tat das
Ver-
ständnis des Seins aus der »Zeit« gewinnt. Das äußere
Dokument
dafür – aber freilich nur das – ist die Bestimmung des
Sinnes von
Sein als
parous?a, bzw. oÙs?a, was ontologisch-temporal »Anwe-
senheit« bedeutet. Seiendes ist in seinem Sein als
»Anwesenheit«
gefaßt, d. h. es ist mit Rücksicht auf einen bestimmten
Zeitmo-
dus, die »Gegenwart«, verstanden.
Die Problematik der griechischen Ontologie muß wie die einer
jeden Ontologie ihren Leitfaden aus dem Dasein selbst
nehmen.
Das Dasein, d. h. das Sein des Menschen ist in der vulgären
ebenso wie in der philosophischen »Definition« umgrenzt als
zùon lÒgon /con, das Lebende, dessen Sein wesenhaft durch
das
Redenkönnen bestimmt ist. Das l?gein (vgl. § 7, B) ist der
Leitfa-
den der Gewinnung der Seinsstrukturen des im Ansprechen und
Besprechen begegnenden Seienden. Deshalb wird die sich bei
Plato ausbildende antike Ontologie zur »Dialektik«. Mit der
fortschreitenden Ausarbeitung des ontologischen Leitfadens
selbst, d. h. der »Hermeneutik« des lÒgoj, wächst die
Möglich-
keit einer radikaleren Fassung des Seinsproblems. Die
»Dialek-
tik«, die eine echte philosophische Verlegenheit war, wird
über-
flüssig. Deshalb hatte Aristoteles »kein Verständnis mehr«
für
sie, weil er sie auf einen radikaleren Boden stellte und
aufhob.
Das l?gein selbst, bzw. das noevn – das schlichte Vernehmen
von
etwas Vorhandenem in seiner puren Vorhandenheit, das schon
Parmenides zum 26
Leitband der Auslegung des Seins genommen – hat die
temporale
Struktur des reinen »Gegenwärtigens« von etwas. Das Seiende,
das sich in ihm für es zeigt und das als das eigentliche
Seiende
verstanden wird, erhält demnach seine Auslegung in Rücksicht
auf – Gegen-wart, d. h. es ist als Anwesenheit (oÙs?a)
begriffen.
Diese griechische Seinsauslegung vollzieht sich jedoch ohne
jedes ausdrückliche Wissen um den dabei fungierenden
Leitfaden,
ohne Kenntnis oder gar Verständnis der fundamentalen
ontologi-
schen Funktion der Zeit, ohne Einblick in den Grund der Mög-
lichkeit dieser Funktion. Im Gegenteil: die Zeit selbst wird
als ein
Seiendes unter anderem Seienden genommen, und es wird ver-
sucht, sie selbst aus dem Horizont des an ihr
unausdrücklich-naiv
orientierten Seinsverständnisses in ihrer Seinsstruktur zu
fassen.
Im Rahmen der folgenden grundsätzlichen Ausarbeitung der
Seinsfrage kann die ausführliche temporale Interpretation
der
Fundamente der antiken Ontologie – vor allem ihrer wissen-
schaftlich höchsten und reinsten Stufe bei Aristoteles –
nicht mit-
geteilt werden. Statt dessen gibt sie eine Auslegung der
Zeitab-
handlung des Aristoteles1, die zum Diskrimen der Basis und
der
Grenzen der antiken Wissenschaft vom Sein gewählt werden
kann.
Die Aristotelische Abhandlung über die Zeit ist die erste
uns
überlieferte, ausführende Interpretation dieses Phänomens.
Sie
hat alle nachkommende Zeitauffassung – die Bergsons Inbegrif-
fen – wesentlich bestimmt. Aus der Analyse des
Aristotelischen
Zeitbegriffes wird zugleich rückläufig deutlich, daß die
Kantische
Zeitauffassung sich in den von Aristoteles herausgestellten
Struk-
turen bewegt, was besagt, daß Kants ontologische
Grundorientie-
rung – bei allen Unterschieden eines neuen Fragens – die
griechi-
sche bleibt.
Erst in der Durchführung der Destruktion der ontologischen
Überlieferung gewinnt die Seinsfrage ihre wahrhafte Konkretion.
In ihr verschafft sie sich den vollen Beweis der
Unumgänglichkeit
der Frage nach dem Sinn von Sein und demonstriert so den
Sinn
der Rede von einer »Wiederholung« dieser Frage.
Jede Untersuchung in diesem Felde, wo »die Sache selbst tief
eingehüllt ist«2, wird sich von einer Überschätzung ihrer
Ergeb-
nisse freihalten. Denn solches Fragen zwingt sich ständig
selbst
vor die Möglichkeit der Erschließung eines noch
ursprünglicheren
universaleren Horizontes, daraus die Antwort auf die Frage:
was
heißt »Sein«?
1 Physik A 10, 217, b 29 – 14, 224, a 17.
2 Kant, Kr. d. r. V., B S. 121. 27
geschöpft werden könnte. Über solche Möglichkeiten ist
ernsthaft
und mit positivem Gewinn nur dann zu verhandeln, wenn über-
haupt erst wieder die Frage nach dem Sein geweckt und ein
Feld
kontrollierbarer Auseinandersetzungen gewonnen ist.
§ 7. Die phänomenologische Methode der Untersuchung
Mit der vorläufigen Charakteristik des thematischen Gegen-
standes der Untersuchung (Sein des Seienden, bzw. Sinn des
Seins
überhaupt) scheint auch schon ihre Methode vorgezeichnet zu
sein. Die Abhebung des Seins vom Seienden und die
Explikation
des Seins selbst ist Aufgabe der Ontologie. Und die Methode
der
Ontologie bleibt im höchsten Grade fragwürdig, solange man
etwa bei geschichtlich überlieferten Ontologien oder
dergleichen
Versuchen Rat erbitten wollte. Da der Terminus Ontologie für
diese Untersuchung in einem formal weiten Sinne gebraucht
wird,
verbietet sich der Weg, ihre Methode im Verfolg ihrer
Geschichte
zu klären, von selbst.
Mit dem Gebrauch des Terminus Ontologie ist auch keiner
bestimmten philosophischen Disziplin das Wort geredet, die
im
Zusammenhang mit den übrigen stände. Es soll überhaupt nicht
der Aufgabe einer vorgegebenen Disziplin genügt werden, son-
dern umgekehrt: aus den sachlichen Notwendigkeiten
bestimmter
Fragen und der aus den »Sachen selbst« geforderten Behand-
lungsart kann sich allenfalls eine Disziplin ausbilden.
Mit der leitenden Frage nach dem Sinn des Seins steht die
Untersuchung bei der Fundamentalfrage der Philosophie über-
haupt. Die Behandlungsart dieser Frage ist die
phänomenologi-
sche. Damit verschreibt sich diese Abhandlung weder einem
»Standpunkt«, noch einer »Richtung«, weil Phänomenologie
keines von beiden ist und nie werden kann, solange sie sich
selbst
versteht. Der Ausdruck »Phänomenologie« bedeutet primär
einen
Methodenbegriff. Er charakterisiert nicht das sachhaltige
Was der
Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie
dieser. Je echter ein Methodenbegriff sich auswirkt und je
umfas-
sender er den grundsätzlichen Duktus einer Wissenschaft
bestimmt, um so ursprünglicher ist er in der
Auseinandersetzung
mit den Sachen selbst verwurzelt, um so weiter entfernt er
sich
von dem, was wir einen technischen Handgriff nennen, deren
es
auch in den theoretischen Disziplinen viele gibt.
Der Titel »Phänomenologie« drückt eine Maxime aus, die also
formuliert werden kann: »zu den Sachen selbst!« – entgegen
allen 28
freischwebenden Konstruktionen, zufälligen Funden, entgegen
der Übernahme von nur scheinbar ausgewiesenen Begriffen,
ent-
gegen den Scheinfragen, die sich oft Generationen hindurch
als
»Probleme« breitmachen. Diese Maxime ist aber doch – möchte
man erwidern – reichlich selbstverständlich und überdies ein
Ausdruck des Prinzips jeder wissenschaftlichen Erkenntnis.
Man
sieht nicht ein, warum diese Selbstverständlichkeit
ausdrücklich
in die Titelbezeichnung einer Forschung aufgenommen werden
soll. Es geht in der Tat um eine »Selbstverständlichkeit«,
die wir
uns näher bringen wollen, soweit das für die Aufhellung des
Vor-
gehens dieser Abhandlung von Belang ist. Wir exponieren nur
den Vorbegriff der Phänomenologie.
Der Ausdruck hat zwei Bestandstücke: Phänomen und Logos;
beide gehen auf griechische Termini zurück: fainÒmenon und
lÒgoj. Äußerlich genommen ist der Titel Phänomenologie ent-
sprechend gebildet wie Theologie, Biologie, Soziologie,
welche
Namen übersetzt werden: Wissenschaft von Gott, vom Leben,
von der Gemeinschaft. Phänomenologie wäre demnach die Wis-
senschaft von den Phänomenen. Der Vorbegriff der Phänome-
nologie soll herausgestellt werden durch die Charakteristik
des-
sen, was mit den beiden Bestandstücken des Titels,
»Phänomen«
und »Logos«, gemeint ist und durch die Fixierung des Sinnes
des
aus ihnen zusammengesetzten Namens. Die Geschichte des Wor-
tes selbst, das vermutlich in der Schule Wolffs entstand,
ist hier
nicht von Bedeutung.
A. Der Begriff des Phänomens
Der griechische Ausdruck fainÒmenon, auf den der Terminus
»Phänomen« zurückgeht, leitet sich von dem Verbum fa?nesqai
her, das bedeutet: sich zeigen; fainÒmenon besagt daher:
das, was
sich zeigt, das Sichzeigende, das Offenbare; fa?nesqai
selbst ist
eine mediale Bildung von fa?nw, an den Tag bringen, in die
Helle
stellen; fa?nw gehört zum Stamm fa- wie fîj, das Licht, die
Helle, d. h. das, worin etwas offenbar, an ihm selbst
sichtbar
werden kann. Als Bedeutung des Ausdrucks »Phänomen« ist
daher festzuhalten: das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das
Offen-
bare. Die fainÒmena, »Phänomene«, sind dann die Gesamtheit
dessen, was am Tage liegt oder ans Licht gebracht werden
kann,
was die Griechen zuweilen einfach mit t¦ Ônta (das Seiende)
iden-
tifizierten. Seiendes kann sich nun in verschiedener Weise,
je nach
der Zugangsart zu ihm, von ihm selbst her zeigen. Die
Möglich-
keit besteht sogar, daß Seiendes sich als das zeigt, was es
an ihm
selbst nicht ist. In diesem Sichzeigen »sieht« das Seiende
»so aus 29
wie...«. Solches Sichzeigen nennen wir Scheinen. Und so hat
auch im Griechischen der Ausdruck fainÒmenon, Phänomen, die
Bedeutung, das so Aussehende wie, das »Scheinbare«, der
»Schein«; fainÒmenon ¢gaqÒn meint ein Gutes, das so aussieht
wie
– aber »in Wirklichkeit« das nicht ist, als was es sich
gibt. Für
das weitere Verständnis des Phänomenbegriffes liegt alles
daran
zu sehen, wie das in den beiden Bedeutungen von fainÒmenon
Genannte (»Phänomen« das Sichzeigende und »Phänomen« der
Schein) seiner Struktur nach unter sich zusammenhängt. Nur
sofern etwas überhaupt seinem Sinne nach prätendiert, sich
zu
zeigen, d. h. Phänomen zu sein, kann es sich zeigen als
etwas, was
es nicht ist, kann es »nur so aussehen wie...«. In der
Bedeutung
fainÒmenon (»Schein«) liegt schon die ursprüngliche
Bedeutung
(Phänomen: das Offenbare) mitbeschlossen als die zweite
fundie-
rend. Wir weisen den Titel »Phänomen« terminologisch der
posi-
tiven und ursprünglichen Bedeutung von fainÒmenon zu und
unterscheiden Phänomen von Schein als der privativen
Modifika-
tion von Phänomen. Was aber beide Termini ausdrücken, hat
zunächst ganz und gar nichts zu tun mit dem, was man
»Erschei-
nung« oder gar »bloße Erscheinung« nennt.
So ist die Rede von »Krankheitserscheinungen«. Gemeint sind
Vorkommnisse am Leib, die sich zeigen und im Sichzeigen als
diese Sich zeigenden etwas »indizieren«, was sich selbst
nicht
zeigt. Das Auftreten solcher Vorkommnisse, ihr Sichzeigen,
geht
zusammen mit dem Vorhandensein von Störungen, die selbst
sich
nicht zeigen. Erscheinung als Erscheinung »von etwas« besagt
demnach gerade nicht: sich selbst zeigen, sondern das
Sichmelden
von etwas, das sich nicht zeigt, durch etwas, was sich
zeigt.
Erscheinen ist ein Sich-nicht-zeigen. Dieses »Nicht« darf
aber
keineswegs mit dem privativen Nicht zusammengeworfen wer-
den, als welches es die Struktur des Scheins bestimmt. Was
sich in
der Weise nicht zeigt, wie das Erscheinende, kann auch nie
schei-
nen. Alle Indikationen, Darstellungen, Symptome und Symbole
haben die angeführte formale Grundstruktur des Erscheinens,
wenngleich sie unter sich noch verschieden sind.
Obzwar »Erscheinen« nicht und nie ist ein Sichzeigen im
Sinne
von Phänomen, so ist doch Erscheinen nur möglich auf dem
Grunde eines Sichzeigens von etwas. Aber dieses das
Erscheinen
mit ermöglichende Sichzeigen ist nicht das Erscheinen
selbst.
Erscheinen ist das Sich-melden durch etwas, was sich zeigt.
Wenn
man dann sagt, mit dem Wort »Erscheinung« weisen wir auf
etwas hin, darin etwas erscheint, ohne selbst Erscheinung zu
sein,
so ist damit nicht der Begriff von Phänomen umgrenzt,
sondern
vorausgesetzt, welche Vor- 30
aussetzung aber verdeckt bleibt, weil in dieser Bestimmung
von
»Erscheinung« der Ausdruck »erscheinen« doppeldeutig
gebraucht wird. Das, worin etwas »erscheint«, besagt, worin
sich
etwas meldet, d. h. sich nicht zeigt; und in der Rede: »ohne
selbst
›Erscheinung‹ zu sein« bedeutet Erscheinung das Sichzeigen.
Die-
ses Sichzeigen gehört aber wesenhaft zu dem »Worin«, darin
sich
etwas meldet. Phänomene sind demnach nie Erscheinungen, wohl
aber ist jede Erscheinung angewiesen auf Phänomene.
Definiert
man Phänomen mit Hilfe eines zudem noch unklaren Begriffes
von »Erscheinung«, dann ist alles auf den Kopf gestellt, und
eine
»Kritik« der Phänomenologie auf dieser Basis ist freilich
ein
merkwürdiges Unterfangen.
Der Ausdruck »Erscheinung« kann selber wieder ein Doppeltes
bedeuten: einmal das Erscheinen im Sinne des Sichmeldens als
Sich-nicht-zeigen und dann das Meldende selbst – das in
seinem
Sichzeigen etwas Sich-nicht-zeigendes anzeigt. Und
schließlich
kann man Erscheinen gebrauchen als Titel für den echten Sinn
von Phänomen als Sichzeigen. Bezeichnet man diese drei ver-
schiedenen Sachverhalte als »Erscheinung«, dann ist die
Verwir-
rung unvermeidlich.
Sie wird aber noch wesentlich dadurch gesteigert, daß
»Erscheinung« noch eine andere Bedeutung annehmen kann.
Faßt man das Meldende, das in seinem Sichzeigen das Nichtof-
fenbare anzeigt, als das, was an dem selbst Nichtoffenbaren
auf-
tritt, von diesem ausstrahlt, so zwar, daß das
Nichtoffenbare
gedacht wird als das wesenhaft nie Offenbare – dann besagt
Erscheinung soviel als Hervorbringung, bzw.
Hervorgebrachtes,
das aber nicht das eigentliche Sein des Hervorbringenden
aus-
macht: Erscheinung im Sinne von »bloßer Erscheinung«. Das
hervorgebrachte Meldende zeigt sich zwar selbst, so zwar,
daß es,
als Ausstrahlung dessen, was es meldet, dieses gerade
ständig an
ihm selbst verhüllt. Aber dieses verhüllende Nichtzeigen ist
wie-
derum nicht Schein. Kant gebraucht den Terminus Erscheinung
in dieser Verkuppelung. Erscheinungen sind nach ihm einmal
die
»Gegenstände der empirischen Anschauung«, das, was sich in
dieser zeigt. Dieses Sichzeigende (Phänomen im echten
ursprüng-
lichen Sinne) ist zugleich »Erscheinung« als meldende
Ausstrah-
lung von etwas, was sich in der Erscheinung verbirgt.
Sofern für »Erscheinung« in der Bedeutung von Sichmelden
durch ein Sichzeigendes ein Phänomen konstitutiv ist, dieses
aber
privativ sich abwandeln kann zu Schein, so kann auch
Erschei-
nung zu bloßem Schein werden. In bestimmter Beleuchtung kann
jemand so aussehen, als hätte er gerötete Wangen, welche
sich
zeigende Röte als Meldung 31
vom Vorhandensein von Fieber genommen werden kann, was
seinerseits noch wieder eine Störung im Organismus
indiziert.
Phänomen – das Sich-an-ihm-selbst-zeigen – bedeutet eine
aus-
gezeichnete Begegnisart von etwas. Erscheinung dagegen meint
einen seienden Verweisungsbezug im Seienden selbst, so zwar,
daß das Verweisende (Meldende) seiner möglichen Funktion nur
genügen kann, wenn es sich an ihm selbst zeigt, »Phänomen«
ist.
Erscheinung und Schein sind selbst in verschiedener Weise im
Phänomen fundiert. Die verwirrende Mannigfaltigkeit der
»Phä-
nomene«, die mit den Titeln Phänomen, Schein, Erscheinung,
bloße Erscheinung genannt werden, läßt sich nur entwirren,
wenn von Anfang an der Begriff von Phänomen verstanden ist:
das Sich-an-ihm-selbst-zeigende.
Bleibt in dieser Fassung des Phänomenbegriffes unbestimmt,
welches Seiende als Phänomen angesprochen wird, und bleibt
überhaupt offen, ob das Sichzeigende je ein Seiendes ist oder
ob
ein Seinscharakter des Seienden, dann ist lediglich der
formale
Phänomenbegriff gewonnen. Wird aber unter dem Sichzeigenden
das Seiende verstanden, das etwa im Sinne Kants durch die
empi-
rische Anschauung zugänglich ist, dann kommt dabei der formale
Phänomenbegriff zu einer rechtmäßigen Anwendung. Phänomen
in diesem Gebrauch erfüllt die Bedeutung des vulgären Phäno-
menbegriffs. Dieser vulgäre ist aber nicht der
phänomenologische
Begriff von Phänomen. Im Horizont der Kantischen Problematik
kann das, was phänomenologisch unter Phänomen begriffen
wird, vorbehaltlich anderer Unterschiede, so illustriert
werden,
daß wir sagen: was in den Erscheinungen, dem vulgär
verstande-
nen Phänomen je vorgängig und mitgängig, obzwar unthema-
tisch, sich schon zeigt, kann thematisch zum Sichzeigen
gebracht
werden und dieses Sich-so-an-ihm-selbst-zeigende (»Formen
der
Anschauung«) sind Phänomene der Phänomenologie. Denn of-
fenbar müssen sich Raum und Zeit so zeigen können, sie
müssen
zum Phänomen werden können, wenn Kant eine sachgegründete
transzendentale Aussage damit beansprucht, wenn er sagt, der
Raum sei das apriorische Worinnen einer Ordnung.
Soll aber nun der phänomenologische Phänomenbegriff über-
haupt verstanden werden, abgesehen davon, wie das
Sichzeigende
näher bestimmt sein mag, dann ist dafür die Einsicht in den
Sinn
des formalen Phänomenbegriffs und seiner rechtmäßigen Anwen-
dung in einer vulgären Bedeutung unumgängliche
Voraussetzung.
– Vor der Fixierung des Vorbegriffes der Phänomenologie ist
die
Bedeutung von lÒgoj zu umgrenzen, damit deutlich wird, in
wel-
chem Sinne Phänomenologie überhaupt »Wissenschaft von« den
Phänomen sein kann. 32
B. Der Begriff des Logos
Der Begriff des lÒgoj ist bei Plato und Aristoteles
vieldeutig
und zwar in einer Weise, daß die Bedeutungen
auseinanderstre-
ben, ohne positiv durch eine Grundbedeutung geführt zu sein.
Das ist in der Tat nur Schein, der sich so lange erhält, als
die
Interpretation die Grundbedeutung in ihrem primären Gehalt
nicht angemessen zu fassen vermag. Wenn wir sagen, die
Grund-
bedeutung von lÒgoj ist Rede, dann wird diese wörtliche
Über-
setzung erst vollgültig aus der Bestimmung dessen, was Rede
selbst besagt. Die spätere Bedeutungsgeschichte des Wortes
lÒgoj
und vor allem die vielfältigen und willkürlichen
Interpretationen
der nachkommenden Philosophie verdecken ständig die eigent-
liche Bedeutung von Rede, die offen genug zutage liegt.
lÒgoj
wird »übersetzt«, d. h. immer ausgelegt als Vernunft, Urteil,
Begriff, Definition, Grund, Verhältnis. Wie soll aber »Rede«
sich
so modifizieren können, daß lÒgoj all das Aufgezählte
bedeutet
und zwar innerhalb des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs?
Auch wenn lÒgoj im Sinne von Aussage verstanden wird, Aus-
sage aber als »Urteil«, dann kann mit dieser scheinbar
recht-
mäßigen Übersetzung die fundamentale Bedeutung doch verfehlt
sein, zumal wenn Urteil im Sinne irgendeiner heutigen
»Urteils-
theorie« begriffen wird. lÒgoj besagt nicht und jedenfalls
nicht
primär Urteil, wenn man darunter ein »Verbinden« oder eine
»Stellungnahme« (Anerkennen – Verwerfen) versteht.
lÒgoj als Rede besagt vielmehr soviel wie dhloàn, offenbar
machen das, wovon in der Rede »die Rede« ist. Aristoteles
hat
diese Funktion der Rede schärfer expliziert als
¢pofa?nesqai.1
Der lÒgoj läßt etwas sehen (fa?nesqai), nämlich das, worüber
die
Rede ist und zwar für den Redenden (Medium), bzw. für die
miteinander Redenden. Die Rede »läßt sehen« ¢pÕ ... von dem
selbst her, wovon die Rede ist. In der Rede (¢pÒfansij)
soll,
wofern sie echt ist, das, was geredet ist, aus dem, worüber
gere-
det wird, geschöpft sein, so daß die redende Mitteilung in
ihrem
Gesagten das, worüber sie redet, offenbar und so dem anderen
zugänglich macht. Das ist die Struktur des lÒgoj als
¢pÒfansij.
Nicht jeder »Rede« eignet dieser Modus des Offenbar-machens
im Sinne des aufweisenden Sehenlassens. Das Bitten (eÙc?) z.
B.
macht auch offenbar, aber in anderer Weise.
Im konkreten Vollzug hat das Reden (Sehenlassen) den
Charakter des Sprechens, der stimmlichen Verlautbarung in
Worten. Der lÒgoj
1 Vgl. de interpretatione cap. 1-6. Ferner Met. Z. 4 und
Eth. Nic. Z. 33
ist fwn? und zwar fwn? met¦ fantas?aj – stimmliche
Verlautba-
rung, in der je etwas gesichtet ist.
Und nur weil die Funktion des lÒgoj als ¢pÒfansij im aufwei-
senden Sehenlassen von etwas liegt, kann der lÒgoj die
Struktur-
form der sÚnqesij haben. Synthesis sagt hier nicht Verbinden
und
Verknüpfen von Vorstellungen, Hantieren mit psychischen Vor-
kommnissen, bezüglich welcher Verbindungen dann das »Prob-
lem« entstehen soll, wie sie als Inneres mit dem Physischen
draußen übereinstimmen. Das sun hat hier rein apophantische
Bedeutung und besagt: etwas in seinem Beisammen mit etwas,
etwas als etwas sehen lassen.
Und wiederum, weil der lÒgoj ein Sehenlassen ist, deshalb
kann
er wahr oder falsch sein. Auch liegt alles daran, sich von
einem
konstruierten Wahrheitsbegriff im Sinne einer Ȇbereinstim-
mung« freizuhalten. Diese Idee ist keinesfalls die primäre
im
Begriff der ¢l?qeia. Das »Wahrsein« des lÒgoj als ¢lhqeÚein
besagt: das Seiende, wovon die Rede ist, im l?gein als
¢pofa?nesqai aus seiner Verborgenheit herausnehmen und es
als
Unverborgenes (¢lhq?j) sehen lassen, entdecken. Im gleichen
besagt das »Falschsein« yeÚdesqai soviel wie Tauschen im
Sinne
von verdecken: etwas vor etwas stellen (in der Weise des
Sehen-
lassens) und es damit ausgeben als etwas, was es nicht ist.
Weil aber »Wahrheit« diesen Sinn hat und der lÒgoj ein
bestimmter Modus des Sehenlassens ist, darf der lÒgoj gerade
nicht als der primäre »Ort« der Wahrheit angesprochen
werden.
Wenn man, wie es heute durchgängig üblich geworden ist,
Wahrheit als das bestimmt, was »eigentlich« dem Urteil zu-
kommt, und sich mit dieser These überdies auf Aristoteles
beruft,
dann ist sowohl diese Berufung ohne Recht, als vor allem der
griechische Wahrheitsbegriff mißverstanden. »Wahr« ist im
grie-
chischen Sinne und zwar ursprünglicher als der genannte
lÒgoj
die a?sqhsij, das schlichte, sinnliche Vernehmen von etwas.
Sofern eine a?sqhsij je auf ihre ?dia zielt, das je genuin
nur gerade
durch sie und für sie zugängliche Seiende, z. B. das Sehen
auf die
Farben, dann ist das Vernehmen immer wahr. Das besagt: Sehen
entdeckt immer Farben, Hören entdeckt immer Tone. Im
reinsten
und ursprünglichsten Sinne »wahr« – d. h. nur entdeckend, so
daß es nie verdecken kann, ist das reine noevn, das schlicht
hinse-
hende Vernehmen der einfachsten Seinsbestimmungen des Seien-
den als solchen. Dieses noevn kann nie verdecken, nie falsch
sein,
es kann allenfalls ein Unvernehmen bleiben, ¢gnoevn, für den
schlichten, angemessenen Zugang nicht zureichen. 34
Was nicht mehr die Vollzugsform des reinen Sehenlassens hat,
sondern je im Aufweisen auf ein anderes rekurriert und so je
etwas als etwas sehen läßt, das übernimmt mit dieser Synthe-
sisstruktur die Möglichkeit des Verdeckens. Die
»Urteilswahr-
heit« aber ist nur der Gegenfall zu diesem Verdecken – d. h.
ein
mehrfach fundiertes Phänomen von Wahrheit. Realismus und
Idealismus verfehlen den Sinn des griechischen
Wahrheitsbegrif-
fes, aus dem heraus man überhaupt nur die Möglichkeit von so
etwas wie einer »Ideenlehre« als philosophischer Erkenntnis
verstehen kann, mit gleicher Gründlichkeit.
Und weil die Funktion des lÒgoj im schlichten Sehenlassen
von
etwas liegt, im Vernehmenlassen des Seienden, kann lÒgoj
Ver-
nunft bedeuten. Und weil wiederum lÒgoj gebraucht wird nicht
nur in der Bedeutung von l?gein, sondern zugleich in der von
legÒmenon, das Aufgezeigte als solches, und weil dieses
nichts
anderes ist als das Øpoke?menon, was für jedes zugehende An-
sprechen und Besprechen je schon als vorhanden zum Grunde
liegt, besagt lÒgoj qua legÒmenon Grund, ratio. Und weil
schließ-
lich lÒgoj qua legÒmenon auch bedeuten kann: das als etwas
Angesprochene, was in seiner Beziehung zu etwas sichtbar
geworden ist, in seiner »Bezogenheit«, erhält lÒgoj die
Bedeutung
von Beziehung und Verhältnis,
Diese Interpretation der »apophantischen Rede« mag für die
Verdeutlichung der primären Funktion des lÒgoj zureichen.
C. Der Vorbegriff der Phänomenologie
Bei einer konkreten Vergegenwärtigung des in der Interpreta-
tion von »Phänomen« und »Logos« Herausgestellten springt ein
innerer Bezug zwischen dem mit diesen Titeln Gemeinten in
die
Augen. Der Ausdruck Phänomenologie läßt sich griechisch for-
mulieren: l?gein t¦ fainÒmena; l?gein besagt aber
¢pofa?nesqai.
Phänomenologie sagt dann: ¢pofa?nesqai t¦ fainÒmena: Das was
sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm
selbst
her sehen lassen. Das ist der formale Sinn der Forschung,
die sich
den Namen Phänomenologie gibt. So kommt aber nichts anderes
zum Ausdruck als die oben formulierte Maxime: »Zu den Sachen
selbst!«
Der Titel Phänomenologie ist demnach hinsichtlich seines
Sin-
nes ein anderer als die Bezeichnungen Theologie u. dgl.
Diese
nennen die Gegenstände der betreffenden Wissenschaft in
ihrer
jeweiligen Sachhaltigkeit. »Phänomenologie« nennt weder den
Gegenstand ihrer Forschungen, noch charakterisiert der Titel
deren Sachhaltigkeit. Das Wort gibt nur Aufschluß über das
Wie
der Aufweisung und Behand- 35
lungsart dessen, was in dieser Wissenschaft abgehandelt
werden
soll. Wissenschaft »von« den Phänomenen besagt: eine solche
Erfassung ihrer Gegenstände, daß alles, was über sie zur
Erörte-
rung steht, in direkter Aufweisung und direkter Ausweisung
ab-
gehandelt werden muß. Denselben Sinn hat der im Grunde tau-
tologische Ausdruck »deskriptive Phänomenologie«.
Deskription
bedeutet hier nicht ein Verfahren nach Art etwa der
botanischen
Morphologie – der Titel hat wieder einen prohibitiven Sinn:
Fernhaltung alles nichtausweisenden Bestimmens. Der
Charakter
der Deskription selbst, der spezifische Sinn des lÒgoj, kann
al-
lererst aus der »Sachheit« dessen fixiert werden, was
»beschrie-
ben«, d. h. in der Begegnisart von Phänomenen zu
wissenschaft-
licher Bestimmtheit gebracht werden soll. Formal berechtigt
die
Bedeutung des formalen und vulgären Phänomenbegriffes dazu,
jede Aufweisung von Seiendem, so wie es sich an ihm selbst
zeigt,
Phänomenologie zu nennen.
Mit Rücksicht worauf muß nun der formale Phänomenbegriff
zum phänomenologischen entformalisiert werden und wie unter-
scheidet sich dieser vom vulgären? Was ist das, was die
Phäno-
menologie »sehen lassen« soll? Was ist es, was in einem
ausge-
zeichneten Sinne »Phänomen« genannt werden muß? Was ist
seinem Wesen nach notwendig Thema einer ausdrücklichen Auf-
weisung? Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist
gerade
nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und
zumeist
zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft
zu
dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar,
daß es
seinen Sinn und Grund ausmacht.
Was aber in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt oder
wieder in die Verdeckung zurückfällt oder nur »verstellt«
sich
zeigt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern, wie die
voran-
stehenden Betrachtungen gezeigt haben, das Sein des
Seienden. Es
kann so weitgehend verdeckt sein, daß es vergessen wird und
die
Frage nach ihm und seinem Sinn ausbleibt. Was demnach in
einem ausgezeichneten Sinne, aus seinem eigensten Sachgehalt
her
fordert, Phänomen zu werden, hat die Phänomenologie als
Gegenstand thematisch in den »Griff« genommen.
Phänomenologie ist Zugangsart zu dem und die ausweisende
Bestimmungsart dessen, was Thema der Ontologie werden soll.
Ontotogie ist nur als Phänomenologie möglich. Der phänome-
nologische Begriff von Phänomen meint als das Sichzeigende
das
Sein des Seienden, seinen Sinn, seine Modifikationen und
Deri-
vate. Und das Sichzeigen ist kein beliebiges noch gar so
etwas wie
Erscheinen. Das Sein 36
des Seienden kann am wenigsten je so etwas sein, »dahinter«
noch etwas steht, »was nicht erscheint«.
»Hinter« den Phänomenen der Phänomenologie steht wesen-
haft nichts anderes, wohl aber kann das, was Phänomen werden
soll, verborgen sein. Und gerade deshalb, weil die Phänomene
zunächst und zumeist nicht gegeben sind, bedarf es der
Phäno-
menologie. Verdecktheit ist der Gegenbegriff zu »Phänomen«.
Die Art der möglichen Verdecktheit der Phänomene ist ver-
schieden. Einmal kann ein Phänomen verdeckt sein in dem
Sinne,
daß es überhaupt noch unentdeckt ist. Über seinen Bestand
gibt
es weder Kenntnis noch Unkenntnis. Ein Phänomen kann ferner
verschüttet sein. Darin liegt: es war zuvor einmal entdeckt,
verfiel
aber wieder der Verdeckung. Diese kann zur totalen werden,
oder aber, was die Regel ist, das zuvor Entdeckte ist noch
sicht-
bar, wenngleich nur als Schein. Wieviel Schein jedoch, soviel
»Sein«. Diese Verdeckung als »Verstellung« ist die häufigste
und
gefährlichste, weil hier die Möglichkeiten der Täuschung und
Mißleitung besonders hartnäckig sind. Die verfügbaren, aber
in
ihrer Bodenständigkeit verhüllten Seinsstrukturen und deren
Begriffe beanspruchen vielleicht innerhalb eines »Systems«
ihr
Recht. Sie geben sich auf Grund der konstruktiven Verklamme-
rung in einem System als etwas, was weiterer Rechtfertigung
unbedürftig und »klar« ist und daher einer fortschreitenden
Deduktion als Ausgang dienen kann.
Die Verdeckung selbst, mag sie im Sinne der Verborgenheit
oder der Verschüttung oder der Verstellung gefaßt werden,
hat
wiederum eine zweifache Möglichkeit. Es gibt zufällige Ver-
deckungen und notwendige, d. h. solche, die in der
Bestandart
des Entdeckten gründen. Jeder ursprünglich geschöpfte phäno-
menologische Begriff und Satz steht als mitgeteilte Aussage
in der
Möglichkeit der Entartung. Er wird in einem leeren
Verständnis
weitergegeben, verliert seine Bodenständigkeit und wird zur
frei-
schwebenden These. Die Möglichkeit der Verhärtung und
Ungrif-
figkeit des ursprünglich »Griffigen« liegt in der konkreten
Arbeit
der Phänomenologie selbst. Und die Schwierigkeit dieser For-
schung besteht gerade darin, sie gegen sich selbst in einem
positi-
ven Sinne kritisch zu machen.
Die Begegnisart des Seins und der Seinsstrukturen im Modus
des Phänomens muß den Gegenständen der Phänomenologie
allererst abgewonnen werden. Daher fordern der Ausgang der
Analyse ebenso wie der Zugang zum Phänomen und der Durch-
gang durch die herrschenden Verdeckungen eine eigene metho-
dische Sicherung. In der 37
Idee der »originären« und »intuitiven« Erfassung und
Explika-
tion der Phänomene liegt das Gegenteil der Naivität eines
zufälli-
gen, »unmittelbaren« und unbedachten »Schauens«.
Auf dem Boden des umgrenzten Vorbegriffes der Phänomeno-
logie können nun auch die Termini »phänomenal« und »phäno-
menologisch«. in ihrer Bedeutung fixiert werden.
»Phänomenal«
wird genannt, was in der Begegnisart des Phänomens gegeben
und explizierbar ist; daher die Rede von phänomenalen
Struktu-
ren. »Phänomenologisch« heißt all das, was zur Art der
Aufwei-
sung und Explikation gehört und was die in dieser Forschung
geforderte Begrifflichkeit ausmacht.
Weil Phänomen im phänomenologischen Verstande immer nur
das ist, was Sein ausmacht, Sein aber je Sein von Seiendem
ist,
bedarf es für das Absehen auf eine Freilegung des Seins
zuvor
einer rechten Beibringung des Seienden selbst. Dieses muß
sich
gleichfalls in der ihm genuin zugehörigen Zugangsart zeigen.
Und
so wird der vulgäre Phänomenbegriff phänomenologisch rele-
vant. Die Voraufgabe einer »phänomenologischen« Sicherung
des
exemplarischen Seienden als Ausgang für die eigentliche
Analytik
ist immer schon aus dem Ziel dieser vorgezeichnet.
Sachhaltig genommen ist die Phänomenologie die Wissenschaft
vom Sein des Seienden – Ontologie. In der gegebenen
Erläuterung
der Aufgaben der Ontologie entsprang die Notwendigkeit einer
Fundamentalontologie, die das ontologisch-ontisch
ausgezeich-
nete Seiende zum Thema hat, das Dasein, so zwar, daß sie
sich
vor das Kardinalproblem, die Frage nach dem Sinn von Sein
überhaupt, bringt. Aus der Untersuchung selbst wird sich
erge-
ben: der methodische Sinn der phänomenologischen Deskription
ist Auslegung. Der lÒgoj der Phänomenologie des Daseins hat
den Charakter des ŒrmhneÚein, durch das dem zum Dasein
selbst
gehörigen Seinsverständnis der eigentliche Sinn von Sein und
die
Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben werden.
Phä-
nomenologie des Daseins ist Hermeneutik in der
ursprünglichen
Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung
bezeichnet. Sofern nun aber durch die Aufdeckung des Sinnes
des
Seins und der Grundstrukturen des Daseins überhaupt der
Hori-
zont herausgestellt wird für jede weitere ontologische
Erfor-
schung des nicht daseinsmäßigen Seienden, wird diese
Hermeneu-
tik zugleich »Hermeneutik« im Sinne der Ausarbeitung der
Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen
Untersuchung.
Und sofern schließlich das Dasein den ontologischen Vorrang
hat
vor allem Seienden – als Seiendes in der Möglichkeit der
Existenz,
erhält die Hermeneu- 38
tik als Auslegung des Seins des Daseins einen spezifischen
dritten
– den, philosophisch verstanden, primären Sinn einer
Analytik
der Existenzialität der Existenz. In dieser Hermeneutik ist
dann,
sofern sie die Geschichtlichkeit des Daseins ontologisch
ausarbei-
tet als die ontische Bedingung der Möglichkeit der Historie,
das
verwurzelt, was nur abgeleiteterweise »Hermeneutik« genannt
werden kann: die Methodologie der historischen
Geisteswissen-
schaften.
Das Sein als Grundthema der Philosophie ist keine Gattung
eines Seienden, und doch betrifft es jedes Seiende. Seine
»Univer-
salität« ist höher zu suchen. Sein und Seinsstruktur liegen
über
jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines
Sei-
enden hinaus. Sein ist das transcendens schlechthin. Die Trans-
zendenz des Seins des Daseins ist eine ausgezeichnete,
sofern in
ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten
Individu-
ation liegt. Jede Erschließung von Sein als des transcendens
ist
transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit
(Erschlossenheit von Sein) ist veritas transcendentalis.
Ontologie und Phänomenologie sind nicht zwei verschiedene
Disziplinen neben anderen zur Philosophie gehörigen. Die
beiden
Titel charakterisieren die Philosophie selbst nach
Gegenstand und
Behandlungsart. Philosophie ist universale phänomenologische
Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die
als
Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles
philosophi-
schen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und
wohin es zurückschlägt.
Die folgenden Untersuchungen sind nur möglich geworden auf
dem Boden, den E. Husserl gelegt, mit dessen »Logischen
Unter-
suchungen« die Phänomenologie zum Durchbruch kam. Die
Erläuterungen des Vorbegriffes der Phänomenologie zeigen an,
daß ihr Wesentliches nicht darin liegt, als philosophische
»Rich-
tung« wirklich zu sein. Höher als die Wirklichkeit steht die
Mög-
lichkeit. Das Verständnis der Phänomenologie liegt einzig im
Ergreifen ihrer als Möglichkeit.1
Mit Rücksicht auf das Ungefüge und »Unschöne« des Aus-
drucks innerhalb der folgenden Analysen darf die Bemerkung
angefügt wer-
1 Wenn die folgende Untersuchung einige Schritte vorwärts
geht in der
Erschließung der »Sachen selbst«, so dankt das der Verf. in
erster Linie
E. Husserl, der den Verf. während seiner Freiburger
Lehrjahre durch
eindringliche persönliche Leitung und durch freieste
Überlassung
unveröffentlichter Untersuchungen mit den verschiedensten
Gebieten der
phänomenologischen Forschung vertraut machte. 39
den: ein anderes ist es, über Seiendes erzählend zu
berichten, ein
anderes, Seiendes in seinem Sein zu fassen. Für die
letztgenannte
Aufgabe fehlen nicht nur meist die Worte, sondern vor allem
die
»Grammatik«. Wenn ein Hinweis auf frühere und in ihrem
Niveau unvergleichliche seinsanalytische Forschungen erlaubt
ist,
dann vergleiche man ontologische Abschnitte in Platons
»Parme-
nides« oder das vierte Kapitel des siebenten Buches der
»Meta-
physik« des Aristoteles mit einem erzählenden Abschnitt aus
Thukydides, und man wird das Unerhörte der Formulierungen
sehen, die den Griechen von ihren Philosophen zugemutet wur-
den. Und wo die Kräfte wesentlich geringer und überdies das
zu
erschließende Seinsgebiet ontologisch weit schwieriger ist
als das
den Griechen vorgegebene, wird sich die Umständlichkeit der
Begriffsbildung und die Härte des Ausdrucks steigern.
§ 8. Der Aufriß der Abhandlung
Die Frage nach dem Sinn des Seins ist die universalste und
leerste; in ihr liegt aber zugleich die Möglichkeit ihrer
eigenen
schärfsten Vereinzelung auf das jeweilige Dasein. Die
Gewinnung
des Grundbegriffes »Sein« und die Vorzeichnung der von ihm
geforderten ontologischen Begrifflichkeit und ihrer
notwendigen
Abwandlungen bedürfen eines konkreten Leitfadens. Der
Univer-
salität des Begriffes von Sein widerstreitet nicht die
»Spezialität«
der Untersuchung – d. h. das Vordringen zu ihm auf dem Wege
einer speziellen Interpretation eines bestimmten Seienden,
des
Daseins, darin der Horizont für Verständnis und mögliche
Ausle-
gung von Sein gewonnen werden soll. Dieses Seiende selbst
aber
ist in sich »geschichtlich«, so daß die eigenste
ontologische
Durchleuchtung dieses Seienden notwendig zu einer »histori-
schen« Interpretation wird.
Die Ausarbeitung der Seinsfrage gabelt sich so in zwei
Aufga-
ben; ihnen entspricht die Gliederung der Abhandlung in zwei
Teile:
Erster Teil: Die Interpretation des Daseins auf die
Zeitlichkeit
und die Explikation der Zeit als des transzendentalen
Horizontes
der Frage nach dem Sein.
Zweiter Teil: Grundzüge einer phänomenologischen Destruk-
tion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der
Problematik
der Temporalität.
Der erste Teil zerfällt in drei Abschnitte:
1. Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins.
2. Dasein und Zeitlichkeit.
3. Zeit und Sein.
40
Der zweite Teil gliedert sich ebenso dreifach:
1. Kants Lehre vom Schematismus und der Zeit als Vorstufe
einer Problematik der Temporalität.
2. Das ontologische Fundament des »cogito sum« Descartes’
und die Übernahme der mittelalterlichen Ontologie in die
Problematik der »res cogitans«.
3. Die Abhandlung des Aristoteles über die Zeit als
Diskrimen
der phänomenalen Basis und der Grenzen der antiken
Ontologie. 41
Erster Teil
Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und
die Explikation der Zeit als des transzendentalen
Horizontes der Frage nach dem Sein
Erster Abschnitt
Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins
Das primär Befragte in der Frage nach dem Sinn des Seins ist
das Seiende vom Charakter des Daseins. Die vorbereitende
exi-
stenziale Analytik des Daseins bedarf selbst ihrer Eigenart
gemäß
einer vorzeichnenden Exposition und Abgrenzung gegen schein-
bar mit ihr gleichlaufende Untersuchungen (1. Kapitel).
Unter
Festhaltung des fixierten Ansatzes der Untersuchung ist am
Dasein eine Fundamentalstruktur freizulegen: das
In-der-Welt-
sein (2. Kapitel). Dieses »Apriori« der Daseinsauslegung ist
keine
zusammengestückte Bestimmtheit, sondern eine ursprünglich
und
ständig ganze Struktur. Sie gewährt aber verschiedene
Hinblicke
auf die sie konstituierenden Momente. Bei einem ständigen
Im-
Blick-behalten des je vorgängigen Ganzen dieser Struktur
sind
diese Momente phänomenal abzuheben. Und so werden Gegen-
stand der Analyse: die Welt in ihrer Weltlichkeit (3.
Kapitel), das
In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein (4. Kapitel), das
In-Sein
als solches (5. Kapitel). Auf dem Boden der Analyse dieser
Fun-
damentalstruktur wird eine vorläufige Anzeige des Seins des
Daseins möglich. Sein existenzialer Sinn ist die Sorge (6.
Kapitel).
Erstes Kapitel
Die Exposition der Aufgabe einer vorbereitenden Analyse
des Daseins
§ 9. Das Thema der Analytik des Daseins
Das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je
selbst. Das Sein dieses Seienden ist je meines. Im Sein
dieses
Seienden verhält sich dieses selbst zu seinem Sein. Als
Seiendes
dieses Seins ist es 42
seinem eigenen Sein überantwortet. Das Sein ist es, darum es
diesem Seienden je selbst geht. Aus dieser Charakteristik
des
Daseins ergibt sich ein Doppeltes:
1. Das »Wesen« dieses Seienden liegt in seinem Zu-sein. Das
Was-sein (essentia) dieses Seienden muß, sofern überhaupt
davon
gesprochen werden kann, aus seinem Sein (existentia)
begriffen
werden. Dabei ist es gerade die ontologische Aufgabe zu
zeigen,
daß, wenn wir für das Sein dieses Seienden die Bezeichnung
Exi-
stenz wählen, dieser Titel nicht die ontologische Bedeutung
des
überlieferten Terminus existentia hat und haben kann;
existentia
besagt ontologisch soviel wie Vorhandensein, eine Seinsart,
die
dem Seienden vom Charakter des Daseins wesensmäßig nicht
zukommt. Eine Verwirrung wird dadurch vermieden, daß wir für
den Titel existentia immer den interpretierenden Ausdruck
Vorhandenheit gebrauchen und Existenz als Seinsbestimmung
allein dem Dasein zuweisen.
Das »Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz. Die an
die-
sem Seienden herausstellbaren Charaktere sind daher nicht
vor-
handene »Eigenschaften« eines so und so »aussehenden« vor-
handenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein
und
nur das. Alles Sosein dieses Seienden ist primär Sein. Daher
drückt der Titel »Dasein«, mit dem wir dieses Seiende
bezeich-
nen, nicht sein Was aus, wie Tisch, Haus, Baum, sondern das
Sein.
2. Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht,
ist
je meines. Dasein ist daher nie ontologisch zu fassen als
Fall und
Exemplar einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem. Diesem
Seienden ist sein Sein »gleichgültig«, genau besehen, es
»ist« so,
daß ihm sein Sein weder gleichgültig noch ungleichgültig
sein
kann. Das Ansprechen von Dasein muß gemäß dem Charakter
der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen
mitsagen: »ich bin«, »du bist«.
Und Dasein ist meines wiederum je in dieser oder jener Weise
zu sein. Es hat sich schon immer irgendwie entschieden, in
wel-
cher Weise Dasein je meines ist. Das Seiende, dem es in
seinem
Sein um dieses selbst geht, verhält sich zu seinem Sein als
seiner
eigensten Möglichkeit. Dasein ist je seine Möglichkeit und
es
»hat« sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein
Vorhandenes.
Und weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann
dieses
Seiende in seinem Sein sich selbst »wählen«, gewinnen, es
kann
sich verlieren, bzw. nie und nur »scheinbar« gewinnen.
Verloren
haben kann es sich nur und noch nicht sich gewonnen haben
kann es nur, sofern es seinem Wesen nach mögliches
eigentliches,
das heißt sich zueigen ist. Die beiden Seinsmodi der Ei- 43
gentlichkeit und Uneigentlichkeit – diese Ausdrücke sind im
strengen Wortsinne terminologisch gewählt – gründen darin,
daß
Dasein überhaupt durch Jemeinigkeit bestimmt ist. Die
Uneigent-
lichkeit des Daseins bedeutet aber nicht etwa ein »weniger«
Sein
oder einen »niedrigeren« Seinsgrad. Die Uneigentlichkeit
kann
vielmehr das Dasein nach seiner vollsten Konkretion
bestimmen
in seiner Geschäftigkeit, Angeregtheit, Interessiertheit,
Genußfä-
higkeit.
Die beiden skizzierten Charaktere des Daseins: einmal der
Vor-
rang der »existentia« vor der essentia und dann die
Jemeinigkeit
zeigen schon an, daß eine Analytik dieses Seienden vor einen
eigenartigen phänomenalen Bezirk gestellt wird. Dieses
Seiende
hat nicht und nie die Seinsart des innerhalb der Welt nur
Vor-
handenen. Daher ist es auch nicht in der Weise des
Vorfindens
von Vorhandenem thematisch vorzugeben. Die rechte Vorgabe
seiner ist so wenig selbstverständlich, daß deren Bestimmung
selbst ein wesentliches Stück der ontologischen Analytik
dieses
Seienden ausmacht. Mit dem sicheren Vollzug der rechten Vor-
gabe dieses Seienden steht und fällt die Möglichkeit, das
Sein
dieses Seienden überhaupt zum Verständnis zu bringen. Mag
die
Analyse noch so vorläufig sein, sie fordert immer schon die
Siche-
rung des rechten Ansatzes.
Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer
Möglichkeit,
die es ist und in seinem Sein irgendwie versteht. Das ist
der for-
male Sinn der Existenzverfassung des Daseins. Darin liegt
aber
für die ontologische Interpretation dieses Seienden die
Anwei-
sung, die Problematik seines Seins aus der Existenzialität
seiner
Existenz zu entwickeln. Das kann jedoch nicht heißen, das
Dasein aus einer konkreten möglichen Idee von Existenz kon-
struieren. Das Dasein soll im Ausgang der Analyse gerade
nicht
in der Differenz eines bestimmten Existierens interpretiert,
son-
dern in seinem indifferenten Zunächst und Zumeist aufgedeckt
werden. Diese Indifferenz der Alltäglichkeit des Daseins ist
nicht
nichts, sondern ein positiver phänomenaler Charakter dieses
Seienden. Aus dieser Seinsart heraus und in sie zurück ist
alles
Existieren, wie es ist. Wir nennen diese alltägliche
Indifferenz des
Daseins Durchschnittlichkeit.
Und weil nun die durchschnittliche Alltäglichkeit das
ontische
Zunächst dieses Seienden ausmacht, wurde sie und wird sie
im-
mer wieder in der Explikation des Daseins übersprungen. Das
ontisch Nächste und Bekannte ist das ontologisch Fernste,
Uner-
kannte und in seiner ontologischen Bedeutung ständig Über-
sehene. Wenn Augustinus fragt: Quid autem propinquius meipso
mihi? und antworten muß: ego certe 44
laboro hic et laboro in meipso: factus sum mihi terra
difficultatis
et sudoris nimii1, dann gilt das nicht nur von der ontischen
und
vorontologischen Undurchsichtigkeit des Daseins, sondern in
einem noch erhöhten Maße von der ontologischen Aufgabe, die-
ses Seiende in seiner phänomenal nächsten Seinsart nicht nur
nicht zu verfehlen, sondern in positiver Charakteristik
zugänglich
zu machen.
Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins darf aber
nicht
als ein bloßer »Aspekt« genommen werden. Auch in ihr und
selbst im Modus der Uneigentlichkeit liegt a priori die
Struktur
der Existenzialität. Auch in ihr geht es dem Dasein in
bestimmter
Weise um sein Sein, zu dem es sich im Modus der
durchschnitt-
lichen Alltäglichkeit verhält und sei es auch nur im Modus
der
Flucht davor und des Vergessens seiner.
Die Explikation des Daseins in seiner durchschnittlichen
All-
täglichkeit gibt aber nicht etwa nur durchschnittliche
Strukturen
im Sinne einer verschwimmenden Unbestimmtheit. Was ontisch
in der Weise der Durchschnittlichkeit ist, kann ontologisch
sehr
wohl in prägnanten Strukturen gefaßt werden, die sich
strukturell
von ontologischen Bestimmungen etwa eines eigentlichen Seins
des Daseins nicht unterscheiden.
Alle Explikate, die der Analytik des Daseins entspringen,
sind
gewonnen im Hinblick auf seine Existenzstruktur. Weil sie
sich
aus der Existenzialität bestimmen, nennen wir die
Seinscharak-
tere des Daseins Extstenzialien. Sie sind scharf zu trennen
von
den Seinsbestimmungen des nicht daseinsmäßigen Seienden, die
wir Kategorien nennen. Dabei wird dieser Ausdruck in seiner
primären ontologischen Bedeutung aufgenommen und festgehal-
ten. Die antike Ontologie hat zum exemplarischen Boden ihrer
Seinsauslegung das innerhalb der Welt begegnende Seiende.
Als
Zugangsart zu ihm gilt das noevn bzw. der lÒgoj. Darin
begegnet
das Seiende. Das Sein dieses Seienden muß aber in einem
ausge-
zeichneten l?gein (sehen lassen) faßbar werden so daß dieses
Sein
im vorhinein als das, was es ist und in jedem Seienden schon
ist,
verständlich wird. Das je schon vorgängige Ansprechen des
Seins
im Besprechen (lÒgoj) des Seienden ist das kathgorevsqai.
Das
bedeutet zunächst: öffentlich anklagen, einem vor allen
etwas auf
den Kopf zusagen. Ontologisch verwendet besagt der Terminus:
dem Seienden gleichsam auf den Kopf zusagen, was es je schon
als Seiendes ist, d. h. es in seinem Sein für alle sehen
lassen
1
Confessiones, Hb. 10, cap. 16. 45
Das in solchem Sehen Gesichtete und Sichtbare sind die
kathgor?ai. Sie umfassen die apriorischen Bestimmungen des
im
lÒgoj in verschiedener Weise an- und besprechbaren Seienden.
Existenzialien und Kategorien sind die beiden
Grundmöglichkei-
ten von Seinscharakteren. Das ihnen entsprechende Seiende
for-
dert eine je verschiedene Weise des primären Befragens:
Seiendes
ist ein Wer (Existenz) oder ein Was (Vorhandenheit im
weitesten
Sinne). Über den Zusammenhang der beiden Modi von Seinscha-
rakteren kann erst aus dem geklärten Horizont der Seinsfrage
gehandelt werden.
In der Einleitung wurde schon angedeutet, daß in der
existenzi-
alen Analytik des Daseins eine Aufgabe mitgefördert wird,
deren
Dringlichkeit kaum geringer ist als die der Seinsfrage
selbst: Die
Freilegung des Apriori, das sichtbar sein muß, soll die
Frage,
»was der Mensch sei«, philosophisch erörtert werden können.
Die existenziale Analytik des Daseins liegt vor jeder
Psychologie,
Anthropologie und erst recht Biologie. In der Abgrenzung
gegen
diese möglichen Untersuchungen des Daseins kann das Thema
der Analytik noch eine schärfere Umgrenzung erhalten. Ihre
Notwendigkeit läßt sich damit zugleich noch eindringlicher
beweisen.
§ 10. Die Abgrenzung der Daseinsanalytik gegen
Anthropologie,
Psychologie und Biologie
Nach einer ersten positiven Vorzeichnung des Themas einer
Untersuchung bleibt ihre prohibitive Charakteristik immer
von
Belang, obzwar Erörterungen darüber, was nicht geschehen
soll,
leicht unfruchtbar werden. Gezeigt werden soll, daß die
bisheri-
gen auf das Dasein zielenden Fragestellungen und
Untersuchun-
gen, unbeschadet ihrer sachlichen Ergiebigkeit, das
eigentliche,
philosophische Problem verfehlen, daß sie mithin, solange
sie bei
dieser Verfehlung beharren, nicht beanspruchen dürfen, das
überhaupt leisten zu können, was sie im Grunde anstreben.
Die
Abgrenzungen der existenzialen Analytik gegen Anthropologie,
Psychologie und Biologie beziehen sich nur auf die
grundsätzlich
ontologische Frage. »Wissenschaftstheoretisch« sind sie
notwen-
dig unzureichend schon allein deshalb, weil die
Wissenschafts-
struktur der genannten Disziplinen – nicht etwa die »Wissen-
schaftlichkeit« der an ihrer Förderung Arbeitenden – heute
durch
und durch fragwürdig ist und neuer Anstöße bedarf, die aus
der
ontologischen Problematik entspringen müssen.
In historischer Orientierung kann die Absicht der
existenzialen
Analytik also verdeutlicht werden: Descartes, dem man die
Entdek- 46
kung des cogito sum als Ausgangsbasis des neuzeitlichen
philoso-
phischen Fragens zuschreibt, untersuchte das cogitare des
ego –
in gewissen Grenzen. Dagegen läßt er das sum völlig
unerörtert,
wenngleich es ebenso ursprünglich angesetzt wird wie das
cogito.
Die Analytik stellt die ontologische Frage nach dem Sein des
sum.
Ist dieses bestimmt, dann wird die Seinsart der cogitationes
erst
faßbar.
Allerdings ist diese historische Exemplifizierung der
Absicht der
Analytik zugleich irreführend. Eine ihrer ersten Aufgaben
wird es
sein zu erweisen, daß der Ansatz eines zunächst gegebenen
Ich
und Subjekts den phänomenalen Bestand des Daseins von Grund
aus verfehlt. Jede Idee von »Subjekt« macht noch – falls sie
nicht
durch eine vorgängige ontologische Grundbestimmung geläutert
ist – den Ansatz des subjectum (Øpoke?menon) ontologisch
mit, so
lebhaft man sich auch ontisch gegen die »Seelensubstanz«
oder
die »Verdinglichung des Bewußtseins« zur Wehr setzen mag.
Dinglichkeit selbst bedarf erst einer Ausweisung ihrer
ontologi-
schen Herkunft, damit gefragt werden kann, was positiv denn
nun unter dem nichtverdinglichten Sein des Subjekts, der
Seele,
des Bewußtseins, des Geistes, der Person zu verstehen sei.
Diese
Titel nennen alle bestimmte, »ausformbare« Phänomenbezirke,
ihre Verwendung geht aber immer zusammen mit einer merk-
würdigen Bedürfnislosigkeit, nach dem Sein des so
bezeichneten
Seienden zu fragen. Es ist daher keine Eigenwilligkeit in
der Ter-
minologie, wenn wir diese Titel ebenso wie die Ausdrücke
»Leben« und »Mensch« zur Bezeichnung des Seienden, das wir
selbst sind, vermeiden.
Andrerseits liegt aber in der rechtverstandenen Tendenz
aller
wissenschaftlichen ernsthaften »Lebensphilosophie« – das
Wort
sagt so viel wie die Botanik der Pflanzen – unausdrücklich
die
Tendenz auf ein Verständnis des Seins des Daseins.
Auffallend
bleibt, und das ist ihr grundsätzlicher Mangel, daß »Leben«
selbst nicht als eine Seinsart ontologisch zum Problem wird.
W. Diltheys Forschungen werden durch die ständige Frage
nach dem »Leben« in Atem gehalten. Die »Erlebnisse« dieses
»Lebens« sucht er nach ihrem Struktur- und Entwicklungszu-
sammenhang aus dem Ganzen dieses Lebens selbst her zu
verste-
hen. Das philosophisch Relevante seiner
»geisteswissenschaft-
lichen Psychologie« ist nicht darin zu suchen, daß sie sich
nicht
mehr an psychischen Elementen und Atomen orientieren und das
Seelenleben nicht mehr zusammenstücken will, vielmehr auf
das
»Ganze des Lebens« und die »Gestalten« zielt – sondern daß
er
bei all dem vor allem unterwegs war zur Frage nach dem
»Leben«. Freilich zeigen sich hier auch am stärksten 47
die Grenzen seiner Problematik und der Begrifflichkeit, in
der sie
sich zum Wort bringen mußte. Diese Grenzen teilen aber mit
Dilthey und Bergson alle von ihnen bestimmten Richtungen des
»Personalismus« und alle Tendenzen auf eine philosophische
Anthropologie. Auch die grundsätzlich radikalere und
durchsich-
tigere phänomenologische Interpretation der Personalität
kommt
nicht in die Dimension der Frage nach dem Sein des Daseins.
Bei
allen Unterschieden des Fragens, der Durchführung und der
welt-
anschaulichen Orientierung stimmen die Interpretationen der
Personalität bei Husserl1 und Scheler im Negativen überein.
Sie
stellen die Frage nach dem »Personsein« selbst nicht mehr.
Schelers Interpretation wählen wir als Beispiel, nicht nur
weil sie
literarisch zugänglich ist2, sondern weil Scheler das
Personsein
ausdrücklich als solches betont und zu bestimmen sucht auf
dem
Wege einer Abgrenzung des spezifischen Seins der Akte gegen-
über allem »Psychischen«. Person darf nach Scheler niemals
als
ein Ding oder eine Substanz gedacht werden, sie »ist
vielmehr die
unmittelbar miterlebte Einheit des Er-lebens -, nicht ein
nur
gedachtes Ding hinter und außer dem unmittelbar Erlebten.«3
Person ist kein dingliches substanzielles Sein. Ferner kann
das
Sein der Person nicht darin aufgehen, ein Subjekt von
Vernunft-
akten einer gewissen Gesetzlichkeit zu sein.
Die Person ist kein Ding, keine Substanz, kein Gegenstand.
Damit ist dasselbe betont, was Husserl4 andeutet, wenn er
für die
Ein-
1 E. Hussels Untersuchungen über die »Personalität« sind
bisher nicht
veröffentlicht. Die grundsätzliche Orientierung der
Problematik zeigt
sich schon in der Abhandlung »Philosophie als strenge
Wissenschaft«,
Logos I (1910) S.
319. Die Untersuchung ist weitgehend gefördert in
dem zweiten Teil der »Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und
phänomenologischen Philosophie« (Husserliana IV), deren
erster Teil
(vgl. dieses Jahrbuch Bd. I [1913] die Problematik des
»reinen
Bewußtseins« darstellt als des Bodens der Erforschung der
Konstitution
jeglicher Realität. Der zweite Teil bringt die ausführenden
Konstitutionsanalysen und behandelt in drei Abschnitten: 1.
Die
Konstitution der materiellen Natur. 2. Die Konstitution der
animalischen Natur. 3. Die Konstitution der geistigen Welt
(die
personalistische Einstellung im Gegensatz zur
naturalistischen). Husserl
beginnt seine Darlegungen mit den Worten: »Dilthey faßte
zwar die
zielgebenden Probleme, die Richtungen der zu leistenden
Arbeit, aber zu
den entscheidenden Problemformulierungen und methodisch
richtigen
Lösungen drang er noch nicht durch«. Seit dieser ersten
Ausarbeitung ist
Husserl den Problemen noch eindringlicher nachgegangen und
hat in
seinen Freiburger Vorlesungen davon wesentliche Stücke
mitgeteilt.
2 Vgl. dieses Jahrbuch Bd. 1,2 (1913) und II (1916), vgl.
bes. S. 242 ff.
3 a. a. O.
II, S. 243.
4 Vgl. Logos I,
a. a. O. 48
heit der Person eine wesentlich andere Konstitution fordert
als
für die der Naturdinge. Was Scheler von der Person sagt,
formu-
liert er auch für die Akte: »Niemals aber ist ein Akt auch
ein
Gegenstand; denn es gehört zum Wesen des Seins von Akten nur
im Vollzug selbst erlebt und in Reflexion gegeben zu sein«.1
Akte
sind etwas Unpsychisches. Zum Wesen der Person gehört, daß
sie
nur existiert im Vollzug der intentionalen Akte, sie ist
also
wesenhaft kein Gegenstand. Jede psychische Objektivierung,
also
jede Fassung der Akte als etwas Psychisches, ist mit Entpersonali-
sierung identisch. Person ist jedenfalls als Vollzieher
intentionaler
Akte gegeben, die durch die Einheit eines Sinnes verbunden
sind.
Psychisches Sein hat also mit Personsein nichts zu tun. Akte
wer-
den vollzogen, Person ist Aktvollzieher. Aber welches ist
der
ontologische Sinn von »vollziehen«, wie ist positiv
ontologisch
die Seinsart der Person zu bestimmen? Aber die kritische
Frage
kann hier nicht stehen bleiben. Die Frage steht nach dem
Sein des
ganzen Menschen, den man als leiblich-seelisch-geistige
Einheit
zu fassen gewohnt ist. Leib, Seele, Geist mögen wiederum
Phä-
nomenbezirke nennen, die in Absicht auf bestimmte Unter-
suchungen für sich thematisch ablösbar sind; in gewissen
Gren-
zen mag ihre ontologische Unbestimmtheit nicht ins Gewicht
fallen. In der Frage nach dem Sein des Menschen aber kann
die-
ses nicht aus den überdies erst wieder noch zu bestimmenden
Seinsarten von Leib, Seele, Geist summativ errechnet werden.
Und selbst für einen in dieser Weise vorgehenden
ontologischen
Versuch müßte eine Idee vom Sein des Ganzen vorausgesetzt
werden. Was aber die grundsätzliche Frage nach dem Sein des
Daseins verbaut oder mißleitet, ist die durchgängige
Orientierung
an der antik-christlichen Anthropologie, über deren unzu-
reichende ontologischen Fundamente auch Personalismus und
Lebensphilosophie hinwegsehen. Die traditionelle
Anthropologie
trägt in sich:
1. Die Definition des Menschen: zùon lÒgon /con in der
Inter-
pretation: animal rationale, vernünftiges Lebewesen. Die
Seinsart
des zùon wird aber hier verstanden im Sinne des
Vorhandenseins
und Vorkommens. Der lÒgoj ist eine höhere Ausstattung, deren
Seinsart ebenso dunkel bleibt wie die des so
zusammengesetzten
Seienden.
2. Der andere Leitfaden für die Bestimmung des Seins und
Wesens des Menschen ist ein theologischer: kap eƒpen Ð qeÒj
poi?swmen ¥nqrwpon kat' e=kÒna ¹met?ran kap kat' Ðmo?wsin,
faci-
amus hominem ad imaginem nostram et similitudinem.2 Die
christlich-theologische
1 a. a. O. S. 246.
2 Genesis I, 26. 49
Anthropologie gewinnt von hier aus unter Mitaufnahme der
antiken Definition eine Auslegung des Seienden, das wir
Mensch
nennen. Aber gleichwie das Sein Gottes ontologisch mit den
Mit-
teln der antiken Ontologie interpretiert wird, so erst recht
das
Sein des ens finitum. Die christliche Definition wurde im
Verlauf
der Neuzeit enttheologisiert. Aber die Idee der
»Transzendenz«,
daß der Mensch etwas sei, das über sich hinauslangt, hat
ihre
Wurzeln in der christlichen Dogmatik, von der man nicht wird
sagen wollen, daß sie das Sein des Menschen je ontologisch
zum
Problem gemacht hätte. Diese Transzendenzidee, wonach der
Mensch mehr ist als ein Verstandeswesen, hat sich in
verschiede-
nen Abwandlungen ausgewirkt. Ihre Herkunft mag an den fol-
genden Zitaten illustriert sein: »His praeclaris dotibus
excelluit
prima hominis conditio, ut ratio, intelligentia, prudentia,
iudi-
cium non modo ad terrenae vitae gubernationem suppeterent,
sed
quibus transcenderet usque ad Deum et aeternam felicitatem«1
»Denn daß der mensch sin ufsehen hat uf Gott und sin wort,
zeigt er klarlich an, daß er nach siner natur etwas Gott
näher
anerborn, etwas mee nachschlägt, etwas zuzugs zu jm hat, das
alles on zwyfel darus flüßt, daß er nach der bildnus Gottes
ge-
schaffen ist.«2
Die für die traditionelle Anthropologie relevanten
Ursprünge,
die griechische Definition und der theologische Leitfaden,
zeigen
an, daß über einer Wesensbestimmung des Seienden »Mensch«
die Frage nach dessen Sein vergessen bleibt, dieses Sein
vielmehr
als »selbstverständlich« im Sinne des Vorhandenseins der
übrigen
geschaffenen Dinge begriffen wird. Diese beiden Leitfäden
ver-
schlingen sich in der neuzeitlichen Anthropologie mit dem
methodischen Ausgang von der res cogitans, dem Bewußtsein,
Erlebniszusammenhang. Sofern aber auch die cogitationes
onto-
logisch unbestimmt bleiben, bzw. wiederum unausdrücklich
»selbstverständlich« als etwas »Gegebenes« genommen werden,
dessen »Sein« keiner Frage untersteht, bleibt die
anthropolo-
gische Problematik in ihren entscheidenden ontologischen
Fun-
damenten unbestimmt.
Dasselbe gilt nicht minder von der »Psychologie«, deren
anthropologische Tendenzen heute unverkennbar sind. Das feh-
lende ontologische Fundament kann auch nicht dadurch ersetzt
werden, daß man Anthropologie und Psychologie in eine allge-
meine Biologie einbaut. In der Ordnung des möglichen
Erfassens
und Auslegens ist die Biologie als »Wissenschaft vom Leben«
in
der Ontologie des Daseins fun-
1 Calvin, Institutio I, 15, § 8.
2 Zwingli, Von der Klarheit des Wortes Gottes. (Deutsche
Schriften I,
56). 50
diert, wenn auch nicht ausschließlich in ihr. Leben ist eine
eigene
Seinsart, aber wesenhaft nur zugänglich im Dasein. Die
Ontolo-
gie des Lebens vollzieht sich auf dem Wege einer privativen
Interpretation; sie bestimmt das, was sein muß, daß so etwas
wie
Nur-noch-leben sein kann. Leben ist weder pures
Vorhandensein,
noch aber auch Dasein. Das Dasein wiederum ist ontologisch
nie
so zu bestimmen, daß man es ansetzt als Leben – (ontologisch
unbestimmt) und als überdies noch etwas anderes.
Mit dem Hinweis auf das Fehlen einer eindeutigen,
ontologisch
zureichend begründeten Antwort auf die Frage nach der
Seinsart
dieses Seienden, das wir selbst sind, in der Anthropologie,
Psy-
chologie und Biologie, ist über die positive Arbeit dieser
Diszipli-
nen kein Urteil gefällt. Andrerseits muß aber immer wieder
zum
Bewußtsein gebracht werden, daß diese ontologischen Funda-
mente nie nachträglich aus dem empirischen Material hypothe-
tisch erschlossen werden können, daß sie vielmehr auch dann
immer schon »da« sind, wenn empirisches Material auch nur
gesammelt wird. Daß die positive Forschung diese Fundamente
nicht sieht und für selbstverständlich hält, ist kein Beweis
dafür,
daß sie nicht zum Grunde liegen und in einem radikaleren
Sinne
problematisch sind, als es je eine These der positiven
Wissen-
schaft sein kann.1
§ 11. Die existenziale Analytik und die Interpretation des
primitiven Daseins. Die Schwierigkeiten der Gewinnung eines
»natürlichen Weltbegriffes«
Die Interpretation des Daseins in seiner Alltäglichkeit ist
aber
nicht identisch mit der Beschreibung einer primitiven
Daseins-
stufe, deren Kenntnis empirisch durch die Anthropologie
vermit-
telt sein kann. Alltäglichkeit deckt sich nicht mit
Primitivität.
Alltäglichkeit ist vielmehr ein Seinsmodus des Daseins auch
dann
und gerade dann, wenn sich das Dasein in einer
hochentwickelten
und differenzierten
1 Aber Erschließung des Apriori ist nicht »aprioristische«
Konstruktion. Durch E. Husserl haben wir wieder den Sinn
aller echten
philosophischen »Empirie« nicht nur verstehen, sondern auch
das
hierfür notwendige Werkzeug handhaben gelernt. Der
»Apriorismus« ist
die Methode jeder wissenschaftlichen Philosophie, die sich
selbst
versteht. Weil er nichts mit Konstruktion zu tun hat,
verlangt die
Aprioriforschung die rechte Bereitung des phänomenalen
Bodens. Der
nächste Horizont, der für die Analytik des Daseins
bereitgestellt werden
muß, liegt in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit. 51
Kultur bewegt. Andrerseits hat auch das primitive Dasein
seine
Möglichkeiten des unalltäglichen Seins, es hat seine
spezifische
Alltäglichkeit. Die Orientierung der Daseinsanalyse am
»Leben
der primitiven Volker« kann positive methodische Bedeutung
haben, sofern »primitive Phänomene« oft weniger verdeckt und
kompliziert sind durch eine schon weitgehende
Selbstauslegung
des betr. Daseins. Primitives Dasein spricht oft direkter
aus einem
ursprünglichen Aufgehen in den »Phänomenen« (im vorphäno-
menologischen Sinne genommen). Die, von uns aus gesehen,
vielleicht unbeholfene und grobe Begrifflichkeit kann
positiv
förderlich sein für eine genuine Heraushebung der
ontologischen
Strukturen der Phänomene.
Aber bislang wird uns die Kenntnis der Primitiven durch die
Ethnologie bereitgestellt. Und diese bewegt sich schon bei
der
ersten »Aufnahme« des Materials, seiner Sichtung und Verarbei-
tung in bestimmten Vorbegriffen und Auslegungen vom mensch-
lichen Dasein überhaupt. Es ist nicht ausgemacht, ob die
Alltags-
psychologie oder gar die wissenschaftliche Psychologie und
Soziologie, die der Ethnologe mitbringt, für eine
angemessene
Zugangsmöglichkeit, Auslegung und Übermittelung der zu
durch-
forschenden Phänomene die wissenschaftliche Gewähr bieten.
Auch hier zeigt sich dieselbe Sachlage wie bei den
vorgenannten
Disziplinen. Ethnologie setzt selbst schon eine zureichende
Analy-
tik des Daseins als Leitfaden voraus. Da aber die positiven
Wis-
senschaften auf die ontologische Arbeit der Philosophie
weder
warten »können« noch sollen, wird sich der Fortgang der For-
schung nicht vollziehen als »Fortschritt«, sondern als
Wiederho-
lung und ontologisch durchsichtigere Reinigung des ontisch
Entdeckten.1
1 Neuerdings hat E. Cassirer das mythische Dasein zum Thema
einer
philosophischen Interpretation gemacht, vgl. »Philosophie
der
symbolischen Formen«. Zweiter Teil: Das mythische Denken.
1925. Der
ethnologischen Forschung werden durch diese Untersuchung
umfassendere Leitfäden zur Verfügung gestellt. Von der
philosophischen
Problematik her gesehen bleibt die Frage, ob die Fundamente
der
Interpretation hinreichend durchsichtig sind, ob
insbesondere die
Architektonik von Kants Kritik d. r. V. und deren
systematischer Gehalt
überhaupt den möglichen Aufriß für eine solche Aufgabe
bieten können,
oder ob es hier nicht eines neuen und ursprünglicheren
Ansatzes bedarf.
Cassirer sieht selbst die Möglichkeit einer solchen Aufgabe,
wie die
Anmerkung S. 16 f. zeigt, wo C. auf die von Husserl
erschlossenen
phänomenologischen Horizonte hinweist. In einer Aussprache,
die der
Verf. gelegentlich eines Vortrags in der Hamburgischen
Ortsgruppe der
Kantgesellschaft im Dezember 1923 über »Aufgaben und Wege
der
phänomenologischen Forschung« mit C. pflegen konnte, zeigte
sich
schon eine Übereinstimmung in der Forderung einer
existenzialen
Analytik, die in dem genannten Vortrag skizziert wurde. 52
So leicht die formale Abgrenzung der ontologischen Problema-
tik gegenüber der ontischen Forschung sein mag, die
Durchfüh-
rung und vor allem der Ansatz einer existenzialen Analytik
des
Daseins bleibt nicht ohne Schwierigkeiten. In ihrer Aufgabe
liegt
ein Desiderat beschlossen, das seit langem die Philosophie
beun-
ruhigt, bei dessen Erfüllung sie aber immer wieder versagt:
die
Ausarbeitung der Idee eines »natürlichen Weltbegriffes«.
Einer
fruchtbringenden Inangriffnahme dieser Aufgabe scheint der
heute verfügbare Reichtum an Kenntnissen der
mannigfaltigsten
und entlegensten Kulturen und Daseinsformen günstig zu sein.
Aber das ist nur Schein. Im Grunde ist solche überreiche
Kenntnis
die Verführung zum Verkennen des eigentlichen Problems. Das
synkretistische Allesvergleichen und Typisieren gibt nicht
schon
von selbst echte Wesenserkenntnis. Die Beherrschbarkeit des
Mannigfaltigen in einer Tafel gewährleistet nicht ein
wirkliches
Verständnis dessen, was da geordnet vorliegt. Das echte
Prinzip
der Ordnung hat seinen eigenen Sachgehalt, der durch das
Ord-
nen nie gefunden, sondern in ihm schon vorausgesetzt wird.
So
bedarf es für die Ordnung von Weltbildern der expliziten
Idee
von Welt überhaupt. Und wenn »Welt« selbst ein Konstitutivum
des Daseins ist, verlangt die begriffliche Ausarbeitung des
Welt-
phänomens eine Einsicht in die Grundstrukturen des Daseins.
Die positiven Charakteristiken und negativen Erwägungen die-
ses Kapitels hatten den Zweck, das Verständnis der Tendenz
und
Fragehaltung der folgenden Interpretation in die rechte Bahn
zu
lenken. Zur Förderung der bestehenden positiven Disziplinen
kann Ontologie nur indirekt beitragen. Sie hat für sich
selbst eine
eigenständige Abzweckung, wenn anders über eine Kenntnis-
nahme von Seiendem hinaus die Frage nach dem Sein der
Stachel
alles wissenschaftlichen Suchens ist.
Zweites Kapitel
Das In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des
Daseins
§ 12. Die Vorzeichnung des In-der-Welt-seins aus der
Orientie-
rung am In-Sein als solchem
In den vorbereitenden Erörterungen (§ 9) brachten wir schon
Seinscharaktere zur Abhebung, die für die weitere
Untersuchung
ein sicheres Licht bieten sollen, die aber selbst zugleich
in dieser
Untersuchung ihre strukturale Konkretion erhalten Dasein ist
Seiendes, das sich in 53
seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält. Damit ist der
for-
male Begriff von Existenz angezeigt. Dasein existiert.
Dasein ist
ferner Seiendes, das je ich selbst bin. Zum existierenden
Dasein
gehört die Jemeinigkeit als Bedingung der Möglichkeit von
Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Dasein existiert je in
einem
dieser Modi, bzw. in der modalen Indifferenz ihrer.
Diese Seinsbestimmungen des Daseins müssen nun aber a priori
auf dem Grunde der Seinsverfassung gesehen und verstanden
werden, die wir das In-der-Welt-sein nennen. Der rechte
Ansatz
der Analytik des Daseins besteht in der Auslegung dieser
Verfas-
sung.
Der zusammengesetzte Ausdruck »In-der-Welt-sein« zeigt
schon in seiner Prägung an, daß mit ihm ein einheitliches
Phäno-
men gemeint ist. Dieser primäre Befund muß im Ganzen gesehen
werden. Die Unauflösbarkeit in zusammenstückbare Bestände
schließt nicht eine Mehrfältigkeit konstitutiver
Strukturmomente
dieser Verfassung aus. Der mit diesem Ausdruck angezeigte
phä-
nomenale Befund gewährt in der Tat eine dreifache Hinblick-
nahme. Wenn wir ihm unter vorgängiger Festhaltung des ganzen
Phänomens nachgehen, lassen sich herausheben:
1. Das »in der Welt«; in bezug auf dieses Moment erwächst
die
Aufgabe, der ontologischen Struktur von »Welt« nachzufragen
und die Idee der Weltlichkeit als solcher zu bestimmen (vgl.
Kap.
3 d. Abschn.).
2. Das Seiende, das je in der Weise des In-der-Welt-seins
ist.
Gesucht wird mit ihm das, dem wir im »Wer?« nachfragen. In
phänomenologischer Aufweisung soll zur Bestimmung kommen,
wer im Modus der durchschnittlichen Alltäglichkeit des Daseins
ist (vgl. Kap. 4 d. Abschn.).
3. Das In-Sein als solches; die ontologische Konstitution
der
Inheit selbst ist herauszustellen (vgl. Kap. 5 d. Abschn.).
Jede
Hebung des einen dieser Verfassungsmomente bedeutet die Mit-
hebung der anderen, das sagt: jeweilig ein Sehen des ganzen
Phä-
nomens. Das In-der-Welt-sein ist zwar eine a priori
notwendige
Verfassung des Daseins, aber längst nicht ausreichend, um
dessen
Sein voll zu bestimmen. Vor der thematischen Einzelanalyse
der
drei herausgehobenen Phänomene soll eine orientierende
Charak-
teristik des zuletzt genannten Verfassungsmomentes versucht
werden.
Was besagt In-Sein? Den Ausdruck ergänzen wir zunächst zu
In-Sein »in der Welt« und sind geneigt, dieses In-Sein zu
verste-
hen als 54
»Sein in...«. Mit diesem Terminus wird die Seinsart eines
Seien-
den genannt, das »in« einem anderen ist wie das Wasser »im«
Glas, das Kleid »im« Schrank. Wir meinen mit dem »in« das
Seinsverhältnis zweier »im« Raum ausgedehnter Seienden
zuein-
ander in Bezug auf ihren Ort in diesem Raum. Wasser und
Glas,
Kleid und Schrank sind beide in gleicher Weise »im« Raum
»an«
einem Ort. Dieses Seinsverhältnis läßt sich erweitern, z.
B.: Die
Bank im Hörsaal, der Hörsaal in der Universität, die
Universität
in der Stadt usw. bis zu: Die Bank »im Weltraum«. Diese
Seien-
den, deren »In«-einandersein so bestimmt werden kann, haben
alle dieselbe Seinsart des Vorhandenseins als »innerhalb«
der
Welt vorkommende Dinge. Das Vorhandensein »in« einem Vor-
handenen, das Mitvorhandensein mit etwas von derselben
Seins-
art im Sinne eines bestimmten Ortsverhältnisses sind
ontologische
Charaktere, die wir kategoriale nennen, solche, die zu
Seiendem
von nicht daseinsmäßiger Seinsart gehören.
In-Sein dagegen meint eine Seinsverfassung des Daseins und
ist
ein Existenzial. Dann kann damit aber nicht gedacht werden
an
das Vorhandensein eines Körperdinges (Menschenleib) »in«
einem vorhandenen Seienden. Das In-Sein meint so wenig ein
räumliches »Ineinander« Vorhandener, als »in« ursprünglich
gar
nicht eine räumliche Beziehung der genannten Art bedeutet1;
»in« stammt von innan-, wohnen, habitare, sich aufhalten;
»an«
bedeutet: ich bin gewohnt, vertraut mit, ich pflege etwas;
es hat
die Bedeutung von colo im Sinne von habito und diligo.
Dieses
Seiende, dem das In-Sein in dieser Bedeutung zugehört, kenn-
zeichneten wir als das Seiende, das ich je selbst bin. Der
Aus-
druck »bin« hängt zusammen mit »bei«; »ich bin« besagt wie-
derum: ich wohne, halte mich auf bei ... der Welt, als dem
so und
so Vertrauten. Sein als Infinitiv des »ich bin«, d. h. als
Existenzial
verstanden, bedeutet wohnen bei..., vertraut sein mit...
In-Sein ist
demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Da-
seins, das die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins
hat.
Das »Sein bei« der Welt, in dem noch näher auszulegenden
Sinne des Aufgehens in der Welt, ist ein im In-Sein
fundiertes
Existenzial. Weil es in diesen Analysen um das Sehen einer
ur-
sprünglichen Seinsstruktur des Daseins geht, deren
phänomena-
lem Gehalt gemäß die Seinsbegriffe artikuliert werden
müssen,
und weil diese Struktur durch die überkommenen ontologischen
Kategorien grundsätzlich nicht
1 Vgl. Jakob Grimm, Kleinere Schriften, Bd. VII, S. 247. 55
faßbar ist, soll auch dieses »Sein bei« noch näher gebracht
wer-
den. Wir wählen wieder den Weg der Abhebung gegen ein onto-
logisch wesenhaft anderes – d. h. kategoriales
Seinsverhältnis, das
wir sprachlich mit denselben Mitteln ausdrücken. Solche
phäno-
menalen Vergegenwärtigungen leicht verwischbarer fundamen-
taler ontologischer Unterschiede müssen ausdrücklich
vollzogen
werden, selbst auf die Gefahr hin, »Selbstverständliches« zu
erör-
tern. Der Stand der ontologischen Analytik zeigt jedoch, daß
wir
diese Selbstverständlichkeiten längst nicht zureichend »im
Griff«
und noch seltener in ihrem Seinssinn ausgelegt haben und
noch
weniger die angemessenen Strukturbegriffe in sicherer
Prägung
besitzen.
Das »Sein bei« der Welt als Existenzial meint nie so etwas
wie
das Beisammen-vorhanden-sein von vorkommenden Dingen. Es
gibt nicht so etwas wie das »Nebeneinander« eines Seienden,
genannt »Dasein«, mit anderem Seienden, genannt »Welt«. Das
Beisammen zweier Vorhandener pflegen wir allerdings
sprachlich
zuweilen z. B. so auszudrücken: »Der Tisch steht ›bei‹ der
Tür«,
»der Stuhl ›berührt‹ die Wand«. Von einem »Berühren« kann
streng genommen nie die Rede sein und zwar nicht deshalb,
weil
am Ende immer bei genauer Nachprüfung sich ein Zwischenraum
zwischen Stuhl und Wand feststellen läßt, sondern weil der
Stuhl
grundsätzlich nicht, und wäre der Zwischenraum gleich Null,
die
Wand berühren kann. Voraussetzung dafür wäre, daß die Wand
»für« den Stuhl begegnen könnte. Seiendes kann ein innerhalb
der Welt vorhandenes Seiendes nur berühren, wenn es von
Hause
aus die Seinsart des In-Seins hat – wenn mit seinem Da-sein
schon
so etwas wie Welt ihm entdeckt ist, aus der her Seiendes in
der
Berührung sich offenbaren kann, um so in seinem
Vorhandensein
zugänglich zu werden. Zwei Seiende, die innerhalb der Welt
vor-
handen und überdies an ihnen selbst weltlos sind, können
sich nie
»berühren«, keines kann »bei« dem andern »sein«. Der Zusatz:
»die überdies weltlos sind«, darf nicht fehlen, weil auch
Seiendes,
das nicht weltlos ist, z. B. das Dasein selbst, »in« der
Welt vor-
handen ist, genauer gesprochen: mit einem gewissen Recht in
gewissen Grenzen als nur Vorhandenes aufgefaßt werden kann.
Hierzu ist ein völliges Absehen von, bzw. Nichtsehen der existen-
zialen Verfassung des In-Seins notwendig Mit dieser
möglichen
Auffassung des »Daseins« als eines Vorhandenen und nur noch
Vorhandenen darf aber nicht eine dem Dasein eigene Weise von
»Vorhandenheit« zusammengeworfen werden. Diese Vorhan-
denheit wird nicht zugänglich im Absehen von den
spezifischen
Daseinsstrukturen, sondern nur im vorherigen Verstehen
ihrer.
Dasein versteht sein eigenstes Sein im 56
Sinne eines gewissen »tatsächlichen Vorhandenseins«.1 Und
doch
ist die »Tatsächlichkeit« der Tatsache des eigenen Daseins
onto-
logisch grundverschieden vom tatsächlichen Vorkommen einer
Gesteinsart. Die Tatsächlichkeit des Faktums Dasein, als
welches
jeweilig jedes Dasein ist, nennen wir seine Faktizität. Die
ver-
wickelte Struktur dieser Seinsbestimmtheit ist selbst als
Problem
nur erst faßbar im Lichte der schon herausgearbeiteten
existenzi-
alen Grundverfassungen des Daseins. Der Begriff der
Faktizität
beschließt in sich: das In-der-Welt-sein eines
»innerweltlichen«
Seienden, so zwar, daß sich dieses Seiende verstehen kann
als in
seinem »Geschick« verhaftet mit dem Sein des Seienden, das
ihm
innerhalb seiner eigenen Welt begegnet.
Zunächst gilt es nur, den ontologischen Unterschied zwischen
dem In-Sein als Existenzial und der »Inwendigkeit« von
Vorhan-
denem untereinander als Kategorie zu sehen. Wenn wir so das
In-
Sein abgrenzen, dann wird damit nicht jede Art von
»Räumlich-
keit« dem Dasein abgesprochen. Im Gegenteil: Das Dasein hat
selbst ein eigenes »Im-Raum-sein«, das aber seinerseits nur
mög-
lich ist auf dem Grunde des In-der-Welt-seins überhaupt. Das
In-
Sein kann daher ontologisch auch nicht durch eine ontische
Cha-
rakteristik verdeutlicht werden, daß man etwa sagt: Das
In-Sein
in einer Welt ist eine geistige Eigenschaft, und die
»Räumlich-
keit« des Menschen ist eine Beschaffenheit seiner
Leiblichkeit, die
immer zugleich durch Körperlichkeit »fundiert« wird. Damit
steht man wieder bei einem Zusammen-vorhanden-sein eines so
beschaffenen Geistdinges mit einem Körperding, und das Sein
des
so zusammengesetzten Seienden als solches bleibt erst recht
dun-
kel. Das Verständnis des In-der-Welt-seins als
Wesensstruktur des
Daseins ermöglicht erst die Einsicht in die existenziale
Räumlich-
keit des Daseins. Sie bewahrt vor einem Nichtsehen bzw.
vorgän-
gigen Wegstreichen dieser Struktur, welches Wegstreichen
nicht
ontologisch, wohl aber »metaphysisch« motiviert ist in der
naiven Meinung, der Mensch sei zunächst ein geistiges Ding,
das
dann nachträglich »in« einen Raum versetzt wird.
Das In-der-Welt-sein des Daseins hat sich mit dessen
Faktizität
je schon in bestimmte Weisen des In-Seins zerstreut oder gar
zer-
splittert. Die Mannigfaltigkeit solcher Weisen des In-Seins
läßt
sich exemplarisch durch folgende Aufzählung anzeigen:
zutunha-
ben mit etwas, herstellen von etwas, bestellen und pflegen
von
etwas, verwenden von etwas, aufgeben und in Verlust geraten
lassen von etwas, unternehmen, durchsetzen, erkunden,
befragen,
betrachten, bespre-
1 Vgl. § 29. 57
chen, bestimmen ... Diese Weisen des In-Seins haben die noch
eingehend zu charakterisierende Seinsart des Besorgens.
Weisen
des Besorgens sind auch die defizienten Modi des
Unterlassens,
Versäumens, Verzichtens, Ausruhens, alle Modi des »Nur noch«
in bezug auf Möglichkeiten des Besorgens. Der Titel
»Besorgen«
hat zunächst seine vorwissenschaftliche Bedeutung und kann
besagen: etwas ausführen, erledigen, »ins Reine bringen«.
Der
Ausdruck kann auch meinen: sich etwas besorgen im Sinne von
»sich etwas verschaffen«. Ferner gebrauchen wir den Ausdruck
auch noch in einer charakteristischen Wendung: ich besorge,
daß
das Unternehmen mißlingt. »Besorgen« meint hier so etwas wie
befürchten. Gegenüber diesen vorwissenschaftlichen,
ontischen
Bedeutungen wird der Ausdruck »Besorgen« in der vorliegenden
Untersuchung als ontologischer Terminus (Existenzial)
gebraucht
als Bezeichnung des Seins eines möglichen In-der-Welt-seins.
Der
Titel ist nicht deshalb gewählt, weil etwa das Dasein
zunächst
und in großem Ausmaß ökonomisch und »praktisch« ist, sondern
weil das Sein des Daseins selbst als Sorge sichtbar gemacht
wer-
den soll. Dieser Ausdruck ist wiederum als ontologischer
Struk-
turbegriff zu fassen (vgl. Kap. 6 d. Abschn.). Der Ausdruck
hat
nichts zu tun mit »Mühsal«, »Trübsinn« und »Lebenssorge«,
die
ontisch in jedem Dasein vorfindlich sind. Dergleichen ist
ontisch
nur möglich ebenso wie »Sorglosigkeit« und »Heiterkeit«,
weil
Dasein ontologisch verstanden Sorge ist. Weil zu Dasein
wesen-
haft das In-der-Welt-sein gehört, ist sein Sein zur Welt
wesenhaft
Besorgen.
Das In-Sein ist nach dem Gesagten keine »Eigenschaft«, die
es
zuweilen hat, zuweilen auch nicht, ohne die es sein könnte
so gut
wie mit ihr. Der Mensch »ist« nicht und hat überdies noch
ein
Seinsverhältnis zur »Welt«, die er sich gelegentlich zulegt.
Dasein
ist nie »zunächst« ein gleichsam in-seins-freies Seiendes,
das zu-
weilen die Laune hat, eine »Beziehung« zur Welt aufzunehmen.
Solches Aufnehmen von Beziehungen zur Welt ist nur möglich,
weil Dasein als In-der-Welt-sein ist, wie es ist. Diese
Seinsverfas-
sung entsteht nicht erst dadurch, daß außer dem Seienden vom
Charakter des Daseins noch anderes Seiendes vorhanden ist
und
mit diesem zusammentrifft. »Zusammentreffen« kann dieses
andere Seiende »mit« dem Dasein nur, sofern es überhaupt
innerhalb einer Welt sich von ihm selbst her zu zeigen
vermag.
Die heute vielgebrauchte Rede »der Mensch hat seine Umwelt«
besagt ontologisch solange nichts, als dieses »Haben« unbe-
stimmt bleibt. Das »Haben« ist seiner Möglichkeit nach
fundiert
in der existenzia- 58
len Verfassung des In-Seins. Als in dieser Weise wesenhaft
Seien-
des kann das Dasein das umweltlich begegnende Seiende aus-
drücklich entdecken, darum wissen, darüber verfügen, die
»Welt« haben. Die ontisch triviale Rede vom »Haben einer
Umwelt« ist ontologisch ein Problem. Es lösen, verlangt
nichts
anderes, als zuvor das Sein des Daseins ontologisch
zureichend
bestimmen. Wenn in der Biologie – vor allem wieder seit K.
E. v.
Baer – von dieser Seinsverfassung Gebrauch gemacht wird,
dann
darf man nicht für den philosophischen Gebrauch derselben
auf
»Biologismus« schließen. Denn auch Biologie kann als
positive
Wissenschaft diese Struktur nie finden und bestimmen – sie
muß
sie voraussetzen und ständig von ihr Gebrauch machen. Die
Struktur selbst kann aber auch als Apriori des thematischen
Gegenstandes der Biologie philosophisch nur expliziert
werden,
wenn sie zuvor als Daseinsstruktur begriffen ist. Aus der
Orien-
tierung an der so begriffenen ontologischen Struktur kann
erst
auf dem Wege der Privation die Seinsverfassung von »Leben«
apriorisch umgrenzt werden. Ontisch sowohl wie ontologisch
hat
das In-der-Welt-sein als Besorgen den Vorrang. In der
Analytik
des Daseins erfährt diese Struktur ihre grundlegende
Interpreta-
tion.
Aber bewegt sich die bisher gegebene Bestimmung dieser
Seins-
verfassung nicht ausschließlich in negativen Aussagen? Wir
hören
immer nur, was dieses angeblich so fundamentale In-Sein
nicht
ist. In der Tat. Aber dieses Vorwalten der negativen
Charakte-
ristik ist kein Zufall. Sie bekundet vielmehr selbst die
Eigentüm-
lichkeit des Phänomens und ist dadurch in einem echten, dem
Phänomen selbst angemessenen Sinne positiv. Der phänomenolo-
gische Aufweis des In-der-Welt-Seins hat den Charakter der
Zurückweisung von Verstellungen und Verdeckungen, weil
dieses
Phänomen immer schon in jedem Dasein in gewisser Weise
selbst
»gesehen« wird. Und das ist so, weil es eine Grundverfassung
des
Daseins ausmacht, mit seinem Sein für sein Seinsverständnis
je
schon erschlossen ist. Das Phänomen ist aber auch zumeist
immer
schon ebenso gründlich mißdeutet oder ontologisch ungenügend
ausgelegt. Allein dieses ›in gewisser Weise Sehen und doch
zumeist Mißdeuten‹ gründet selbst in nichts anderem als in
dieser
Seinsverfassung des Daseins selbst, gemäß derer es sich
selbst –
und d. h. auch sein In-der-Welt-sein – ontologisch zunächst
von
dem Seienden und dessen Sein her versteht, das es selbst
nicht ist,
das ihm aber »innerhalb« seiner Welt begegnet.
Im Dasein selbst und für es ist diese Seinsverfassung immer
schon irgendwie bekannt. Soll sie nun erkannt werden, dann
nimmt das in 59
solcher Aufgabe ausdrückliche Erkennen gerade sich selbst –
als
Welterkennen zur exemplarischen Beziehung der »Seele« zur
Welt. Das Erkennen von Welt (noevn), bzw. das Ansprechen und
Besprechen von »Welt« (lÒgoj) fungiert deshalb als der
primäre
Modus des In-der-Welt-Sems, ohne daß dieses als solches
begrif-
fen wird. Weil nun aber diese Seinsstruktur ontologisch
unzu-
gänglich bleibt, aber doch ontisch erfahren ist als
»Beziehung«
zwischen Seiendem (Welt) und Seiendem (Seele) und weil Sein
zunächst verstanden wird im ontologischen Anhalt am Seienden
als innerweltlichem Seienden, wird versucht, diese Beziehung
zwischen den genannten Seienden auf dem Grunde dieser Seien-
den und im Sinne ihres Seins, d. h. als Vorhandensein zu
begrei-
fen. Das In-der-Welt-sein wird – obzwar vorphänomenologisch
erfahren und gekannt – auf dem Wege einer ontologisch unan-
gemessenen Auslegung unsichtbar. Man kennt die
Daseinsverfas-
sung jetzt nur noch – und zwar als etwas
Selbstverständliches – in
der Prägung durch die unangemessene Auslegung. Dergestalt
wird sie dann zum »evidenten« Ausgangspunkt für die Probleme
der Erkenntnistheorie oder »Metaphysik der Erkenntnis«. Denn
was ist selbstverständlicher, als daß sich ein »Subjekt« auf
ein
»Objekt« bezieht und umgekehrt? Diese »Subjekt-Objekt-Bezie-
hung« muß vorausgesetzt werden. Das bleibt aber eine –
obzwar
in ihrer Faktizität unantastbare – doch gerade deshalb recht
ver-
hängnisvolle Voraussetzung, wenn ihre ontologische
Notwendig-
keit und vor allem ihr ontologischer Sinn im Dunkel gelassen
werden.
Weil das Welterkennen zumeist und ausschließlich das Phäno-
men des In-Seins exemplarisch vertritt und nicht nur für die
Erkenntnistheorie – denn das praktische Verhalten ist
verstanden
als das »nicht«- und »atheoretische« Verhalten –, weil durch
diesen Vorrang des Erkennens das Verständnis seiner
eigensten
Seinsart mißleitet wird, soll das In-der-Welt-sein im
Hinblick auf
das Welterkennen noch schärfer herausgestellt und es selbst
als
existenziale »Modalität« des In-Seins sichtbar gemacht
werden.
§ 13. Die Exemplifizierung des In-Seins an einem fundierten
Modus. Das Welterkennen
Wenn das In-der-Welt-sein eine Grundverfassung des Daseins
ist, darin es sich nicht nur überhaupt, sondern im Modus der
Alltäglichkeit vorzüglich bewegt, dann muß es auch immer
schon
ontisch erfahren sein. Ein totales Verhülltbleiben wäre
unver-
ständlich, zumal 60
das Dasein über ein Seinsverständnis seiner selbst verfügt,
mag es
noch so unbestimmt fungieren. Sobald aber das »Phänomen des
Welterkennens« selbst erfaßt wurde, geriet es auch schon in
eine
»äußerliche«, formale Auslegung. Der Index dafür ist die
heute
noch übliche Ansetzung von Erkennen als einer »Beziehung
zwischen Subjekt und Objekt«, die so viel »Wahrheit« als
Leer-
heit in sich birgt. Subjekt und Objekt decken sich aber
nicht etwa
mit Dasein und Welt.
Selbst wenn es anginge, das In-Sein ontologisch primär aus
dem
erkennenden In-der-Welt-sein zu bestimmen, dann läge auch
darin als erste geforderte Aufgabe die phänomenale Charakte-
ristik des Erkennens als eines Seins in und zur Welt. Wenn
über
dieses Seinsverhältnis reflektiert wird, ist zunächst
gegeben ein
Seiendes, genannt Natur, als das, was erkannt wird. An
diesem
Seienden ist das Erkennen selbst nicht anzutreffen. Wenn es
überhaupt »ist«, dann gehört es einzig dem Seienden zu, das
erkennt. Aber auch an diesem Seienden, dem Menschending, ist
das Erkennen nicht vorhanden. In jedem Falle ist es nicht so
äußerlich feststellbar wie etwa leibliche Eigenschaften.
Sofern
nun das Erkennen diesem Seienden zugehört, aber nicht äußer-
liche Beschaffenheit ist, muß es »innen« sein. Je
eindeutiger man
nun festhält, daß das Erkennen zunächst und eigentlich
»drin-
nen« ist, ja überhaupt nichts von der Seinsart eines
physischen
und psychischen Seienden hat, um so voraussetzungsloser
glaubt
man in der Frage nach dem Wesen der Erkenntnis und der Auf-
klärung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt
vorzuge-
hen. Denn nunmehr erst kann ein Problem entstehen, die Frage
nämlich: wie kommt dieses erkennende Subjekt aus seiner
inne-
ren »Sphäre« hinaus in eine »andere und äußere«, wie kann
das
Erkennen überhaupt einen Gegenstand haben, wie muß der
Gegenstand selbst gedacht werden, damit am Ende das Subjekt
ihn erkennt, ohne daß es den Sprung in eine andere Sphäre zu
wagen braucht? Bei diesem vielfach variierenden Ansatz
unter-
bleibt aber durchgängig die Frage nach der Seinsart dieses
erken-
nenden Subjekts, dessen Seinsweise man doch ständig unausge-
sprochen immer schon im Thema hat, wenn über sein Erkennen
gehandelt wird. Zwar hört man jeweils die Versicherung, das
Innen und die »innere Sphäre« des Subjekts sei gewiß nicht
gedacht wie ein »Kasten« oder ein »Gehäuse«. Was das »Innen«
der Immanenz aber positiv bedeutet, darin das Erkennen
zunächst eingeschlossen ist, und wie der Seinscharakter
dieses
»Innenseins« des Erkennens in der Seinsart des Subjekts
gründet,
darüber herrscht Schweigen. Wie immer aber auch diese Innen-
sphäre ausgelegt werden mag, sofern nur die Frage gestellt
wird,
wie das Erkennen aus ihr »hinaus« ge- 61
lange und eine »Transzendenz« gewinne, kommt an den Tag, daß
man das Erkennen problematisch findet, ohne zuvor geklärt zu
haben, wie und was dieses Erkennen denn überhaupt sei, das
solche Rätsel aufgibt.
In diesem Ansatz bleibt man blind gegenüber dem, was mit der
vorläufigsten Thematisierung des Erkenntnisphänomens schon
unausdrücklich mitgesagt wird: Erkennen ist ein Seinsmodus
des
Daseins als In-der-Welt-sein, es hat seine ontische
Fundierung in
dieser Seinsverfassung. Diesem Hinweis auf den phänomenalen
Befund – Erkennen ist eine Seinsart des In-der-Welt-seins –
möchte man entgegenhalten: mit einer solchen Interpretation
des
Erkennens wird aber doch das Erkenntnisproblem vernichtet;
was soll denn noch gefragt werden, wenn man voraussetzt, das
Erkennen sei schon bei seiner Welt, die es doch erst im
Transzen-
dieren des Subjekts erreichen soll? Davon abgesehen, daß in
der
letztformulierten Frage wieder der phänomenal
unausgewiesene,
konstruktive »Standpunkt« zum Vorschein kommt, welche
Instanz entscheidet denn darüber, ob und in welchem Sinne
ein
Erkenntnisproblem bestehen soll, was anderes als das
Phänomen
des Erkennens selbst und die Seinsart des Erkennenden?
Wenn wir jetzt darnach fragen, was sich an dem phänomenalen
Befund des Erkennens selbst zeigt, dann ist festzuhalten,
daß das
Erkennen selbst vorgängig gründet in einem
Schon-sein-bei-der-
Welt, als welches das Sein von Dasein wesenhaft
konstituiert.
Dieses Schon-sein-bei ist zunächst nicht lediglich ein
starres
Begaffen eines puren Vorhandenen. Das In-der-Welt-sein ist
als
Besorgen von der besorgten Welt benommen. Damit Erkennen
als betrachtendes Bestimmen des Vorhandenen möglich sei,
bedarf es vorgängig einer Defizienz des besorgenden Zu-tun-
habens mit der Welt. Im Sichenthalten von allem Herstellen,
Hantieren u. dgl. legt sich das Besorgen in den jetzt noch
einzig
verbleibenden Modus des In-Seins, in das Nur-noch-verweilen
bei... Auf dem Grunde dieser Seinsart zur Welt, die das
inner
weltlich begegnende Seiende nur noch in seinem puren
Aussehen
(eƒdoj) begegnen läßt, und als Modus dieser Seinsart ist ein
aus-
drückliches Hinsehen auf das so Begegnende möglich. Dieses
Hinsehen ist jeweils eine bestimmte Richtungnahme auf...,
ein
Anvisieren des Vorhandenen. Es entnimmt dem begegnenden
Seienden im Vorhinein einen »Gesichtspunkt«. Solches
Hinsehen
kommt selbst in den Modus eines eigenständigen
Sichaufhaltens
bei dem innerweltlichen Seienden. In sogeartetem
»Aufenthalt« –
als dem Sichenthalten von jeglicher Hantierung und Nutzung –
vollzieht sich das Vernehmen des Vorhande- 62
nen. Das Vernehmen hat die Vollzugsart des Ansprechens und
Besprechens von etwas als etwas. Auf dem Boden dieses Ausle-
gens im weitesten Sinne wird das Vernehmen zum Bestimmen.
Das Vernommene und Bestimmte kann in Sätzen ausgesprochen,
als solches Ausgesagtes behalten und verwahrt werden. Dieses
vernehmende Behalten einer Aussage über... ist selbst eine
Weise
des In-der-Welt-Seins und darf nicht als ein »Vorgang«
interpre-
tiert werden, durch den sich ein Subjekt Vorstellungen von
etwas
beschafft, die als so angeeignete »drinnen« aufbewahrt
bleiben,
bezüglich derer dann gelegentlich die Frage entstehen kann,
wie
sie mit der Wirklichkeit »übereinstimmen«.
Im Sichrichten auf... und Erfassen geht das Dasein nicht
etwa
erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst
verkapselt
ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer
schon
»draußen« bei einem begegnenden Seienden der je schon
entdeck-
ten Welt. Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu
erken-
nenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren
Sphäre,
sondern auch in diesem »Draußen-sein« beim Gegenstand ist
das
Dasein im rechtverstandenen Sinne »drinnen«, d. h. es selbst
ist
es als In-der-Welt-sein, das erkennt. Und wiederum, das
Verneh-
men des Erkannten ist nicht ein Zurückkehren des erfassenden
Hinausgehens mit der gewonnenen Beute in das »Gehäuse« des
Bewußtseins, sondern auch im Vernehmen, Bewahren und Behal-
ten bleibt das erkennende Dasein als Dasein draußen. Im
»bloßen« Wissen um einen Seinszusammenhang des Seienden, im
»nur« Vorstellen seiner, im »lediglich« daran »denken« bin
ich
nicht weniger beim Seienden draußen in der Welt als bei
einem
originären Erfassen. Selbst das Vergessen von etwas, in dem
scheinbar jede Seinsbeziehung zu dem vormals Erkannten
ausge-
löscht ist, muß als eine Modifikation des ursprünglichen
In-Seins
begriffen werden, in gleicher Weise alle Täuschung und jeder
Irrtum.
Der aufgezeigte Fundierungszusammenhang der für das Welt-
erkennen konstitutiven Modi des In-der-Welt-seins macht
deut-
lich: im Erkennen gewinnt das Dasein einen neuen Seinsstand
zu
der im Dasein je schon entdeckten Welt. Diese neue Seinsmög-
lichkeit kann sich eigenständig ausbilden, zur Aufgabe
werden
und als Wissenschaft die Führung übernehmen für das In-der-
Welt-sein. Das Erkennen schafft aber weder allererst ein
»com-
mercium« des Subjekts mit einer Welt, noch entsteht dieses
aus
einer Einwirkung der Welt auf ein Subjekt. Erkennen ist ein
im
In-der-Welt-sein fundierter Modus des Daseins. Daher
verlangt
das In-der-Welt-sein als Grundverfassung eine vorgängige
Inter-
pretation. 63
Drittes Kapitel
Die Weltlichkeit der Welt
§ 14. Die Idee der Weltlichkeit der Welt überhaupt
Das In-der-Welt-sein soll zuerst hinsichtlich des
Strukturmo-
ments »Welt« sichtbar gemacht werden. Die Bewerkstelligung
dieser Aufgabe scheint leicht und so trivial zu sein, daß
man im-
mer noch glaubt, sich ihrer entschlagen zu dürfen. Was kann
es
besagen, »die Welt« als Phänomen beschreiben? Sehen lassen,
was sich an »Seiendem« innerhalb der Welt zeigt. Der erste
Schritt ist dabei eine Aufzählung von solchem, was es »in«
der
Welt gibt: Häuser, Bäume, Menschen, Berge, Gestirne. Wir
kön-
nen das «Aussehen« dieses Seienden abschildern und die Vor-
kommnisse an und mit ihm erzählen. Das bleibt aber
offensicht-
lich ein vorphänomenologisches »Geschäft«, das phänomenolo-
gisch überhaupt nicht relevant sein kann. Die Beschreibung
bleibt
am Seienden haften. Sie ist ontisch. Gesucht wird aber doch
das
Sein. »Phänomen« im phänomenologischen Sinne wurde formal
bestimmt als das, was sich als Sein und Seinsstruktur zeigt.
Die »Welt« phänomenologisch beschreiben wird demnach
besagen: das Sein des innerhalb der Welt vorhandenen
Seienden
aufweisen und begrifflich-kategorial fixieren. Das Seiende
inner-
halb der Welt sind die Dinge, Naturdinge und »wertbehaftete«
Dinge. Deren Dinglichkeit wird Problem; und sofern sich die
Dinglichkeit der letzteren auf der Naturdinglichkeit
aufbaut, ist
das Sein der Naturdinge, die Natur als solche, das primäre
Thema. Der alles fundierende Seinscharakter der Naturdinge,
der
Substanzen, ist die Substanzialität. Was macht ihren ontolo-
gischen Sinn aus? Damit haben wir die Untersuchung in eine
eindeutige Fragerichtung gebracht.
Aber fragen wir hierbei ontologisch nach der »Welt«? Die
gekennzeichnete Problematik ist ohne Zweifel ontologisch.
Allein
wenn ihr selbst die reinste Explikation des Seins der Natur
gelingt, in Anmessung an die Grundaussagen, die in der
mathe-
matischen Naturwissenschaft über dieses Seiende gegeben wer-
den, diese Ontologie trifft nie auf das Phänomen »Welt«.
Natur
ist selbst ein Seiendes, das innerhalb der Welt begegnet und
auf
verschiedenen Wegen und Stufen entdeckbar wird.
Sollen wir uns demnach zuvor an das Seiende halten, bei dem
sich das Dasein zunächst und zumeist aufhält, an die
»wertbehaf-
teten« Dinge? Zeigen nicht sie »eigentlich« die Welt, in der
wir
leben? Viel- 64
leicht zeigen sie in der Tat so etwas wie »Welt«
eindringlicher.
Diese Dinge sind aber doch auch Seiendes »innerhalb« der
Welt.
Weder die ontische Abschilderung des innerweltlichen Seien-
den, noch die ontologische Interpretation des Seins dieses
Seien-
den treffen als solche auf das Phänomen »Welt«. In beiden
Zugangsarten zum »objektiven Sein« ist schon und zwar in
ver-
schiedener Weise »Welt« »vorausgesetzt«.
Kann am Ende »Welt« überhaupt nicht als Bestimmung des
genannten Seienden angesprochen werden? Wir nennen aber
doch dieses Seiende innerweltlich. Ist »Welt« gar ein
Seinscharak-
ter des Daseins? Und hat dann »zunächst« jedes Dasein seine
Welt? Wird so »Welt« nicht etwas »Subjektives«? Wie soll
denn
noch eine »gemeinsame« Welt möglich sein, »in« der wir doch
sind? Und wenn die Frage nach der »Welt« gestellt wird,
welche
Welt ist gemeint? Weder diese noch jene, sondern die
Weltlich-
keit von Welt überhaupt. Auf welchem Wege treffen wir dieses
Phänomen an?
»Weltlichkeit« ist ein ontologischer Begriff und meint die
Struktur eines konstitutiven Momentes des In-der-Welt-seins.
Dieses aber kennen wir als existenziale Bestimmung des
Daseins.
Weltlichkeit ist demnach selbst ein Existenzial. Wenn wir
ontolo-
gisch nach der »Welt« fragen, dann verlassen wir keineswegs
das
thematische Feld der Analytik des Daseins. »Welt« ist
ontolo-
gisch keine Bestimmung des Seienden, das wesenhaft das
Dasein
nicht ist, sondern ein Charakter des Daseins selbst. Das
schließt
nicht aus, daß der Weg der Untersuchung des Phänomens »Welt«
über das innerweltlich Seiende und sein Sein genommen werden
muß. Die Aufgabe einer phänomenologischen »Beschreibung«
der Welt liegt so wenig offen zutage, daß schon ihre
zureichende
Bestimmung wesentliche ontologische Klärungen verlangt.
Aus der durchgeführten Erwägung und häufigen Verwendung
des Wortes »Welt« springt seine Vieldeutigkeit in die Augen.
Die
Entwirrung dieser Vieldeutigkeit kann zu einer Anzeige der
in
den verschiedenen Bedeutungen gemeinten Phänomene und ihres
Zusammenhangs werden.
1. Welt wird als ontischer Begriff verwendet und bedeutet
dann
das All des Seienden, das innerhalb der Welt vorhanden sein
kann.
2. Welt fungiert als ontologischer Terminus und bedeutet das
Sein des unter n. 1 genannten Seienden. Und zwar kann »Welt«
zum Titel der Region werden, die je eine Mannigfaltigkeit
von
Seiendem umspannt; z. B. bedeutet Welt soviel wie in der
Rede
von der »Welt« 65
des Mathematikers die Region der möglichen Gegenstände der
Mathematik.
3. Welt kann wiederum in einem ontischen Sinne verstanden
werden, jetzt aber nicht als das Seiende, das das Dasein
wesen-
haft nicht ist und das innerweltlich begegnen kann, sondern
als
das, »worin« ein faktisches Dasein als dieses »lebt«. Welt
hat
hier eine vorontologisch existenzielle Bedeutung. Hierbei
beste-
hen wieder verschiedene Möglichkeiten: Welt meint die
»öffent-
liche« Wir-Welt oder die »eigene« und nächste (häusliche)
Umwelt.
4. Welt bezeichnet schließlich den ontologisch-existenzialen
Begriff der Weltlichkeit. Die Weltlichkeit selbst ist
modifikabel zu
dem jeweiligen Strukturganzen besonderer »Welten«,
beschließt
aber in sich das Apriori von Weltlichkeit überhaupt. Wir
nehmen
den Ausdruck Welt terminologisch für die unter n. 3 fixierte
Bedeutung in Anspruch. Wird er zuweilen im erstgenannten
Sinne
gebraucht, dann wird diese Bedeutung durch Anführungszeichen
markiert.
Die Abwandlung »weltlich« meint dann terminologisch eine
Seinsart des Daseins und nie eine solche des »in« der Welt
vor-
handenen Seienden. Dieses nennen wir weltzugehörig oder
innerweltlich.
Ein Blick auf die bisherige Ontologie zeigt, daß mit dem
Ver-
fehlen der Daseinsverfassung des In-der-Welt-seins ein Über-
springen des Phänomens der Weltlichkeit zusammengeht. Statt
dessen versucht man die Welt aus dem Sein des Seienden zu
interpretieren, das innerweltlich vorhanden, überdies aber
zunächst gar nicht entdeckt ist, aus der Natur. Natur ist –
onto-
logisch-kategorial verstanden – ein Grenzfall des Seins von
mög-
lichem innerweltlichen Seienden. Das Seiende als Natur kann
das
Dasein nur in einem bestimmten Modus seines
In-der-Welt-seins
entdecken. Dieses Erkennen hat den Charakter einer
bestimmten
Entweltlichung der Welt. »Natur« als der kategoriale
Inbegriff
von Seinsstrukturen eines bestimmten innerweltlich
begegnenden
Seienden vermag nie Weltlichkeit verständlich zu machen.
Aber
auch das Phänomen »Natur« etwa im Sinne des Naturbegriffes
der Romantik ist erst aus dem Weltbegriff, d. h. der
Analytik des
Daseins her ontologisch faßbar.
Im Hinblick auf das Problem einer ontologischen Analyse der
Weltlichkeit der Welt bewegt sich die überlieferte Ontologie
–
wenn sie das Problem überhaupt sieht – in einer Sackgasse.
Ande-
rerseits wird eine Interpretation der Weltlichkeit des
Daseins und
der Möglichkeiten und Arten seiner Verweltlichung zeigen
müssen, warum das Dasein in der Seinsart des Welterkennens
ontisch und ontologisch das 66
Phänomen der Weltlichkeit überspringt. Im Faktum dieses
Über-
springens liegt aber zugleich der Hinweis darauf, daß es
besonde-
rer Vorkehrungen bedarf, um für den Zugang zum Phänomen der
Weltlichkeit den rechten phänomenalen Ausgang zu gewinnen,
der ein Überspringen verhindert.
Die methodische Anweisung hierfür wurde schon gegeben. Das
In-der-Welt-sein und sonach auch die Welt sollen im Horizont
der durchschnittlichen Alltäglichkeit als der nächsten
Seinsart des
Daseins zum Thema der Analytik werden. Dem alltäglichen In-
der-Welt-sein ist nachzugehen, und im phänomenalen Anhalt an
dieses muß so etwas wie Welt in den Blick kommen.
Die nächste Welt des alltäglichen Daseins ist die Umwelt.
Die
Untersuchung nimmt den Gang von diesem existenzialen Charak-
ter des durchschnittlichen In-der-Welt-seins zur Idee von
Welt-
lichkeit überhaupt. Die Weltlichkeit der Umwelt (die Umwelt-
lichkeit) suchen wir im Durchgang durch eine ontologische
Inter-
pretation des nächstbegegnenden inner-umweltlichen Seienden.
Der Ausdruck Umwelt enthält in dem »Um« einen Hinweis auf
Räumlichkeit. Das »Umherum«, das für die Umwelt konstitutiv
ist, hat jedoch keinen primär »räumlichen« Sinn. Der einer
Umwelt unbestreitbar zugehörige Raumcharakter ist vielmehr
erst aus der Struktur der Weltlichkeit aufzuklären. Von hier
aus
wird die in § 12 angezeigte Räumlichkeit des Daseins
phänome-
nal sichtbar. Die Ontologie hat nun aber gerade versucht,
von der
Räumlichkeit aus das Sein der »Welt« als res extensa zu
interpre-
tieren. Die extremste Tendenz zu einer solchen Ontologie der
»Welt« und zwar in der Gegenorientierung an der res
cogitans,
die sich weder ontisch noch ontologisch mit Dasein deckt,
zeigt
sich bei Descartes. Durch die Abgrenzung gegen diese ontolo-
gische Tendenz kann sich die hier versuchte Analyse der
Welt-
lichkeit verdeutlichen. Sie vollzieht sich in drei Etappen:
A. Ana-
lyse der Umweltlichkeit und Weltlichkeit überhaupt. B.
Illustrie-
rende Abhebung der Analyse der Weltlichkeit gegen die
Ontolo-
gie der »Welt« bei Descartes. C. Das Umhafte der Umwelt und
die »Räumlichkeit« des Daseins.
A. Die Analyse der Umweltlichkeit und Weltlichkeit überhaupt
§ 15. Das Sein des in der Umwelt begegnenden Seienden
Der phänomenologische Aufweis des Seins des nächstbegeg-
nenden Seienden bewerkstelligt sich am Leitfaden des
alltäglichen
In-der-Welt-seins, das wir auch den Umgang in der Welt und
mit
dem inner- 67
weltlichen Seienden nennen. Der Umgang hat sich schon
zerstreut
in eine Mannigfaltigkeit von Weisen des Besorgens. Die
nächste
Art des Umganges ist, wie gezeigt wurde, aber nicht das nur
noch
vernehmende Erkennen, sondern das hantierende, gebrauchende
Besorgen, das seine eigene »Erkenntnis« hat. Die
phänomenolo-
gische Frage gilt zunächst dem Sein des in solchem Besorgen
begegnenden Seienden. Zur Sicherung des hier verlangten
Sehens
bedarf es einer methodischen Vorbemerkung.
In der Erschließung und Explikation des Seins ist das
Seiende
jeweils das Vor- und Mitthematische, im eigentlichen Thema
steht das Sein. Im Bezirk der jetzigen Analyse ist als das
vorthe-
matische Seiende das angesetzt, das im umweltlichen Besorgen
sich zeigt. Dieses Seiende ist dabei nicht Gegenstand eines
theore-
tischen »Welt«-Erkennens, es ist das Gebrauchte,
Hergestellte
und dgl. Als so begegnendes Seiendes kommt es vorthematisch
in
den Blick eines »Erkennens«, das als phänomenologisches
primär
auf das Sein sieht und aus dieser Thematisierung des Seins
her
das jeweilig Seiende mitthematisiert. Dies phänomenologische
Auslegen ist demnach kein Erkennen seiender Beschaffenheiten
des Seienden, sondern ein Bestimmen der Struktur seines
Seins.
Als Untersuchung von Sein aber wird es zum eigenständigen
und
ausdrücklichen Vollzug des Seinsverständnisses, das je schon
zu
Dasein gehört und in jedem Umgang mit Seiendem »lebendig«
ist. Das phänomenologisch vorthematische Seiende, hier also
das
Gebrauchte, in Herstellung Befindliche, wird zugänglich in
einem
Sichversetzen in solches Besorgen. Streng genommen ist diese
Rede von einem Sichversetzen irreführend; denn in diese
Seinsart
des besorgenden Umgangs brauchen wir uns nicht erst zu
verset-
zen. Das alltägliche Dasein ist schon immer in dieser Weise,
z.B.:
die Tür öffnend, mache ich Gebrauch von der Klinke. Die
Gewinnung des phänomenologischen Zugangs zu dem so begeg-
nenden Seienden besteht vielmehr in der Abdrängung der sich
andrängenden und mitlaufenden Auslegungstendenzen, die das
Phänomen eines solchen »Besorgens« überhaupt verdecken und
in eins damit erst recht das Seiende, wie es von ihm selbst
her im
Besorgen für es begegnet. Diese verfänglichen Mißgriffe
werden
deutlich, wenn wir jetzt untersuchend fragen: welches
Seiende
soll Vorthema werden und als vorphänomenaler Boden festge-
stellt sein?
Man antwortet: die Dinge. Aber mit dieser selbstverständlichen
Antwort ist der gesuchte vorphänomenale Boden vielleicht
schon
verfehlt. Denn in diesem Ansprechen des Seienden als »Ding«
(res) liegt 68
eine unausdrücklich vorgreifende ontologische
Charakteristik.
Die von solchem Seienden zum Sein weiterfragende Analyse
trifft
auf Dinglichkeit und Realität. Die ontologische Explikation
fin-
det so fortschreitend Seinscharaktere wie Substanzialität,
Materi-
alität, Ausgedehntheit, Nebeneinander... Aber das im
Besorgen
begegnende Seiende ist in diesem Sein auch vorontologisch
zunächst verborgen. Mit der Nennung von Dingen als dem
»zunächst gegebenen« Seienden geht man ontologisch fehl,
obzwar man ontisch etwas anderes meint. Was man eigentlich
meint, bleibt unbestimmt. Oder aber man charakterisiert
diese
»Dinge« als »wertbehaftete« Dinge. Was besagt ontologisch
Wert? Wie ist dieses »Haften« und Behaftetsein kategorial zu
fassen? Von der Dunkelheit dieser Struktur einer
Wertbehaftet-
heit abgesehen, ist der phänomenale Seinscharakter des im
besor-
genden Umgang Begegnenden damit getroffen?
Die Griechen hatten einen angemessenen Terminus für die
»Dinge«: pr£gmata, d. i. das, womit man es im besorgenden
Umgang (pr©xij) zu tun hat. Sie ließen aber ontologisch
gerade
den spezifisch »pragmatischen« Charakter der pr£gmata im
Dunkeln und bestimmten sie »zunächst« als »bloße Dinge«. Wir
nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug. Im
Umgang sind vorfindlich Schreibzeug, Nähzeug, Werk-, Fahr-,
Meßzeug. Die Seinsart von Zeug ist herauszustellen. Das
geschieht am Leitfaden der vorherigen Umgrenzung dessen, was
ein Zeug zu Zeug macht, der Zeughaftigkeit.
Ein Zeug »ist« strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug
gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein
kann,
das es ist. Zeug ist wesenhaft »etwas, um zu... «. Die
verschiede-
nen Weisen des »Um-zu« wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit,
Ver-
wendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit.
In
der Struktur »Um-zu« liegt eine Verweisung von etwas auf
etwas.
Das mit diesem Titel angezeigte Phänomen kann erst in den
fol-
genden Analysen in seiner ontologischen Genesis sichtbar
gemacht werden. Vorläufig gilt es, eine
Verweisungsmannigfal-
tigkeit phänomenal in den Blick zu bekommen. Zeug ist seiner
Zeughaftigkeit entsprechend immer aus der Zugehörigkeit zu
anderem Zeug: Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage,
Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer. Diese »Dinge«
zeigen sich nie zunächst für sich, um dann als Summe von
Rea-
lem ein Zimmer auszufüllen. Das Nächstbegegnende, obzwar
nicht thematisch Erfaßte, ist das Zimmer, und dieses
wiederum
nicht als das »Zwischen den vier Wänden« in einem geomet-
rischen räumlichen Sinne – sondern als Wohnzeug. Aus ihm
her-
aus zeigt sich die »Einrichtung«, in 69
dieser das jeweilige »einzelne« Zeug. Vor diesem ist je
schon eine
Zeugganzheit entdeckt.
Der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang, darin es sich
ein-
zig genuin in seinem Sein zeigen kann, z. B. das Hämmern mit
dem Hammer, erfaßt weder dieses Seiende thematisch als vor-
kommendes Ding, noch weiß etwa gar das Gebrauchen um die
Zeugstruktur als solche. Das Hämmern hat nicht lediglich
noch
ein Wissen um den Zeugcharakter des Hammers, sondern es hat
sich dieses Zeug so zugeeignet, wie es angemessener nicht
mög-
lich ist. In solchem gebrauchenden Umgang unterstellt sich
das
Besorgen dem für das jeweilige Zeug konstitutiven Um-zu; je
weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es
gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu
ihm, um so unverhüllter begegnet es als das, was es ist, als
Zeug.
Das Hämmern selbst entdeckt die spezifische »Handlichkeit«
des
Hammers. Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm
selbst
her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit. Nur weil Zeug
die-
ses »An-sich-sein« hat und nicht lediglich noch vorkommt,
ist es
handlich im weitesten Sinne und verfügbar. Das schärfste
Nur-
noch-hinsehen auf das so und so beschaffene »Aussehen« von
Dingen vermag Zuhandenes nicht zu entdecken. Der nur
»theore-
tisch« hinsehende Blick auf Dinge entbehrt des Verstehens
von
Zuhandenheit. Der gebrauchend-hantierende Umgang ist aber
nicht blind, er hat seine eigene Sichtart, die das Hantieren
führt
und ihm seine spezifische Dinghaftigkeit verleiht. Der
Umgang
mit Zeug unterstellt sich der Verweisungsmannigfaltigkeit
des
»Um-zu«. Die Sicht eines solchen Sichfügens ist die Umsicht.
Das »praktische« Verhalten ist nicht »atheoretisch« im Sinne
der Sichtlosigkeit, und sein Unterschied gegen das
theoretische
Verhalten liegt nicht nur darin, daß hier betrachtet und
dort
gehandelt wird, und daß das Handeln, um nicht blind zu
bleiben,
theoretisches Erkennen anwendet, sondern das Betrachten ist
so
ursprünglich ein Besorgen, wie das Handeln seine Sicht hat.
Das
theoretische Verhalten ist unumsichtiges Nur-hinsehen. Das
Hin-
sehen ist, weil unumsichtig, nicht regellos, seinen Kanon
bildet es
sich in der Methode.
Das Zuhandene ist weder überhaupt theoretisch erfaßt, noch
ist es selbst für die Umsicht zunächst umsichtig thematisch.
Das
Eigentümliche des zunächst Zuhandenen ist es, in seiner
Zuhan-
denheit sich gleichsam zurückzuziehen, um gerade eigentlich
zuhanden zu sein. Das, wobei der alltägliche Umgang sich
zunächst aufhält, sind auch nicht die Werkzeuge selbst,
sondern
das Werk, das jeweilig Herzu- 70
stellende, ist das primär Besorgte und daher auch Zuhandene.
Das Werk trägt die Verweisungsganzheit, innerhalb derer das
Zeug begegnet.
Das herzustellende Werk als das Wozu von Hammer, Hobel,
Nadel hat seinerseits die Seinsart des Zeugs. Der
herzustellende
Schuh ist zum Tragen (Schuhzeug), die verfertigte Uhr zur
Zeit-
ablesung. Das im besorgenden Umgang vornehmlich begegnende
Werk – das in Arbeit befindliche – läßt in seiner ihm
wesenhaft
zugehörigen Verwendbarkeit je schon mitbegegnen das Wozu
seiner Verwendbarkeit. Das bestellte Werk ist seinerseits
nur auf
dem Grunde seines Gebrauchs und des in diesem entdeckten
Verweisungszusammenhanges von Seiendem.
Das herzustellende Werk ist aber nicht allein verwendbar
für...,
das Herstellen selbst ist je ein Verwenden von etwas für
etwas.
Im Werk liegt zugleich die Verweisung auf »Materialien«. Es
ist
angewiesen auf Leder, Faden, Nägel u. dgl. Leder wiederum
ist
hergestellt aus Häuten. Diese sind Tieren abgenommen, die
von
anderen gezüchtet werden. Tiere kommen innerhalb der Welt
auch ohne Züchtung vor, und auch bei dieser stellt sich
dieses
Seiende in gewisser Weise selbst her. In der Umwelt wird
dem-
nach auch Seiendes zugänglich, das an ihm selbst
herstellungsun-
bedürftig, immer schon zuhanden ist. Hammer, Zange, Nagel
verweisen an ihnen selbst auf – sie bestehen aus – Stahl,
Eisen,
Erz, Gestein, Holz. Im gebrauchten Zeug ist durch den
Gebrauch
die »Natur« mitentdeckt, die »Natur« im Lichte der Naturpro-
dukte.
Natur darf aber hier nicht als das nur noch Vorhandene ver-
standen werden – auch nicht als Naturmacht. Der Wald ist
Forst,
der Berg Steinbruch, der Fluß Wasserkraft, der Wind ist Wind
»in den Segeln«. Mit der entdeckten »Umwelt« begegnet die so
entdeckte »Natur«. Von deren Seinsart als zuhandener kann
abgesehen, sie selbst lediglich in ihrer puren Vorhandenheit
ent-
deckt und bestimmt werden. Diesem Naturentdecken bleibt aber
auch die Natur als das, was »webt und strebt«, uns
überfällt, als
Landschaft gefangen nimmt, verborgen. Die Pflanzen des
Botani-
kers sind nicht Blumen am Rain, das geographisch fixierte
»Ent-
springen« eines Flusses ist nicht die »Quelle im Grund«.
Das hergestellte Werk verweist nicht nur auf das Wozu seiner
Verwendbarkeit und das Woraus seines Bestehens, in einfachen
handwerklichen Zuständen liegt in ihm zugleich die
Verweisung
auf den Träger und Benutzer. Das Werk wird ihm auf den Leib
zugeschnitten, 71
er »ist« im Entstehen des Werkes mit dabei. In der
Herstellung
von Dutzendware fehlt diese konstitutive Verweisung
keineswegs;
sie ist nur unbestimmt, zeigt auf Beliebige, den
Durchschnitt. Mit
dem Werk begegnet demnach nicht allein Seiendes, das zuhanden
ist, sondern auch Seiendes von der Seinsart das Daseins, dem
das
Hergestellte in seinem Besorgen zuhanden wird; in eins damit
begegnet die Welt, in der die Träger und Verbraucher leben,
die
zugleich die unsere ist. Das je besorgte Werk ist nicht nur
in der
häuslichen Welt der Werkstatt etwa zuhanden, sondern in der
öffentlichen Welt. Mit dieser ist die Umweltnatur entdeckt
und
jedem zugänglich. In den Wegen, Straßen, Brücken, Gebäuden
ist
durch das Besorgen die Natur in bestimmter Richtung
entdeckt.
Ein gedeckter Bahnsteig trägt dem Unwetter Rechnung, die
öffentlichen Beleuchtungsanlagen der Dunkelheit, d. h. dem
spe-
zifischen Wechsel der An- und Abwesenheit der Tageshelle,
dem
»Stand der Sonne«. In den Uhren ist je einer bestimmten Kon-
stellation im Weltsystem Rechnung getragen. Wenn wir auf die
Uhr sehen, machen wir unausdrücklich Gebrauch vom »Stand
der Sonne«, darnach die amtliche astronomische Regelung der
Zeitmessung ausgeführt wird. Im Gebrauch des zunächst und
unauffällig zuhandenen Uhrzeugs ist die Umweltnatur
mitzuhan-
den. Es gehört zum Wesen der Entdeckungsfunktion des
jeweili-
gen besorgenden Aufgehens in der nächsten Werkwelt, daß je
nach der Art des Aufgehens darin das im Werk, d. h. seinen
kon-
stitutiven Verweisungen, mit beigebrachte innerweltliche
Seiende
in verschiedenen Graden der Ausdrücklichkeit, in
verschiedener
Weite des umsichtigen Vordringens entdeckbar bleibt. Die
Seins-
art dieses Seienden ist die Zuhandenheit. Sie darf jedoch
nicht als
bloßer Auffassungscharakter verstanden werden, als würden
dem
zunächst begegnenden »Seienden« solche »Aspekte« aufgeredet,
als würde ein zunächst an sich vorhandener Weltstoff in
dieser
Weise »subjektiv gefärbt«. Eine so gerichtete Interpretation
über-
sieht, daß hierfür das Seiende zuvor als pures Vorhandenes
ver-
standen und entdeckt sein und in der Folge des entdeckenden
und
aneignenden Umgangs mit der »Welt« Vorrang und Führung
haben müßte. Das widerstreitet aber schon dem ontologischen
Sinn des Erkennens, das wir als fundierten Modus des In-der-
Welt-seins aufgezeigt haben. Dieses dringt erst über das im
Besorgen Zuhandene zur Freilegung des nur noch Vorhandenen
vor. Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung
von Seiendem, wie es »an sich« ist. Aber Zuhandenes »gibt
es«
doch nur auf dem Grunde von Vorhandenem. Folgt aber – diese
These einmal zugestanden – hieraus, daß Zuhandenheit ontolo-
gisch in Vorhandenheit fundiert ist? 72
Aber mag auch in der weiterdringenden ontologischen
Interpre-
tation die Zuhandenheit sich als Seinsart des innerweltlich
zunächst entdeckten Seienden bewähren, mag sogar ihre
Ursprünglichkeit gegenüber der puren Vorhandenheit sich erwei-
sen lassen – ist denn mit dem bislang Explizierten das
Geringste
für das ontologische Verständnis des Weltphänomens gewonnen?
Welt haben wir bei der Interpretation dieses innerweltlich
Seien-
den doch immer schon »vorausgesetzt«. Die Zusammenfügung
dieses Seienden ergibt doch nicht als die Summe so etwas wie
»Welt«. Führt denn überhaupt vom Sein dieses Seienden ein
Weg
zur Aufweisung des Weltphänomens?1
§ 16. Die am innerweltlich Seienden sich meldende
Weltmäßigkeit der Umwelt
Welt ist selbst nicht ein innerweltlich Seiendes, und doch
bestimmt sie dieses Seiende so sehr, daß es nur begegnen und
entdecktes Seiendes in seinem Sein sich zeigen kann, sofern
es
Welt »gibt«. Aber wie »gibt es« Welt? Wenn das Dasein
ontisch
durch das In-der-Welt-sein konstituiert ist und zu seinem
Sein
ebenso wesenhaft ein Seinsverständnis seines Selbst gehört,
mag
es noch so unbestimmt sein, hat es dann nicht ein
Verständnis
von Welt, ein vorontologisches Verständnis, das zwar
expliziter
ontologischer Einsichten entbehrt und entbehren kann? Zeigt
sich
für das besorgende In-der-Welt-sein mit dem innerweltlich
begegnenden Seienden, d. h. dessen Innerweltlichkeit, nicht
so
etwas wie Welt? Kommt dieses Phänomen nicht in einen vorphä-
nomenologischen Blick, steht es nicht schon immer in einem
solchen, ohne eine thematisch ontologische Interpretation zu
fordern? Hat das Dasein selbst im Umkreis seines besorgenden
Aufgehens bei dem zuhandenen Zeug eine Seinsmöglichkeit, in
der ihm mit dem besorgten innerweltlichen Seienden in
gewisser
Weise dessen Weltlichkeit aufleuchtet?
Wenn sich solche Seinsmöglichkeiten des Daseins innerhalb
des
besorgenden Umgangs aufzeigen lassen, dann öffnet sich ein
Weg, dem so aufleuchtenden Phänomen nachzugehen und zu
versuchen, es gleichsam zu »stellen« und auf seine an ihm
sich
zeigenden Strukturen zu befragen.
1 Der Verf. darf bemerken, daß er die Umweltanalyse und
überhaupt
die »Hermeneutik der Faktizität« des Daseins seit dem W. S.
1919/20
wiederholt in seinen Vorlesungen mitgeteilt hat. 73
Zur Alltäglichkeit des In-der-Welt-seins gehören Modi des
Besorgens, die das besorgte Seiende so begegnen lassen, daß
dabei
die Weltmäßigkeit des Innerweltlichen zum Vorschein kommt.
Das nächstzuhandene Seiende kann im Besorgen als unverwend-
bar, als nicht zugerichtet für seine bestimmte Verwendung
ange-
troffen werden. Werkzeug stellt sich als beschädigt heraus,
das
Material als ungeeignet. Zeug ist hierbei in jedem Falle
zuhanden.
Was aber die Unverwendbarkeit entdeckt, ist nicht das hinse-
hende Feststellen von Eigenschaften, sondern die Umsicht des
gebrauchenden Umgangs. In solchem Entdecken der Unverwend-
barkeit fällt das Zeug auf. Das Auffallen gibt das zuhandene
Zeug in einer gewissen Unzuhandenheit. Darin liegt aber: das
Unbrauchbare liegt nur da –, es zeigt sich als Zeugding, das
so
und so aussieht und in seiner Zuhandenheit als so
aussehendes
ständig auch vorhanden war. Die pure Vorhandenheit meldet
sich am Zeug, um sich jedoch wieder in die Zuhandenheit des
Besorgten, d. h. des in der Wiederinstandsetzung
Befindlichen,
zurückzuziehen. Diese Vorhandenheit des Unbrauchbaren ent-
behrt noch nicht schlechthin jeder Zuhandenheit, das so
vorhan-
dene Zeug ist noch nicht ein nur irgendwo vorkommendes Ding.
Die Beschädigung des Zeugs ist noch nicht eine bloße
Dingverän-
derung, ein lediglich vorkommender Wechsel von Eigenschaften
an einem Vorhandenen.
Der besorgende Umgang stößt aber nicht nur auf Unverwend-
bares innerhalb des je schon Zuhandenen, er findet auch
solches,
das fehlt, was nicht nur nicht »handlich«, sondern überhaupt
nicht »zur Hand ist«. Ein Vermissen von dieser Art entdeckt
wieder als Vorfinden eines Unzuhandenen das Zuhandene in
einem gewissen Nurvorhandensein. Das Zuhandene kommt im
Bemerken von Unzuhandenem in den Modus der Aufdringlich-
keit. Je dringlicher das Fehlende gebraucht wird, je
eigentlicher es
in seiner Unzuhandenheit begegnet, um so aufdringlicher wird
das Zuhandene, so zwar, daß es den Charakter der
Zuhandenheit
zu verlieren scheint. Es enthüllt sich als nur noch
Vorhandenes,
das ohne das Fehlende nicht von der Stelle gebracht werden
kann. Das ratlose Davorstehen entdeckt als defizienter Modus
eines Besorgens das Nur-noch-vorhandensein eines Zuhandenen.
Im Umgang mit der besorgten Welt kann Unzuhandenes begeg-
nen nicht nur im Sinne des Unverwendbaren oder des
schlechthin
Fehlenden, sondern als Unzuhandenes, das gerade nicht fehlt
und
nicht unverwendbar ist, das aber dem Besorgen »im Wege
liegt«.
Das, woran das Besorgen sich nicht kehren kann, dafür es
»keine
Zeit« hat, ist Unzuhandenes in der Weise des
Nichthergehörigen,
des Unerledigten. 74
Dieses Unzuhandene stört und macht die Aufsässigkeit des
zunächst und zuvor zu Besorgenden sichtbar. Mit dieser
Aufsäs-
sigkeit kündigt sich in neuer Weise die Vorhandenheit des
Zuhandenen an, als das Sein dessen, das immer noch vorliegt
und
nach Erledigung ruft.
Die Modi der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und
Aufsässigkeit
haben die Funktion, am Zuhandenen den Charakter der Vorhan-
denheit zum Vorschein zu bringen. Dabei wird aber das Zuhan-
dene noch nicht lediglich als Vorhandenes betrachtet und
begafft,
die sich kundgebende Vorhandenheit ist noch gebunden in der
Zuhandenheit des Zeugs. Dieses verhüllt sich noch nicht zu
bloßen Dingen. Das Zeug wird zu »Zeug« im Sinne dessen, was
man abstoßen möchte; in solcher Abstoßtendenz aber zeigt
sich
das Zuhandene als immer noch Zuhandenes in seiner unentweg-
ten Vorhandenheit.
Was soll aber dieser Hinweis auf das modifizierte Begegnen
des
Zuhandenen, darin sich seine Vorhandenheit enthüllt, für die
Aufklärung des Weltphänomens? Auch mit der Analyse dieser
Modifikation stehen wir noch beim Sein des Innerweltlichen,
dem
Weltphänomen sind wir noch nicht näher gekommen. Gefaßt ist
es noch nicht, aber wir haben uns jetzt in die Möglichkeit
gebracht, das Phänomen in den Blick zu bringen.
In der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit
geht
das Zuhandene in gewisser Weise seiner Zuhandenheit
verlustig.
Diese ist aber selbst im Umgang mit dem Zuhandenen, obzwar
unthematisch, verstanden. Sie verschwindet nicht einfach,
son-
dern in der Auffälligkeit des Unverwendbaren verabschiedet
sie
sich gleichsam. Zuhandenheit zeigt sich noch einmal, und
gerade
hierbei zeigt sich auch die Weltmäßigkeit des Zuhandenen.
Die Struktur des Seins von Zuhandenem als Zeug ist durch die
Verweisungen bestimmt. Das eigentümliche und selbstverständ-
liche »An-sich« der nächsten »Dinge« begegnet in dem sie
gebrauchenden und dabei nicht ausdrücklich beachtenden
Besor-
gen, das auf Unbrauchbares stoßen kann. Ein Zeug ist unver-
wendbar – darin liegt: die konstitutive Verweisung des Um-zu
auf
ein Dazu ist gestört. Die Verweisungen selbst sind nicht
betrach-
tet, sondern »da« in dem besorgenden Sichstellen unter sie.
In
einer Störung der Verweisung – in der Unverwendbarkeit
für...
wird aber die Verweisung ausdrücklich. Zwar auch jetzt noch
nicht als ontologische Struktur, sondern ontisch für die
Umsicht,
die sich an der Beschädigung des Werkzeugs stößt. Mit diesem
umsichtigen Wecken der Verweisung auf das jeweilige Dazu
kommt 75
dieses selbst und mit ihm der Werkzusammenhang, die ganze
»Werkstatt«, und zwar als das, worin sich das Besorgen immer
schon aufhält, in die Sicht. Der Zeugzusammenhang leuchtet
auf
nicht als ein noch nie gesehenes, sondern in der Umsicht
ständig
im vorhinein schon gesichtetes Ganzes. Mit diesem Ganzen
aber
meldet sich die Welt.
Imgleichen ist das Fehlen eines Zuhandenen, dessen
alltägliches
Zu-gegensein so selbstverständlich war, daß wir von ihm gar
nicht erst Notiz nahmen, ein Bruch der in der Umsicht
entdeckten
Verweisungszusammenhänge. Die Umsicht stößt ins Leere und
sieht erst jetzt, wofür und womit das Fehlende zuhanden war.
Wiederum meldet sich die Umwelt. Was so aufleuchtet, ist
selbst
kein Zuhandenes unter anderen und erst recht nicht ein
Vorhan-
denes, das das zuhandene Zeug etwa fundiert. Es ist im »Da«
vor
aller Feststellung und Betrachtung. Es ist selbst der
Umsicht
unzugänglich, sofern diese immer auf Seiendes geht, aber es
ist
für die Umsicht je schon erschlossen. »Erschließen« und
»Erschlossenheit« werden im folgenden terminologisch
gebraucht
und bedeuten »aufschließen« – »Aufgeschlossenheit«. »Er-
schließen« meint demnach nie so etwas wie »indirekt durch
einen
Schluß gewinnen«.
Daß die Welt nicht aus dem Zuhandenen »besteht«, zeigt sich
u. a. daran, daß mit dem Aufleuchten der Welt in den
interpre-
tierten Modi des Besorgens eine Entweltlichung des
Zuhandenen
zusammengeht, so daß an ihm das Nur-vorhandensein zum Vor-
schein kommt. Damit im alltäglichen Besorgen der »Umwelt«
das
zuhandene Zeug in seinem »An-sich-sein« soll begegnen
können,
müssen die Verweisungen und Verweisungsganzheiten, darinnen
die Umsicht »aufgeht«, für diese sowohl wie erst recht für
ein
unumsichtiges, »thematisches« Erfassen unthematisch bleiben.
Das Sich-nicht-melden der Welt ist die Bedingung der
Möglich-
keit des Nichtheraustretens des Zuhandenen aus seiner
Unauffäl-
ligkeit. Und darin konstituiert sich die phänomenale
Struktur des
An-sich-seins dieses Seienden.
Die privativen Ausdrücke wie Unauffälligkeit,
Unaufdringlich-
keit, Unaufsässigkeit meinen einen positiven phänomenalen
Cha-
rakter des Seins des zunächst Zuhandenen. Diese »Un« meinen
den Charakter des Ansichhaltens des Zuhandenen, das, was wir
mit dem An-sich-sein im Auge haben, das wir
charakteristischer-
weise aber »zunächst« dem Vorhandenen, als dem thematisch
Feststellbaren, zuschreiben. In der primären und
ausschließlichen
Orientierung am Vorhandenen ist das »An-sich« ontologisch
gar
nicht aufzuklären. Eine Auslegung jedoch muß verlangt
werden,
soll die Rede von »An-sich« eine ontologisch
76
belangvolle sein. Man beruft sich meist ontisch emphatisch
auf
dieses An-sich des Seins und mit phänomenalem Recht. Aber
diese ontische Berufung erfüllt nicht schon den Anspruch der
mit
solcher Berufung vermeintlich gegebenen ontologischen
Aussage.
Die bisherige Analyse macht schon deutlich, daß das
An-sich-sein
des innerweltlichen Seienden nur auf dem Grunde des Weltphä-
nomens ontologisch faßbar wird.
Wenn die Welt aber in gewisser Weise aufleuchten kann, muß
sie überhaupt erschlossen sein. Mit der Zugänglichkeit von
innerweltlichem Zuhandenen für das umsichtige Besorgen ist
je
schon Welt vorerschlossen. Sie ist demnach etwas, »worin«
das
Dasein als Seiendes je schon war, worauf es in jedem
irgendwie
ausdrücklichen Hinkommen immer nur zurückkommen kann.
In-der-Welt-sein besagt nach der bisherigen Interpretation:
das
unthematische, umsichtige Aufgehen in den für die
Zuhandenheit
des Zeugganzen konstitutiven Verweisungen. Das Besorgen ist
je
schon, wie es ist, auf dem Grunde einer Vertrautheit mit
Welt. In
dieser Vertrautheit kann sich das Dasein an das
innerweltlich
Begegnende verlieren und von ihm benommen sein. Was ist es,
womit das Dasein vertraut ist, warum kann die Weltmäßigkeit
des Innerweltlichen aufleuchten? Wie ist näherhin die
Verwei-
sungsganzheit zu verstehen, darin die Umsicht sich »bewegt«,
und deren mögliche Brüche die Vorhandenheit des Seienden
vor-
drängen?
Für die Beantwortung dieser Fragen, die auf eine
Herausarbei-
tung des Phänomens und Problems der Weltlichkeit zielen, ist
eine konkretere Analyse der Strukturen gefordert, in deren
Auf-
bauzusammenhang die gestellten Fragen hineinfragen.
§ 17. Verweisung und Zeichen
Bei der vorläufigen Interpretation der Seinsstruktur des
Zuhan-
denen (der »Zeuge«) wurde das Phänomen der Verweisung sicht-
bar, allerdings so umrißhaft, daß wir zugleich die
Notwendigkeit
betonten, das nur erst angezeigte Phänomen hinsichtlich
seiner
ontologischen Herkunft aufzudecken. Überdies wurde deutlich,
daß Verweisung und Verweisungsganzheit in irgendeinem Sinne
konstitutiv sein werden für die Weltlichkeit selbst. Die
Welt
sahen wir bislang nur aufleuchten in und für bestimmte
Weisen
des umweltlichen Besorgens des Zuhandenen und zwar mit des-
sen Zuhandenheit. Je weiter wir daher im Verständnis des
Seins
des innerweltlichen Seienden vordrin- 77
gen werden, um so breiter und sicherer wird der phänomenale
Boden für die Freilegung des Weltphänomens.
Wir nehmen wieder den Ausgang beim Sein des Zuhandenen
und zwar jetzt in der Absicht, das Phänomen der Verweisung
selbst schärfer zu fassen. Zu diesem Zwecke versuchen wir
eine
ontologische Analyse eines solchen Zeugs, daran sich in
einem
mehrfachen Sinne »Verweisungen« vorfinden lassen.
Dergleichen
»Zeug« finden wir vor in den Zeichen. Mit diesem Wort wird
vielerlei benannt: nicht nur verschiedene Arten von Zeichen,
sondern das Zeichensein für... kann selbst zu einer
universalen
Beziehungsart formalisiert werden, so daß die
Zeichenstruktur
selbst einen ontologischen Leitfaden abgibt für eine
»Charakte-
ristik« alles Seienden überhaupt.
Zeichen sind aber zunächst selbst Zeuge, deren spezifischer
Zeugcharakter im Zeigen besteht. Dergleichen Zeichen sind
Wegmarken, Flursteine, der Sturmball für die Schiffahrt,
Signale,
Fahnen, Trauerzeichen und dergleichen. Das Zeigen kann als
eine
»Art« von Verweisen bestimmt werden. Verweisen ist, extrem
formal genommen, ein Beziehen. Beziehung aber fungiert nicht
als die Gattung für »Arten« von Verweisungen, die sich etwa
zu
Zeichen, Symbol, Ausdruck, Bedeutung differenzieren.
Beziehung
ist eine formale Bestimmung, die auf dem Wege der
»Formalisie-
rung« an jeder Art von Zusammenhängen jeglicher
Sachhaltigkeit
und Seinsweise direkt ablesbar wird1.
Jede Verweisung ist eine Beziehung, aber nicht jede
Beziehung
ist eine Verweisung. Jede »Zeigung« ist eine Verweisung,
aber
nicht jedes Verweisen ist ein Zeigen. Darin liegt zugleich:
jede
»Zeigung« ist eine Beziehung, aber nicht jedes Beziehen ist
ein
Zeigen. Damit tritt der formal-allgemeine Charakter von
Bezie-
hung ans Licht. Für die Untersuchung der Phänomene Verwei-
sung, Zeichen oder gar Bedeutung ist durch eine
Charakteristik
als Beziehung nichts gewonnen. Am Ende muß sogar gezeigt
werden, daß »Beziehung« selbst wegen ihres
formal-allgemeinen
Charakters den ontologischen Ursprung in einer Verweisung
hat.
Wenn die vorliegende Analyse sich auf die Interpretation des
Zeichens im Unterschied vom Verweisungsphänomen beschränkt,
dann kann auch innerhalb dieser Beschränkung nicht die
geschlossene Man-
1 Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie, I. Teil dieses Jahrbuches
Bd. I, §
10 ff.; ferner schon Logische Untersuchungen, Bd. I, Kap.
11. – Für die
Analyse von Zeichen und Bedeutung ebd. Bd. II, I.
Untersuchung. 78
nigfaltigkeit möglicher Zeichen angemessen untersucht
werden.
Unter den Zeichen gibt es Anzeichen, Vor- und Rückzeichen,
Merkzeichen, Kennzeichen, deren Zeigung jeweils verschieden
ist,
ganz abgesehen davon, was je als solches Zeichen dient. Von
diesen »Zeichen« sind zu scheiden: Spur, Überrest, Denkmal,
Dokument, Zeugnis, Symbol, Ausdruck, Erscheinung, Bedeutung.
Diese Phänomene lassen sich auf Grund ihres formalen Bezie-
hungscharakters leicht formalisieren; wir sind heute
besonders
leicht geneigt, am Leitfaden einer solchen »Beziehung« alles
Seiende einer »Interpretation« zu unterwerfen, die immer
»stimmt«, weil sie im Grunde nichts sagt, so wenig wie das
leichthandliche Schema von Form und Inhalt.
Als Exemplar für Zeichen wählen wir ein solches, das in
einer
späteren Analyse in anderer Hinsicht exemplarisch fungieren
soll.
An den Kraftwagen ist neuerdings ein roter, drehbarer Pfeil
an-
gebracht, dessen Stellung jeweils, zum Beispiel an einer
Wegkreu-
zung, zeigt, welchen Weg der Wagen nehmen wird. Die Pfeilstel-
lung wird durch den Wagenführer geregelt. Dieses Zeichen ist
ein
Zeug, das nicht nur im Besorgen (Lenken) des Wagenführers
zuhanden ist. Auch die nicht Mitfahrenden – und gerade sie –
machen von diesem Zeug Gebrauch und zwar in der Weise des
Ausweichens nach der entsprechenden Seite oder des
Stehenblei-
bens. Dieses Zeichen ist innerweltlich zuhanden im Ganzen
des
Zeugzusammenhangs von Verkehrsmitteln und Verkehrsregelun-
gen. Als ein Zeug ist dieses Zeigzeug durch Verweisung
konsti-
tuiert. Es hat den Charakter des Um-zu, seine bestimmte
Dien-
lichkeit, es ist zum Zeigen. Dieses Zeigen des Zeichens kann
als
»verweisen« gefaßt werden. Dabei ist aber zu beachten:
dieses
»Verweisen« als Zeigen ist nicht die ontologische Struktur
des
Zeichens als Zeug.
Das »Verweisen« als Zeigen gründet vielmehr in der Seins-
struktur von Zeug, in der Dienlichkeit zu. Diese macht ein
Seien-
des nicht schon zum Zeichen. Auch das Zeug »Hammer« ist
durch eine Dienlichkeit konstituiert, dadurch aber wird der
Hammer nicht zum Zeichen. Die »Verweisung« Zeigen ist die
ontische Konkretion des Wozu einer Dienlichkeit und bestimmt
ein Zeug zu diesem. Die Verweisung »Dienlichkeit zu« ist
dage-
gen eine ontologisch-kategoriale Bestimmtheit des Zeugs als
Zeug. Daß das Wozu der Dienlichkeit im Zeigen seine Konkre-
tion erhält, ist der Zeugverfassung als solcher zufällig. Im
rohen
wird schon an diesem Beispiel des Zeichens der Unterschied
zwischen Verweisung als Dienlichkeit und Verweisung als
Zeigen
sichtbar. Beide fallen so wenig zusammen, daß sie in ihrer
Einheit
die 79
Konkretion einer bestimmten Zeugart erst ermöglichen. So
gewiß
nun aber das Zeigen vom Verweisen als Zeugverfassung grund-
sätzlich verschieden ist, so unbestreitbar hat doch wieder
das
Zeichen einen eigentümlichen und sogar ausgezeichneten Bezug
zur Seinsart des je umweltlich zuhandenen Zeugganzen und
seiner Weltmäßigkeit. Zeigzeug hat im besorgenden Umgang
eine
vorzügliche Verwendung. Es kann ontologisch jedoch nicht
genügen, dieses Faktum einfach festzustellen. Grund und Sinn
dieses Vorzugs müssen aufgeklärt werden.
Was besagt das Zeigen eines Zeichens? Die Antwort ist nur
dann zu gewinnen, wenn wir die angemessene Umgangsart mit
Zeigzeug bestimmen. Darin muß genuin auch seine Zuhandenheit
faßbar werden. Welches ist das angemessene Zu-tun-haben mit
Zeichen? In der Orientierung an dem genannten Beispiel
(Pfeil)
muß gesagt werden: Das entsprechende Verhalten (Sein) zu dem
begegnenden Zeichen ist das »Ausweichen« oder »Stehenblei-
ben« gegenüber dem ankommenden Wagen, der den Pfeil mit
sich führt. Ausweichen gehört als Einschlagen einer Richtung
wesenhaft zum In-der-Welt-sein des Daseins. Dieses ist immer
irgendwie ausgerichtet und unterwegs; Stehen und Bleiben
sind
nur Grenzfälle dieses ausgerichteten »Unterwegs«. Das
Zeichen
adressiert sich an ein spezifisch »räumliches«
In-der-Welt-sein.
Eigentlich »erfaßt« wird das Zeichen gerade dann nicht, wenn
wir es anstarren, als vorkommendes Zeigding feststellen.
Selbst
wenn wir der Zeigrichtung des Pfeils mit dem Blick folgen
und
auf etwas hinsehen, was innerhalb der Gegend vorhanden ist,
in
die der Pfeil zeigt, auch dann begegnet das Zeichen nicht
eigent-
lich. Es wendet sich an die Umsicht des besorgenden Umgangs,
so
zwar, daß die seiner Weisung folgende Umsicht in solchem
Mit-
gehen das jeweilige Um-hafte der Umwelt in eine
ausdrückliche
»Übersicht« bringt. Das umsichtige Übersehen erfaßt nicht
das
Zuhandene; es gewinnt vielmehr eine Orientierung innerhalb
der
Umwelt. Eine andere Möglichkeit der Zeugerfahrung liegt
darin,
daß der Pfeil als ein zum Wagen gehöriges Zeug begegnet;
dabei
braucht der spezifische Zeugcharakter des Pfeils nicht
entdeckt zu
sein; es kann völlig unbestimmt bleiben, was und wie er
zeigen
soll, und doch ist das Begegnende kein pures Ding.
Dingerfah-
rung verlangt gegenüber dem nächsten Vorfinden einer
vielfach
unbestimmten Zeugmannigfaltigkeit ihre eigene Bestimmtheit.
Zeichen der beschriebenen Art lassen Zuhandenes begegnen,
genauer, einen Zusammenhang desselben so zugänglich werden,
daß der besorgende Umgang sich eine Orientierung gibt und
sichert. Zeichen 80
ist nicht ein Ding, das zu einem anderen Ding in zeigender
Bezie-
hung steht, sondern ein Zeug, das ein Zeugganzes ausdrücklich
in
die Umsicht hebt, so daß sich in eins damit die
Weltmäßigkeit des
Zu-handenen meldet. Im Anzeichen und Vorzeichen »zeigt
sich«,
»was kommt«, aber nicht im Sinne eines nur Vorkommenden,
das zu dem schon Vorhandenen hinzukommt; das »was kommt«
ist solches, darauf wir uns gefaßt machen, bzw. »nicht
gefaßt
waren«, sofern wir uns mit anderem befaßten. Am Rückzeichen
wird umsichtig zugänglich, was sich zugetragen und
abgespielt.
Das Merkzeichen zeigt, »woran« man jeweils ist. Die Zeichen
zeigen primär immer das, »worin« man lebt, wobei das
Besorgen
sich aufhält, welche Bewandtnis es damit hat.
Der eigenartige Zeugcharakter der Zeichen wird an der »Zei-
chenstiftung« noch besonders deutlich. Sie vollzieht sich in
und
aus einer umsichtigen Vorsicht, die der zuhandenen
Möglichkeit
bedarf, jederzeit durch ein Zuhandenes sich die jeweilige
Umwelt
für die Umsicht melden zu lassen. Nun gehört aber zum Sein
des
innerweltlich nächst Zuhandenen der beschriebene Charakter
des
ansichhaltenden Nicht-heraustretens. Daher bedarf der
umsich-
tige Umgang in der Umwelt eines zuhandenen Zeugs, das in
sei-
nem Zeugcharakter das »Werk« des Auffallenlassens von
Zuhandenem übernimmt. Deshalb muß die Herstellung von sol-
chem Zeug (der Zeichen) auf deren Auffälligkeit bedacht
sein.
Man läßt sie aber auch als so auffällige nicht beliebig
vorhanden
sein, sondern sie werden in bestimmter Weise in Absicht auf
leichte Zugänglichkeit »angebracht«.
Die Zeichenstiftung braucht sich aber nicht notwendig so zu
vollziehen, daß ein überhaupt noch nicht zuhandenes Zeug
her-
gestellt wird. Zeichen entstehen auch in dem
Zum-Zeichen-neh-
men eines schon Zuhandenen. In diesem Modus offenbart die
Zeichenstiftung einen noch ursprünglicheren Sinn. Das Zeigen
beschafft nicht nur die umsichtig orientierte Verfügbarkeit
eines
zuhandenen Zeugganzen und der Umwelt überhaupt, das Zei-
chenstiften kann sogar allererst entdecken. Was zum Zeichen
genommen ist, wird durch seine Zuhandenheit erst zugänglich.
Wenn zum Beispiel in der Landbestellung der Südwind als Zei-
chen für Regen »gilt«, dann ist diese »Geltung« oder der an
die-
sem Seienden »haftende Wert« nicht eine Dreingabe zu einem
an
sich schon Vorhandenen, der Luftströmung und einer
bestimmten
geographischen Richtung. Als dieses nur noch Vorkommende,
als
welches es meteorologisch zugänglich sein mag, ist der
Südwind
nie zunächst vorhanden, um dann gelegentlich die Funktion
eines
Vorzeichens zu 81
übernehmen. Vielmehr entdeckt die Umsicht der Landbestellung
in der Weise des Rechnungtragens gerade erst den Südwind in
seinem Sein.
Aber, wird man entgegnen, was zum Zeichen genommen wird,
muß doch zuvor an ihm selbst zugänglich geworden und vor der
Zeichenstiftung erfaßt sein. Gewiß, es muß überhaupt schon
in
irgendeiner Weise vorfindlich sein. Die Frage bleibt nur,
wie in
diesem vorgängigen Begegnen das Seiende entdeckt ist, ob als
pures vorkommendes Ding und nicht vielmehr als
unverstandenes
Zeug, als Zuhandenes, mit dem man bislang »nichts
anzufangen«
wußte, was sich demnach der Umsicht noch verhüllte. Man darf
auch hier wieder nicht die umsichtig noch unentdeckten Zeug-
charaktere von Zuhandenem interpretieren als bloße Dinglich-
keit, vorgegeben für ein Erfassen des nur noch Vorhandenen.
Das Zuhandensein von Zeichen im alltäglichen Umgang und
die zu Zeichen gehörige, in verschiedener Absicht und Weise
herstellbare Auffälligkeit dokumentieren nicht nur die für
das
nächst Zuhandene konstitutive Unauffälligkeit, das Zeichen
selbst entnimmt seine Auffälligkeit der Unauffälligkeit des
in der
Alltäglichkeit »selbstverständlichen« zuhandenen Zeugganzen,
zum Beispiel der bekannte »Knopf im Taschentuch« als Merk-
zeichen. Was er zeigen soll, ist je etwas in der Umsicht der
All-
täglichkeit zu Besorgendes. Dieses Zeichen kann Vieles und
das
Verschiedenartigste zeigen. Der Weite des in solchem Zeichen
Zeigbaren entspricht die Enge der Verständlichkeit und des
Gebrauchs. Nicht nur, daß es als Zeichen meist nur für den
»Stif-
ter« zuhanden ist, es kann diesem selbst unzugänglich
werden, so
daß es eines zweiten Zeichens für die mögliche umsichtige
Ver-
wendbarkeit des ersten bedarf. Damit verliert der als
Zeichen
unverwendbare Knopf nicht seinen Zeichencharakter, sondern
gewinnt die beunruhigende Aufdringlichkeit eines nächst
Zuhan-
denen.
Man könnte versucht sein, die vorzügliche Rolle der Zeichen
im alltäglichen Besorgen für das Weltverständnis selbst an
dem
ausgiebigen »Zeichen«-gebrauch im primitiven Dasein zu il-
lustrieren, etwa an Fetisch und Zauber. Gewiß vollzieht sich
die
solchem Zeichengebrauch zugrundeliegende Zeichenstiftung
nicht in theoretischer Absicht und nicht auf dem Wege
theoreti-
scher Spekulation. Der Zeichengebrauch bleibt völlig
innerhalb
eines »unmittelbaren« In-der-Weltseins. Bei näherem Zusehen
wird aber deutlich, daß die Interpretation von Fetisch und
Zauber am Leitfaden der Idee von Zeichen 82
überhaupt nicht zureicht, um die Art des »Zuhandenseins« des
in
der primitiven Welt begegnenden Seienden zu fassen. Im
Hinblick
auf das Zeichenphänomen ließe sich folgende Interpretation
geben: für den primitiven Menschen fällt das Zeichen mit dem
Gezeigten zusammen. Das Zeichen selbst kann das Gezeigte
ver-
treten nicht nur im Sinne des Ersetzens, sondern so, daß
immer
das Zeichen selbst das Gezeigte ist. Dieses merkwürdige
Zusam-
menfallen des Zeichens mit dem Gezeigten liegt aber nicht
daran,
daß das Zeichending schon eine gewisse »Objektivierung«
erfah-
ren hat, als pures Ding erfahren und mit dem Gezeigten in
die-
selbe Seinsregion des Vorhandenen versetzt wird. Das »Zusam-
menfallen« ist keine Identifizierung zuvor Isolierter,
sondern ein
Noch-nicht-freiwerden des Zeichens vom Bezeichneten. Solcher
Zeichengebrauch geht noch völlig im Sein zum Gezeigten auf,
so
daß sich ein Zeichen als solches überhaupt noch nicht
ablösen
kann. Das Zusammenfallen gründet nicht in einer ersten
Objekti-
vierung, sondern im gänzlichen Fehlen einer solchen. Das
besagt
aber, daß Zeichen überhaupt nicht als Zeug entdeckt sind,
daß
am Ende das innerweltlich »Zuhandene« überhaupt nicht die
Seinsart von Zeug hat. Vielleicht vermag auch dieser
ontologische
Leitfaden (Zuhandenheit und Zeug) nichts auszurichten für
eine
Interpretation der primitiven Welt, erst recht allerdings
nicht die
Ontologie der Dinglichkeit. Wenn aber für primitives Dasein
und
primitive Welt überhaupt ein Seinsverständnis konstitutiv
ist,
dann bedarf es um so dringlicher der Herausarbeitung der
»for-
malen« Idee von Weltlichkeit, bzw. eines Phänomens, das in
der
Weise modifizierbar ist, daß alle ontologischen Aussagen, es
sei
in einem vorgegebenen phänomenalen Zusammenhang etwas
noch nicht das oder nicht mehr das, einen positiven
phänomena-
len Sinn erhalten aus dem, was es nicht ist. Die vorstehende
Interpretation des Zeichens sollte lediglich den
phänomenalen
Anhalt für die Charakteristik der Verweisung bieten. Die
Bezie-
hung zwischen Zeichen und Verweisung ist eine dreifache:
1. Das Zeigen ist als mögliche Konkretion des Wozu einer
Dienlichkeit in der Zeugstruktur überhaupt, im Um-zu
(Verwei-
sung) fundiert.
2. Das Zeigen des Zeichens gehört als Zeugcharakter eines
Zu-
handenen zu einer Zeugganzheit, zu einem Verweisungszusam-
menhang.
3. Das Zeichen ist nicht nur zuhanden mit anderem Zeug, son-
dern in seiner Zuhandenheit wird die Umwelt je für die
Umsicht
ausdrücklich zugänglich. Zeichen ist ein ontisch Zuhandenes,
das
als dieses bestimmte Zeug zugleich als etwas fungiert, was
die
ontologische Struktur der Zuhandenheit, Verweisungsganzheit
und Weltlichkeit anzeigt. Darin ist der Vorzug dieses
Zuhande-
nen innerhalb der umsichtig be- 83
sorgten Umwelt verwurzelt. Die Verweisung selbst kann daher,
soll sie ontologisch das Fundament für Zeichen sein, nicht
selbst
als Zeichen begriffen werden. Verweisung ist nicht die
ontische
Bestimmtheit eines Zuhandenen, wo sie doch Zuhandenheit
selbst konstituiert. In welchem Sinne ist Verweisung die
ontolo-
gische »Voraussetzung« des Zuhandenen, und inwiefern ist sie
als dieses ontologische Fundament zugleich Konstituens der
Weltlichkeit überhaupt?
§ 18. Bewandtnis und Bedeutsamkeit; die Weltlichkeit der
Welt
Zuhandenes begegnet innerweltlich. Das Sein dieses Seienden,
die Zuhandenheit, steht demnach in irgendeinem ontologischen
Bezug zur Welt und Weltlichkeit. Welt ist in allem
Zuhandenen
immer schon »da«. Welt ist vorgängig mit allem Begegnenden
schon, obzwar unthematisch, entdeckt. Sie kann aber auch in
gewissen Weisen des umweltlichen Umgangs aufleuchten. Welt
ist
es, aus der her Zuhandenes zuhanden ist. Wie kann Welt
Zuhan-
denes begegnen lassen? Die bisherige Analyse zeigte: das
inner-
weltlich Begegnende ist für die besorgende Umsicht, das
Rech-
nungtragen, in seinem Sein freigegeben. Was besagt diese
vorgän-
gige Freigabe, und wie ist sie als ontologische Auszeichnung
der
Welt zu verstehen? Vor welche Probleme stellt die Frage nach
der
Weltlichkeit der Welt?
Die Zeugverfassung des Zuhandenen wurde als Verweisung
angezeigt. Wie kann Welt das Seiende dieser Seinsart
hinsichtlich
seines Seins freigeben, warum begegnet dieses Seiende
zuerst? Als
bestimmte Verweisungen nannten wir Dienlichkeit zu, Abträg-
lichkeit, Verwendbarkeit und dergleichen. Das Wozu einer
Dien-
lichkeit und das Wofür einer Verwendbarkeit zeichnen je die
mögliche Konkretion der Verweisung vor. Das »Zeigen« des
Zeichens, das »Hämmern« des Hammers sind aber nicht die
Eigenschaften des Seienden. Sie sind überhaupt keine Eigenschaf-
ten, wenn dieser Titel die ontologische Struktur einer
möglichen
Bestimmtheit von Dingen bezeichnen soll. Zuhandenes hat
allen-
falls Geeignetheiten und Ungeeignetheiten, und seine »Eigen-
schaften« sind in diesen gleichsam noch gebunden wie die
Vorhandenheit als mögliche Seinsart eines Zuhandenen in der
Zuhandenheit. Die Dienlichkeit (Verweisung) aber als
Zeugver-
fassung ist auch keine Geeignetheit eines Seienden, sondern
die
seinsmäßige Bedingung der Möglichkeit dafür, daß es durch
Geeignetheiten bestimmt sein kann. Was soll aber dann
Verwei-
sung besagen? Das Sein des Zuhandenen hat die Struktur der
Verweisung – heißt: es hat an ihm selbst 84
den Charakter der Verwiesenheit. Seiendes ist daraufhin ent-
deckt, daß es als dieses Seiende, das es ist, auf etwas
verwiesen
ist. Es hat mit ihm bei etwas sein Bewenden. Der
Seinscharakter
des Zuhandenen ist die Bewandtnis. In Bewandtnis liegt:
bewen-
den lassen mit etwas bei etwas. Der Bezug des »mit...
bei...« soll
durch den Terminus Verweisung angezeigt werden.
Bewandtnis ist das Sein des innerweltlichen Seienden, darauf
es
je schon zunächst freigegeben ist. Mit ihm als Seiendem hat
es je
eine Bewandtnis. Dieses, daß es eine Bewandtnis hat, ist die
ontologische Bestimmung des Seins dieses Seienden, nicht
eine
ontische Aussage über das Seiende. Das Wobei es die
Bewandtnis
hat, ist das Wozu der Dienlichkeit, das Wofür der
Verwendbar-
keit. Mit dem Wozu der Dienlichkeit kann es wiederum seine
Bewandtnis haben; zum Beispiel mit diesem Zuhandenen, das
wir
deshalb Hammer nennen, hat es die Bewandtnis beim Hämmern,
mit diesem hat es seine Bewandtnis bei Befestigung, mit
dieser bei
Schutz gegen Unwetter; dieser »ist« um-willen des Unterkom-
mens des Daseins, das heißt, um einer Möglichkeit seines
Seins
willen. Welche Bewandtnis es mit einem Zuhandenen hat, das
ist
je aus der Bewandtnisganzheit vorgezeichnet. Die Bewandtnis-
ganzheit, die zum Beispiel das in einer Werkstatt Zuhandene
in
seiner Zuhandenheit konstituiert, ist »früher« als das
einzelne
Zeug, ungleichen die eines Hofes, mit all seinem Gerät und
seinen
Liegenschaften. Die Bewandtnisganzheit selbst aber geht
letztlich
auf ein Wozu zurück, bei dem es keine Bewandtnis mehr hat,
was
selbst nicht Seiendes ist in der Seinsart des Zuhandenen
innerhalb
einer Welt, sondern Seiendes, dessen Sein als
In-der-Welt-sein
bestimmt ist, zu dessen Seinsverfassung Weltlichkeit selbst
gehört. Dieses primäre Wozu ist kein Dazu als mögliches
Wobei
einer Bewandtnis. Das primäre »Wozu« ist ein Worum-willen.
Das »Um-willen« betrifft aber immer das Sein des Daseins,
dem
es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht. Der
ange-
zeigte Zusammenhang, der von der Struktur der Bewandtnis zum
Sein des Daseins selbst führt als dem eigentlichen und
einzigen
Worum-willen, soll fürs erste noch nicht eingehender
verfolgt
werden. Vordem verlangt das »Bewendenlassen« eine so weit
geführte Klärung, daß wir das Phänomen der Weltlichkeit in
die
Bestimmtheit bringen, um bezüglich seiner überhaupt Probleme
stellen zu können.
Bewendenlassen bedeutet ontisch: innerhalb eines faktischen
Besorgens ein Zuhandenes so und so sein lassen, wie es
nunmehr
ist und damit es so ist. Diesen ontischen Sinn des »sein
lassens«
fassen wir 85
grundsätzlich ontologisch. Wir interpretieren damit den Sinn
der
vorgängigen Freigabe des innerweltlich zunächst Zuhandenen.
Vorgängig »sein« lassen besagt nicht, etwas zuvor erst in
sein
Sein bringen und herstellen, sondern je schon »Seiendes« in
seiner
Zuhandenheit entdecken und so als das Seiende dieses Seins
begegnen lassen. Dieses »apriorische« Bewendenlassen ist die
Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Zuhandenes begegnet, so
daß das Dasein, im ontischen Umgang mit so begegnendem Sei-
enden, es im ontischen Sinne dabei bewenden lassen kann. Das
ontologisch verstandene Bewendenlassen dagegen betrifft die
Freigabe jedes Zuhandenen als Zuhandenes, mag es dabei,
ontisch genommen, sein Bewenden haben, oder mag es vielmehr
Seiendes sein, dabei es ontisch gerade nicht sein Bewenden
hat,
das zunächst und zumeist das Besorgte ist, das wir als
entdecktes
Seiendes nicht »sein« lassen, wie es ist, sondern
bearbeiten,
verbessern, zerschlagen.
Das auf Bewandtnis hin freigebende Je-schon-haben-bewenden-
lassen ist ein apriorisches Perfekt, das die Seinsart des
Daseins
selbst charakterisiert. Das ontologisch verstandene
Bewendenlas-
sen ist vorgängige Freigabe des Seienden auf seine
innerumwelt-
liche Zuhandenheit. Aus dem Wobei des Bewendenlassens her
ist
das Womit der Bewandtnis freigegeben. Dem Besorgen begegnet
es als dieses Zuhandene. Sofern sich ihm überhaupt ein
Seiendes
zeigt, das heißt, sofern es in seinem Sein entdeckt ist, ist
es je
schon umweltlich Zuhandenes und gerade nicht »zunächst« nur
erst vorhandener »Weltstoff«.
Bewandtnis selbst als das Sein des Zuhandenen ist je nur
ent-
deckt auf dem Grunde der Vorentdecktheit einer Bewandtnis-
ganzheit. In entdeckter Bewandtnis, das heißt im begegnenden
Zuhandenen, liegt demnach vorentdeckt, was wir die Welt-
mäßigkeit des Zuhandenen nannten. Diese vorentdeckte
Bewandtnisganzheit birgt einen ontolo-gischen Bezug zur Welt
in
sich. Das Bewendenlassen, das Seiendes auf Bewandtnisganzheit
hin freigibt, muß das, woraufhin es freigibt, selbst schon
irgend-
wie erschlossen haben. Dieses, woraufhin umweltlich Zuhande-
nes freigegeben ist, so zwar, daß dieses allererst als
innerwelt-
liches Seiendes zugänglich wird, kann selbst nicht als Seiendes
dieser entdeckten Seinsart begriffen werden. Es ist
wesenhaft
nicht entdeckbar, wenn wir fortan Entdecktheit als Terminus
für
eine Seinsmöglichkeit alles nicht daseinsmäßigen Seienden
fest-
halten.
Was besagt aber nun: das, worauf innerweltlich Seiendes
zunächst freigegeben ist, muß vorgängig erschlossen sein?
Zum
Sein des Daseins gehört Seinsverständnis. Verständnis hat
sein
Sein in einem Verstehen. 86
Wenn dem Dasein wesenhaft die Seinsart des In-der-Welt-seins
zukommt, dann gehört zum wesenhaften Bestand seines
Seinsver-
ständnisses das Verstehen von In-der-Welt-sein. Das
vorgängige
Erschließen dessen, woraufhin die Freigabe des
innerweltlichen
Begegnenden erfolgt, ist nichts anderes als das Verstehen
von
Welt, zu der sich das Dasein als Seiendes schon immer
verhält.
Das vorgängige Bewendenlassen bei ... mit ... gründet in
einem
Verstehen von so etwas wie Bewendenlassen, Wobei der
Bewandtnis, Womit der Bewandtnis. Solches, und was ihm
ferner
zugrunde liegt, wie das Dazu, als wobei es die Bewandtnis
hat,
das Worum-willen, darauf letztlich alles Wozu zurückgeht,
all
das muß in einer gewissen Verständlichkeit vorgängig
erschlossen
sein. Und was ist das, worin Dasein als In-der-Welt-sein
sich
vorontologisch versteht? Im Verstehen des genannten
Bezugszu-
sammenhangs hat sich das Dasein aus einem ausdrücklich oder
unausdrücklich ergriffenen, eigentlichen oder uneigentlichen
Seinkönnen, worumwillen es selbst ist, an ein Um-zu
verwiesen.
Dieses zeichnet ein Dazu vor, als mögliches Wobei eines
Bewen-
denlassens, das strukturmäßig mit etwas bewenden läßt.
Dasein
verweist sich je schon immer aus einem Worum-willen her an
das
Womit einer Bewandtnis, das heißt es läßt je immer schon,
sofern
es ist, Seiendes als Zuhandenes begegnen. Worin das Dasein
sich
vorgängig versteht im Modus des Sichverweisens, das ist das
Woraufhin des vorgängigen Begegnenlassens von Seiendem. Das
Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des
Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis
ist
das Phänomen der Welt. Und die Struktur dessen, woraufhin
das
Dasein sich verweist, ist das, was die Weltlichkeit der Welt
aus-
macht.
Worin Dasein in dieser Weise sich je schon versteht, damit
ist
es ursprünglich vertraut. Diese Vertrautheit mit Welt
verlangt
nicht notwendig eine theoretische Durchsichtigkeit der die
Welt
als Welt konstituierenden Bezüge. Wohl aber gründet die Mög-
lichkeit einer ausdrücklichen ontologisch-existenzialen
Interpreta-
tion dieser Bezüge in der für das Dasein konstitutiven
Weltver-
trautheit, die ihrerseits das Seinsverständnis des Daseins
mit aus-
macht. Diese Möglichkeit kann ausdrücklich ergriffen werden,
sofern sich das Dasein selbst eine ursprüngliche Interpretation
seines Seins und dessen Möglichkeiten oder gar des Sinnes
von
Sein überhaupt zur Aufgabe gestellt hat.
Mit den bisherigen Analysen ist aber nur erst der Horizont
freigelegt, innerhalb dessen so etwas zu suchen ist wie Welt
und
Welt- 87
lichkeit. Für die weitere Betrachtung muß zunächst
deutlicher
gemacht werden, als was der Zusammenhang des Sichverweisens
des Daseins ontologisch gefaßt sein will.
Das im folgenden noch eingehender zu analysierende Verstehen
(vgl. § 31) hält die angezeigten Bezüge in einer vorgängigen
Erschlossenheit. Im vertrauten Sich-darin-halten hält es
sich diese
vor als das, worin sich sein Verweisen bewegt. Das Verstehen
läßt sich in und von diesen Bezügen selbst verweisen. Den
Bezugscharakter dieser Bezüge des Verweisens fassen wir als
bedeuten. In der Vertrautheit mit diesen Bezügen »bedeutet«
das
Dasein ihm selbst, es gibt sich ursprünglich sein Sein und
Sein-
können zu verstehen hinsichtlich seines In-der-Welt-seins.
Das
Worumwillen bedeutet ein Um-zu, dieses ein Dazu, dieses ein
Wobei des Bewendenlassens, dieses ein Womit der Bewandtnis.
Diese Bezüge sind unter sich selbst als ursprüngliche
Ganzheit
verklammert, sie sind, was sie sind, als dieses Be-deuten,
darin
das Dasein ihm selbst vorgängig sein In-der-Welt-sein zu
verste-
hen gibt. Das Bezugsganze dieses Bedeutens nennen wir die
Bedeutsamkeit. Sie ist das, was die Struktur der Welt,
dessen,
worin Dasein als solches je schon ist, ausmacht. Das Dasein
ist in
seiner Vertrautheit mit der Bedeutsamkeit die ontische
Bedingung
der Möglichkeit der Entdeckbarkeit von Seiendem, das in der
Seinsart der Bewandtnis (Zuhandenheit) in einer Welt
begegnet
und sich so in seinem An-sich bekunden kann. Dasein ist als
sol-
ches je dieses, mit seinem Sein ist wesenhaft schon ein
Zusam-
menhang von Zuhandenem entdeckt – Dasein hat sich, sofern es
ist, je schon auf eine begegnende »Welt« angewiesen, zu
seinem
Sein gehört wesenhaft diese Angewiesenheit.
Die Bedeutsamkeit selbst aber, mit der das Dasein je schon
ver-
traut ist, birgt in sich die ontologische Bedingung der
Möglichkeit
dafür, daß das verstehende Dasein als auslegendes so etwas
wie
»Bedeutungen« erschließen kann, die ihrerseits wieder das
mög-
liche Sein von Wort und Sprache fundieren.
Die erschlossene Bedeutsamkeit ist als existenziale
Verfassung
des Daseins, seines In-der-Welt-seins, die ontische
Bedingung der
Möglichkeit der Entdeckbarkeit einer Bewandtnisganzheit.
Wenn wir so das Sein des Zuhandenen (Bewandtnis) und gar
die Weltlichkeit selbst als einen Verweisungszusammenhang
bestimmen, wird dann nicht das »substanzielle Sein« des
inner-
weltlichen Seienden in ein Relationssystem verflüchtigt und,
sofern Relationen immer »Ge- 88
dachtes« sind, das Sein des innerweltlich Seienden in das
»reine
Denken« aufgelöst?
Innerhalb des jetzigen Untersuchungsfeldes sind die
wiederholt
markierten Unterschiede der Strukturen und Dimensionen der
ontologischen Problematik grundsätzlich auseinanderzuhalten:
1.
das Sein des zunächst begegnenden innerweltlichen Seienden
(Zuhandenheit); 2. das Sein des Seienden (Vorhandenheit),
das in
einem eigenständig entdeckenden Durchgang durch das zunächst
begegnende Seiende vorfindlich und bestimmbar wird; 3. das
Sein
der ontischen Bedingung der Möglichkeit der Entdeckbarkeit
von
innerweltlichem Seienden überhaupt, die Weltlichkeit von
Welt.
Das letztgenannte Sein ist eine existenziale Bestimmung des
In-
der-Welt-seins, das heißt des Daseins. Die beiden
vorgenannten
Begriffe von Sein sind Kategorien und betreffen Seiendes von
nicht daseinsartigem Sein. Den Verweisungszusammenhang, der
als Bedeutsamkeit die Weltlichkeit konstituiert, kann man
formal
im Sinne eines Relationssystems fassen. Nur ist zu beachten,
daß
dergleichen Formalisierungen die Phänomene so weit
nivellieren,
daß der eigentliche phänomenale Gehalt verloren geht, zumal
bei
so »einfachen« Bezügen, wie sie die Bedeutsamkeit in sich
birgt.
Diese »Relationen« und »Relate« des Um-zu, des Um-willen,
des
Womit einer Bewandtnis widerstreben ihrem phänomenalen
Gehalt nach jeder mathematischen Funktionalisierung; sie
sind
auch nichts Gedachtes, in einem »Denken« erst Gesetztes,
son-
dern Bezüge, darin besorgende Umsicht als solche je schon
sich
aufhält. Dieses »Relationssystem« als Konstitutivum der
Welt-
lichkeit verflüchtigt das Sein des innerweltlich Zuhandenen
so
wenig, daß auf dem Grunde von Weltlichkeit der Welt dieses
Seiende in seinem »substanziellen« »An-sich« allererst
entdeck-
bar ist. Und erst wenn innerweltliches Seiendes überhaupt
begeg-
nen kann, besteht die Möglichkeit, im Felde dieses Seienden
das
nur noch Vorhandene zugänglich zu machen. Dieses Seiende
kann auf Grund seines Nur-noch-Vorhandenseins hinsichtlich
seiner »Eigenschaften« mathematisch in »Funktionsbegriffen«
bestimmt werden. Funktionsbegriffe dieser Art sind
ontologisch
überhaupt nur möglich mit Bezug auf Seiendes, dessen Sein
den
Charakter reiner Substanzialität hat. Funktionsbegriffe sind
immer nur als formalisierte SubstanzbegrifFe möglich.
Damit die spezifisch ontologische Problematik der
Weltlichkeit
sich noch schärfer abheben kann, soll vor der Weiterführung
der
Analyse die Interpretation der Weltlichkeit an einem
extremen
Gegenfall verdeutlicht werden. 89
B. Die Abhebung der Analyse der Weltlichkeit gegen die
Interpretation der Welt bei Descartes
Des Begriffes der Weltlichkeit und der in diesem Phänomen
beschlossenen Strukturen wird sich die Untersuchung nur
schrittweise versichern können. Weil die Interpretation der
Welt
zunächst bei einem innerweltlich Seienden ansetzt, um dann
das
Phänomen Welt überhaupt nicht mehr in den Blick zu bekom-
men, versuchen wir diesen Ansatz an seiner vielleicht
extremsten
Durchführung ontologisch zu verdeutlichen. Wir geben nicht
nur
eine kurze Darstellung der Grundzüge der Ontologie der
»Welt«
bei Descartes, sondern fragen nach deren Voraussetzungen und
versuchen diese im Lichte des bisher Gewonnenen zu
charakteri-
sieren. Diese Erörterung soll erkennen lassen, auf welchen
grund-
sätzlich undiskutierten ontologischen »Fundamenten« die nach
Descartes kommenden Interpretationen der Welt, die ihm
vorausgehenden erst recht, sich bewegen.
Descartes sieht die ontologische Grundbestimmung der Welt in
der extensio. Sofern Ausdehnung die Räumlichkeit
mitkonstitu-
iert, nach Descartes sogar mit ihr identisch ist,
Räumlichkeit aber
in irgendeinem Sinn für die Welt konstitutiv bleibt, bietet
die
Erörterung der cartesischen Ontologie der »Welt« zugleich
einen
negativen Anhalt für die positive Explikation der
Räumlichkeit
der Umwelt und des Daseins selbst. Wir behandeln
hinsichtlich
der Ontologie Descartes’ ein Dreifaches: 1. Die Bestimmung
der
»Welt« als res extensa (§ 19). 2. Die Fundamente dieser
ontolo-
gischen Bestimmung (§ 20). 3. Die hermeneutische Diskussion
der cartesischen Ontologie der »Welt« (§ 21). Ihre
ausführliche
Begründung erhält die folgende Betrachtung erst durch die
phä-
nomenologische Destruktion des »cogito sum« (vergleiche II.
Teil, 2. Abschnitt).
§ 19. Die Bestimmung der »Welt« als res extensa
Descartes unterscheidet das »ego cogito« von der »res corpo-
rea«. Diese Unterscheidung bestimmt künftig ontologisch die
von
»Natur und Geist«. Dieser Gegensatz mag ontisch in noch so
vielen inhaltlichen Abwandlungen fixiert werden, die
Ungeklärt-
heit seiner ontologischen Fundamente und die der
Gegensatzglie-
der selbst hat ihre nächste Wurzel in der von Descartes
vollzoge-
nen Unterscheidung. Innerhalb welchen Seinsverständnisses
hat
dieser das Sein dieser Seienden bestimmt? Der Titel für das
Sein
eines an ihm selbst Seienden lautet substantia. Der Ausdruck
meint bald das Sein eines als Sub- 90
stanz Seienden, Substanzialität, bald das Seiende selbst,
eine Sub-
stanz. Diese Doppeldeutigkeit von substantia, die schon der
antike Begriff der oÙs?a bei sich führt, ist nicht zufällig.
Die ontologische Bestimmung der res corporea verlangt die
Explikation der Substanz, das heißt der Substanzialität
dieses
Seienden als einer Substanz. Was macht das eigentliche
An-ihm-
selbst-sein der res corporea aus? Wie ist überhaupt eine
Substanz
als solche, das heißt ihre Substanzialität faßbar? Et quidem ex
quolibet
attributo substantia cognoscitur; sed una tamen est
cuiusque
substantiae praecipua proprietas, quae ipsius naturam
essentiamque
constituit, et ad quam aliae omnes referuntur.1
Substanzen werden in ihren »Attributen« zugänglich, und jede
Substanz hat eine ausgezeichnete Eigenschaft, an der das
Wesen
der Substanzialität einer bestimmten Substanz ablesbar wird.
Welches ist die Eigenschaft bezüglich der res corporea?
Nempe
extensio in longum, latum et profundum, substantiae
corporeae
naturam constituit.2 Die Ausdehnung nämlich nach Länge,
Breite
und Tiefe macht das eigentliche Sein der körperlichen
Substanz
aus, die wir »Welt« nennen. Was gibt der extensio diese Aus-
zeichnung? Nam omne aliud quod corpori tribui potest,
extensi-
onem praesupponit.3 Ausdehnung ist die Seinsverfassung des
in
Rede stehenden Seienden, die vor allen anderen
Seinsbestimmun-
gen schon »sein« muß, damit diese »sein« können, was sie
sind.
Ausdehnung muß dem Körperding primär »zugewiesen« werden.
Dementsprechend vollzieht sich der Beweis für die Ausdehnung
und die durch sie charakterisierte Substanzialität der
»Welt« in
der Weise, daß gezeigt wird, wie alle anderen Bestimmtheiten
dieser Substanz, vornehmlich divisio, figura, motus, nur als
modi
der extensio begriffen werden können, daß umgekehrt die
exten-
sio sine figura vel motu verständlich bleibt.
So kann ein Körperding bei Erhaltung seiner Gesamtausdeh-
nung doch vielfach die Verteilung derselben nach den
verschiede-
nen Dimensionen wechseln und sich in mannigfachen Gestalten
als ein und dasselbe Ding darstellen. Atque unum et idem corpus,
retinendo suam
eandem quantitatem, pluribus diversis modis
potest extendi:
nunc scilicet magis secundum longitudinem,
minusque secundum
latitudinem vel profunditatem, ac paulo post
e contra magis
secundum lati-tudinem et minus secundum longi-
tudinem.4
1 Principia I, n.
53, S. 25 (Oeuvres ed. Adam-Tannery,
Vol. VIII).
2 a. a. O.
3 a. a. O.
4 a. a. O.
n. 64, S. 31. 91
Gestalt ist ein modus der extensio, nicht minder die
Bewegung;
denn motus wird nur erfaßt, si de nullo nisi locali
cogitemus ac
de vi a qua excitatur non inquiramus.1 Ist Bewegung eine
seiende
Eigenschaft der res corporea, dann muß sie, um in ihrem Sein
erfahrbar zu werden, aus dem Sein dieses Seienden selbst,
aus der
extensio, das heißt als reiner Ortswechsel begriffen werden.
So
etwas wie »Kraft« trägt zur Bestimmung des Seins dieses
Seien-
den nichts aus. Bestimmungen wie durities (Härte), pondus
(Gewicht), color (Farbe) können aus der Materie weggenommen
werden, sie bleibt doch, was sie ist. Diese Bestimmungen
machen
nicht ihr eigentliches Sein aus, und sofern sie sind,
erweisen sie
sich als Modi der extensio. Descartes versucht das bezüglich
der
»Härte« ausführlich zu zeigen: Nam, quantum ad duritiem,
nihil
aliud de illa
sensus nobis indicat, quam partes durorum corpo-
rum resistere
motui manuum nostrarum, cum in illas incurrunt.
Si enim,
quotiescunque manus nostrae versus aliquam partem
moventur, corpora
omnia ibi existentia recederent eadem celeri-
tate qua illae
accedunt, nullam unquam duritiem sentiremus. Nec
ullo modo potest
intelligi, corpora quae sic recederent, idcirco
naturam corporis
esse amissura; nec proinde ipsa in duritie con-
sistit.2 Härte wird im Tasten erfahren. Was »sagt« uns der
Tast-
sinn über Härte? Die Teile des harten Dinges »widerstehen«
der
Handbewegung, etwa einem Wegschiebenwollen. Würden die
harten, das heißt nichtweichenden Körper dagegen mit
derselben
Geschwindigkeit ihren Ort wechseln, in der sich der
Ortswechsel
der die Körper »anlaufenden« Hand vollzieht, dann käme es
nie
zu einem Berühren, Härte würde nicht erfahren und sonach
auch
nie sein. In keiner Weise ist aber einzusehen, inwiefern
etwa die
in solcher Geschwindigkeit weichenden Körper dadurch etwas
von ihrem Körpersein einbüßen sollten. Behalten sie dieses
auch
bei veränderter Geschwindigkeit, die so etwas wie »Härte«
unmöglich sein läßt, dann gehört diese auch nicht zum Sein
dieser
Seienden. Eademque
ratione ostendi potest, et pondus, et colo-
rem, et alias
omnes eiusmodi qualitates, quae in materia corporea
sentiuntur, ex ea
tolli posse, ipsa integra remanente: unde sequi-
tur, a nulla ex illis eius (sc. extensionis) naturam
dependere3.
Was demnach das Sein der res corporea ausmacht, ist die
exten-
sio, das omnimodo divisibile, figurabile et mobile, das was
sich in
jeder Weise der Teilbarkeit, Gestaltung und Bewegung
verändern
kann, das capax
1 a. a. O. n. 65, S. 32.
2 a. a. O. II, n. 4, S. 42.
3 a. a. O. 92
mutationum, das in all diesen Veränderungen sich durchhält,
remanet. Das, was am Körperding einem solchen ständigen
Verbleib genügt, ist das eigentlich Seiende an ihm, so zwar,
daß
dadurch die Substanzialität dieser Substanz charakterisiert
wird.
§ 20. Die Fundamente der ontologischen Bestimmung der
»Welt«
Die Idee von Sein, darauf die ontologische Charakteristik
der
res extensa zurückgeht, ist die Substanzialität. Per substantiam
nihil aliud
intelligere possumus, quam rem quae ita existit, ut
nulla alia re
indigeat ad existendum. Unter Substanz können wir
nichts anderes verstehen als ein Seiendes, das so ist, daß
es, um zu
sein, keines anderen Seienden bedarf.1 Das Sein einer
»Substanz«
ist durch eine Unbedürftigkeit charakterisiert. Was in
seinem Sein
schlechthin eines anderen Seienden unbedürftig ist, das
genügt im
eigentlichen Sinn der Idee der Substanz – dieses Seiende ist
das
ens perfectissimum. Substantia quae nulla plane re indigeat,
unica
tantum potest intelligi, nempe Deus2. »Gott« ist hier ein
rein
ontologischer Titel, wenn er als ens perfectissimum
verstanden
wird. Zugleich ermöglicht das mit dem Begriff Gott
»selbstver-
ständlich« Mitgemeinte eine ontologische Auslegung des konsti-
tutiven Momentes der Substanzialität, der Unbedürftigkeit.
Alias
vero omnes (res), non nisi ope concursus Dei existere
percipi-
mus.3 Alles Seiende, das nicht Gott ist, bedarf der
Herstellung im
weitesten Sinne und der Erhaltung. Herstellung zu
Vorhandenem,
bzw. Herstellungsunbedürftigkeit machen den Horizont aus,
innerhalb dessen »Sein« verstanden wird. Jedes Seiende, das
nicht
Gott ist, ist ens creatum. Zwischen beiden Seienden besteht
ein
»unendlicher« Unterschied ihres Seins, und doch sprechen wir
das Geschaffene ebenso wie den Schöpfer als Seiende an. Wir
gebrauchen demnach Sein in einer Weite, daß sein Sinn einen
»unendlichen« Unterschied umgreift. So können wir mit gewis-
sem Recht auch geschaffenes Seiendes Substanz nennen. Dieses
Seiende ist zwar relativ zu Gott herstellungs- und
erhaltungsbe-
dürftig, aber innerhalb der Region des geschaffenen
Seienden, der
»Welt« im Sinne des ens creatum, gibt es solches, das
relativ auf
geschöpfliches Herstellen und Erhalten, das des Menschen zum
Beispiel, »unbedürftig ist eines anderen Seienden«.
Dergleichen
Substanzen sind zwei: die res cogitans und die res extensa.
1 a. a. O. n. 51, S. 24.
2 a. a. O. n. 51, S. 24.
3 a. a. O. n. 51, S. 24. 93
Das Sein der Substanz, deren auszeichnende proprietas die
extensio darstellt, wird danach ontologisch grundsätzlich
bestimmbar, wenn der den drei Substanzen, der einen unend-
lichen und den beiden endlichen, »gemeinsame« Sinn von Sein
aufgeklärt ist.
Allein nomen substantiae non convenit Deo et illis
univoce, ut dici
solet in Scholis, hoc est... quae Deo et creaturis
sit communis1. Descartes rührt hiermit an ein Problem, das
die
mittelalterliche Ontologie vielfach beschäftigte, die Frage,
in wel-
cher Weise die Bedeutung von Sein das jeweils angesprochene
Seiende bedeutet. In den Aussagen »Gott ist« und »die Welt
ist«
sagen wir Sein aus. Dieses Wort »ist« kann aber das
jeweilige
Seiende nicht in demselben Sinne (sunwnÚmwj, univoce)
meinen,
wo doch zwischen beiden Seienden ein unendlicher Unterschied
des Seins besteht; wäre das Bedeuten von »ist« ein
einsinniges,
dann würde das Geschaffene als Ungeschaffenes gemeint oder
das
Ungeschaffene zu einem Geschaffenen herabgezogen. »Sein«
fungiert aber auch nicht als bloßer gleicher Name, sondern
in
beiden Fällen wird »Sein« verstanden. Die Scholastik faßt
den
positiven Sinn des Bedeutens von »Sein« als »analoges«
Bedeuten
im Unterschied zum einsinnigen oder nur gleichnamigen. Man
hat im Anschluß an Aristoteles, bei dem wie im Ansatz der
grie-
chischen Ontologie überhaupt das Problem vorgebildet ist,
ver-
schiedene Weisen der Analogie fixiert, wonach sich auch die
»Schulen« in der Auffassung der Bedeutungsfunktion von Sein
unterscheiden. Descartes bleibt hinsichtlich der
ontologischen
Durcharbeitung des Problems weit hinter der Scholastik
zurück2,
ja er weicht der Frage aus. Nulla eius [substantiae] nominis
signi-
ficatio potest distincte intelligi, quae Deo et creaturis
sit commu-
nis.3 Dieses Ausweichen besagt, Descartes läßt den in der
Idee
der Substanzialität beschlossenen Sinn von Sein und den
Charak-
ter der »Allgemeinheit« dieser Bedeutung unerörtert. Dem,
was
Sein selbst besagt, hat zwar auch die mittelalterliche
Ontologie so
wenig nachgefragt wie die antike. Daher ist es nicht
verwunder-
lich, wenn eine Frage wie die nach der Weise des Bedeutens
von
Sein nicht von der Stelle kommt, solange sie auf dem Grunde
eines ungeklärten Sinnes von Sein, den die Bedeutung »aus-
drückt«, erörtert werden will. Der Sinn blieb ungeklärt,
weil man
ihn für »selbstverständlich« hielt.
1 a. a. O. n. 51, S. 24.
2 Vgl. hierzu
Opuscula omnia Thomas de Vio Caietani Cardinalis.
Lugduni 1580,
Tomus III, Tractatus V: de nominum analogia, p. 211-
219.
3 Descartes,
Principia I, n. 51, S. 24. 94
Descartes weicht der ontologischen Frage nach der
Substanzia-
lität nicht nur überhaupt aus, er betont ausdrücklich, die
Sub-
stanz als solche, das heißt ihre Substanzialität, sei
vorgängig an
ihr selbst für sich unzugänglich. Verumtamen non potest
substan-
tia primum animadverti ex hoc solo, quod sit existens, quia
hoc
solum per se nos non afficit1. Das »Sein« selbst »affiziert«
uns
nicht, deshalb kann es nicht vernommen werden. »Sein ist
kein
reales Prädikat« nach dem Ausspruch Kants, der nur den Satz
Descartes’ wiedergibt. Damit wird grundsätzlich auf die Mög-
lichkeit einer reinen Problematik des Seins verzichtet und
ein
Ausweg gesucht, auf dem dann die gekennzeichneten Bestim-
mungen der Substanzen gewonnen werden. Weil »Sein« in der
Tat nicht als Seiendes zugänglich ist, wird Sein durch
seiende
Bestimmtheiten des betreffenden Seienden, Attribute, ausge-
drückt. Aber nicht durch beliebige, sondern durch
diejenigen, die
dem unausdrücklich doch vorausgesetzten Sinn von Sein und
Substanzialität am reinsten genügen. In der substantia
finita als
res corporea ist die primär notwendige »Zuweisung« die
exten-
sio. Quin et
facilius intelligimus substantiam extensam, vel sub-
stantiam
cogitantem, quam sub-stantiam solam, omisso eo quod
cogitet vel sit extensa2; denn die Substanzialität ist
ratione
tantum, nicht realiter ablösbar und vorfindlich wie das
substan-
ziell Seiende selbst.
So sind die ontologischen Grundlagen der Bestimmung der
»Welt« als res extensa deutlich geworden: die in ihrem
Seins-sinn
nicht nur ungeklärte, sondern für unaufklärbar ausgegebene
Idee
von Substanzialität, dargestellt auf dem Umweg über die
vorzüg-
lichste substanzielle Eigenschaft der jeweiligen Substanz.
In der
Bestimmung der Substanz durch ein substanzielles Seiendes
liegt
nun auch der Grund für die Doppeldeutigkeit des Terminus.
Intendiert ist die Substanzialität und verstanden wird sie
aus einer
seienden Beschaffenheit der Substanz. Weil dem Ontologischen
Ontisches unterlegt wird, fungiert der Ausdruck substantia
bald
in ontologischer, bald in ontischer, zumeist aber in
verschwim-
mender ontisch-ontologischer Bedeutung. Hinter diesem
gering-
fügigen Unterschied der Bedeutung verbirgt sich aber die
Unbe-
wältigung des grundsätzlichen Seinsproblems. Seine
Bearbeitung
verlangt, in der rechten Weise den Äquivokationen
»nachzuspü-
ren«; wer so etwas versucht, »beschäftigt sich« nicht mit
»bloßen
Wortbedeutungen«, sondern muß sich in die ursprünglichste
Pro-
1 a. a. O. n. 52, S. 25.
2 a. a. O. n. 63, S. 31. 95
blematik der »Sachen selbst« vorwagen, um solche »Nuancen«
ins Reine zu bringen.
§ 21. Die hermeneutische Diskussion der cartesischen
Ontotogie
der »Welt«
Die kritische Frage erhebt sich: sucht diese Ontologie der
»Welt« überhaupt nach dem Phänomen der Welt, wenn nicht,
bestimmt sie zum mindesten ein innerweltliches Seiendes so
weit,
daß an ihm seine Weltmäßigkeit sichtbar gemacht werden kann?
Beide Fragen sind zu verneinen. Das Seiende, das Descartes
mit
der extensio ontologisch grundsätzlich zu fassen versucht,
ist
vielmehr ein solches, das allererst im Durchgang durch ein
zunächst zuhandenes innerweltliches Seiendes entdeckbar
wird.
Aber mag das zutreffen, und mag selbst die ontologische
Charak-
teristik dieses bestimmten innerweltlichen Seienden (Natur)
–
sowohl die Idee der Substanzialität wie der Sinn des in ihre
Defi-
nition aufgenommenen existit und ad existendum – ins Dunkel
führen, es besteht doch die Möglichkeit, daß durch eine
Ontolo-
gie, die auf der radikalen Scheidung von Gott, Ich, »Welt«
grün-
det, das ontologische Problem der Welt in irgendeinem Sinne
gestellt und gefördert wird. Wenn aber selbst diese
Möglichkeit
nicht besteht, dann muß der ausdrückliche Nachweis erbracht
werden, daß Descartes nicht etwa nur eine ontologische
Fehlbe-
stimmung der Welt gibt, sondern daß seine Interpretation und
deren Fundamente dazu führten, das Phänomen der Welt sowohl
wie das Sein des zunächst zuhandenen innerweltlichen
Seienden
zu überspringen.
Bei der Exposition des Problems der Weltlichkeit (§ 14)
wurde
auf die Tragweite der Gewinnung eines angemessenen Zugangs
zu diesem Phänomen hingewiesen. In der kritischen Erörterung
des cartesischen Ansatzes werden wir demnach zu fragen
haben:
welche Seinsart des Daseins wird als die angemessene
Zugangsart
zu dem Seienden fixiert, mit dessen Sein als extensio
Descartes
das Sein der »Welt« gleichsetzt? Der einzige und echte
Zugang zu
diesem Seienden ist das Erkennen, die intellectio, und zwar
im
Sinne der mathematisch-physikalischen Erkenntnis. Die mathe-
matische Erkenntnis gilt als diejenige Erfassungsart von
Seien-
dem, die der sicheren Habe des Seins des in ihr erfaßten
Seienden
jederzeit gewiß sein kann. Was seiner Seinsart nach so ist,
daß es
dem Sein genügt, das in der mathematischen Erkenntnis
zugäng-
lich wird, ist im eigentlichen Sinne. Dieses Seiende ist das,
was
immer ist, was es ist; daher macht am erfahrenen Seien- 96
den der Welt das sein eigentliches Sein aus, von dem gezeigt
wer-
den kann, daß es den Charakter des ständigen Verbleibs hat,
als
remanens capax
mutationum. Eigentlich ist das immerwährend
Bleibende. Solches erkennt die Mathematik. Was durch sie am
Seienden zugänglich ist, macht dessen Sein aus. So wird aus
einer
bestimmten Idee von Sein, die im Begriff der Substanzialität
ein-
gehüllt liegt, und aus der Idee einer Erkenntnis, die so Seiendes
erkennt, der »Welt« ihr Sein gleichsam zudiktiert. Descartes
läßt
sich nicht die Seinsart des innerweltlichen Seienden von
diesem
vorgeben, sondern auf dem Grunde einer in ihrem Ursprung
unenthüllten, in ihrem Recht unausgewiesenen Seinsidee (Sein
=
ständige Vorhandenheit) schreibt er der Welt gleichsam ihr
»eigentliches« Sein vor. Es ist also nicht primär die
Anlehnung an
eine zufällig besonders geschätzte Wissenschaft, die
Mathematik,
was die Ontologie der Welt bestimmt, sondern die grundsätzlich
ontologische Orientierung am Sein als ständiger
Vorhandenheit,
dessen Erfassung mathematische Erkenntnis in einem ausneh-
menden Sinne genügt. Descartes vollzieht so philosophisch
aus-
drücklich die Umschaltung der Auswirkung der traditionellen
Ontologie auf die neuzeitliche mathematische Physik und
deren
transzendentale Fundamente.
Descartes braucht das Problem des angemessenen Zugangs zum
innerweltlichen Seienden nicht zu stellen. Unter der
ungebroche-
nen Vorherrschaft der traditionellen Ontologie ist über die
echte
Erfassungsart des eigentlichen Seienden im vorhinein
entschieden.
Sie liegt im noevn, der »Anschauung« im weitesten Sinne,
davon
das dianoevn, das »Denken«, nur eine fundierte Vollzugsform
ist.
Und aus dieser grundsätzlichen ontologischen Orientierung
her-
aus gibt Descartes seine »Kritik« der noch möglichen
anschauend
vernehmenden Zugangsart zu Seiendem, der sensatio (a?sqhsij)
gegenüber der intellectio.
Descartes weiß sehr wohl darum, daß das Seiende sich zu-
nächst nicht in seinem eigentlichen Sein zeigt. »Zunächst«
gege-
ben ist dieses bestimmt gefärbte, schmeckende, harte, kalte,
tönende Wachsding. Aber dieses und überhaupt das, was die
Sinne geben, bleibt ontologisch ohne Belang. Satis erit, si adver-
tamus sensuum perceptiones
non referri, nisi ad istam corporis
humani cum mente
coniunctionem, et nobis quidem ordinarie
exhibere, quid ad
illam externa corpora prod-esse possint aut
nocere.1 Die
Sinne lassen überhaupt nicht Seiendes in seinem Sein
erkennen, sondern sie melden lediglich Nützlichkeit und
Schäd-
lichkeit der »äußeren« innerweltlichen Dinge für das leib-
1 a. a. O. II, n. 3, S. 41. 97
behaftete Menschenwesen. Nos non docent, qualia (corpora) in
seipsis existant1; wir erhalten durch die Sinne überhaupt
nicht
Aufschluß über Seiendes in seinem Sein. Quod agentes, percipie-
mus naturam
materiae, sive corporis in universum spectati, non
consistere in eo
quod sit res dura vel ponderosa vel colorata vel
alio aliquo modo sensus afficiens: sed tantum in eo, quod
sit res
extensa in longum, latum et profundum.2
Wie wenig Descartes vermag, das in der Sinnlichkeit sich
Zei-
gende in seiner eigenen Seinsart sich vorgeben zu lassen und
diese
gar zu bestimmen, das wird deutlich aus einer kritischen
Analyse
der von ihm vollzogenen Interpretation der Erfahrung von
Härte
und Widerstand (vgl. § 19).
Härte wird als Widerstand gefaßt. Dieser aber wird so wenig
wie Härte in einem phänomenalen Sinne verstanden, als etwas
an
ihm selbst Erfahrenes und in solcher Erfahrung Bestimmbares.
Widerstand besagt für Descartes soviel als: nicht vom Platze
weichen, das heißt keinen Ortswechsel erleiden. Widerstehen
eines Dinges heißt dann: an einem bestimmten Ort verbleiben,
relativ auf ein anderes seinen Ort wechselndes Ding, bzw. in
solcher Geschwindigkeit den Ort wechseln, daß es von diesem
Ding »eingeholt« werden kann. Durch diese Interpretation von
Härteerfahrung ist die Seinsart des sinnlichen Vernehmens
und
damit die Möglichkeit der Erfassung des in solchem Vernehmen
begegnenden Seienden in seinem Sein ausgelöscht. Descartes
übersetzt die Seinsart eines Vernehmens von etwas in die
einzige,
die er kennt; das Vernehmen von etwas wird zu einem bestimm-
ten Nebeneinander-Vorhandensein zweier vorhandener res
exten-
sae, das Bewegungsverhältnis beider ist selbst im Modus der
extensio, die primär die Vorhandenheit des Körperdinges
charak-
terisiert. Zwar verlangt die mögliche »Erfüllung« eines
tastenden
Verhaltens eine ausgezeichnete »Nähe« des Betastbaren. Das
besagt aber nicht, Berührung und die etwa in ihr sich
bekundende
Härte bestehen, ontologisch gefaßt, in der verschiedenen
Geschwindigkeit zweier Körperdinge. Härte und Widerstand
zeigen sich überhaupt nicht, wenn nicht Seiendes ist von der
Seinsart des Daseins oder zum mindesten eines Lebenden.
So kommt für Descartes die Erörterung der möglichen Zugänge
zum innerweltlich Seienden unter die Herrschaft einer
Seinsidee,
die an einer bestimmten Region dieses Seienden selbst
abgelesen
ist.
1 a. a. O. II, n. 3, S. 41.
2 a. a. O. n. 4, S. 42. 98
Die Idee von Sein als beständige Vorhandenheit motiviert
nicht
allein eine extreme Bestimmung des Seins des innerweltlich
Sei-
enden und dessen Identifizierung mit der Welt überhaupt, sie
verhindert zugleich, Verhaltungen des Daseins ontologisch
ange-
messen in den Blick zu bringen. Damit ist aber vollends der
Weg
dazu verlegt, gar auch noch den fundierten Charakter alles
sinn-
lichen und verstandesmäßigen Vernehmens zu sehen und sie als
eine Möglichkeit des In-der-Welt-seins zu verstehen. Das
Sein des
»Daseins« aber, zu dessen Grundverfassung das
In-der-Welt-sein
gehört, faßt Descartes in derselben Weise wie das Sein der
res
extensa, als Substanz.
Aber wird mit diesen kritischen Erörterungen Descartes nicht
eine Aufgabe untergeschoben und dann als von ihm nicht
gelöst
»nachgewiesen«, die ganz und gar außerhalb seines Horizontes
lag? Wie soll Descartes ein bestimmtes innerweltliches
Seiendes
und dessen Sein mit der Welt identifizieren, wenn er das
Phäno-
men der Welt und damit so etwas wie Innerweltlichkeit über-
haupt nicht kennt?
Im Felde grundsätzlicher Auseinandersetzung darf sich diese
nicht nur an doxographisch faßbare Thesen halten, sondern
sie
muß die sachliche Tendenz der Problematik zur Orientierung
nehmen, mag diese auch über eine vulgäre Fassung nicht
hinaus-
kommen. Daß Descartes mit der res cogitans und der res
extensa
das Problem von »Ich und Welt« nicht nur stellen wollte,
son-
dern eine radikale Lösung dafür beanspruchte, wird aus
seinen
»Meditationen« (vgl. besonders I und VI) deutlich. Daß die
aller
positiven Kritik entbehrende ontologische Grundorientierung
an
der Tradition ihm die Freilegung einer ursprünglichen
ontologi-
schen Problematik des Daseins unmöglich machte, ihm den
Blick
für das Phänomen der Welt verstellen mußte und die Ontologie
der »Welt« in die Ontologie eines bestimmten innerweltlichen
Seienden drängen konnte, sollten die vorstehenden
Erörterungen
erweisen.
Aber, wird man entgegnen, mag in der Tat das Problem der
Welt und auch das Sein des umweltlich nächstbegegnenden Sei-
enden verdeckt bleiben, Descartes hat doch den Grund gelegt
für
die ontologische Charakteristik des innerweltlichen
Seienden, das
in seinem Sein jedes andere Seiende fundiert, der
materiellen
Natur. Auf ihr, der Fundamentalschicht, bauen sich die
übrigen
Schichten der innerweltlichen Wirklichkeit auf. Im
ausgedehnten
Ding als solchem gründen zunächst die Bestimmtheiten, die
sich
zwar als Qualitäten zeigen, »im Grunde« aber quantitative
Modi-
fikationen der Modi der ex- 99
tensio selbst sind. Auf diesen selbst noch reduziblen
Qualitäten
fußen dann die spezifischen Qualitäten wie schön, unschön,
pas-
send, unpassend, brauchbar, unbrauchbar; diese Qualitäten
müs-
sen in primärer Orientierung an der Dinglichkeit als nicht
quanti-
fizierbare Wertprädikate gefaßt werden, durch die das
zunächst
nur materielle Ding zu einem Gut gestempelt wird. Mit dieser
Aufschichtung kommt die Betrachtung aber doch zu dem Seien-
den, das wir als das zuhandene Zeug ontologisch
charakterisier-
ten. Die cartesische Analyse der »Welt« ermöglicht so erst
den
sicheren Aufbau der Struktur des zunächst Zuhandenen; sie
bedarf nur der leicht durchzuführenden Ergänzung des
Naturdin-
ges zum vollen Gebrauchsding.
Aber ist auf diesem Wege, vom spezifischen Problem der Welt
einmal abgesehen, das Sein des innerweltlich zunächst
Begegnen-
den ontologisch erreichbar? Wird nicht mit der materiellen
Ding-
lichkeit unausgesprochen ein Sein angesetzt – ständige Ding-
vorhandenheit –, das durch die nachträgliche Ausstattung des
Seienden mit Wertprädikaten so wenig eine ontologische
Ergän-
zung erfährt, daß vielmehr diese Wertcharaktere selbst nur
onti-
sche Bestimmtheiten eines Seienden bleiben, das die Seinsart
des
Dinges hat? Der Zusatz von Wertprädikaten vermag nicht im
mindesten einen neuen Aufschluß zu geben über das Sein der
Güter, sondern setzt für diese die Seinsart purer
Vorhandenheit
nur wieder voraus. Werte sind vorhandene Bestimmtheiten
eines
Dinges. Werte haben am Ende ihren ontologischen Ursprung
einzig im vorgängigen Ansatz der Dingwirklichkeit als der
Fun-
damentalschicht. Schon die vorphänomenologische Erfahrung
zeigt aber an dem dinglich vermeinten Seienden etwas, was
durch
Dinglichkeit nicht voll verständlich wird. Also bedarf das
ding-
liche Sein einer Ergänzung. Was besagt denn ontologisch das
Sein
der Werte oder ihre »Geltung«, die Lotze als einen Modus der
»Bejahung« faßte? Was bedeutet ontologisch dieses »Haften«
der
Werte an den Dingen? Solange diese Bestimmungen im Dunkel
bleiben, ist die Rekonstruktion des Gebrauchsdinges aus dem
Naturding ein ontologisch fragwürdiges Unternehmen, von der
grundsätzlichen Verkehrung der Problematik ganz abgesehen.
Und bedarf diese Rekonstruktion des zunächst »abgehäuteten«
Gebrauchsdinges nicht immer schon des vorgängigen, positiven
Blicks auf das Phänomen, dessen Ganzheit in der
Rekonstruktion
wieder hergestellt werden soll? Wenn dessen eigenste
Seinsverfas-
sung zuvor aber nicht angemessen expliziert ist, baut dann
die
Rekonstruktion nicht ohne Bauplan? Sofern diese Rekonstruk-
tion und »Ergänzung« der traditionellen Ontologie der »Welt«
im Resultat bei demselben Seienden anlangt, von dem die
obige
Analyse der Zeugzuhandenheit 100
und Bewandtnisganzheit ausging, erweckt sie den Anschein,
als
sei in der Tat das Sein dieses Seienden aufgeklärt oder auch
nur
Problem geworden. So wenig wie Descartes mit der extensio
als
proprietas das Sein der Substanz trifft, so wenig kann die
Zuflucht zu »wertlichen« Beschaffenheiten das Sein als
Zuhan-
denheit auch nur in den Blick bringen, geschweige denn
ontolo-
gisch zum Thema werden lassen.
Descartes hat die Verengung der Frage nach der Welt auf die
nach der Naturdinglichkeit als dem zunächst zugänglichen,
innerweltlichen Seienden verschärft. Er hat die Meinung ver-
festigt, das vermeintlich strengste ontische Erkennen eines
Seien-
den sei auch der mögliche Zugang zum primären Sein des in
sol-
cher Erkenntnis entdeckten Seienden. Es gilt aber zugleich
einzu-
sehen, daß auch die »Ergänzungen« der Dingontologie sich
grundsätzlich auf derselben dogmatischen Basis bewegen wie
Descartes.
Wir deuteten schon an (§ 14), daß das Überspringen der Welt
und des zunächstbegegnenden Seienden nicht zufällig ist,
kein
Versehen, das einfach nachzuholen wäre, sondern daß es in einer
wesenhaften Seinsart des Daseins selbst gründet. Wenn die
Ana-
lytik des Daseins die im Rahmen dieser Problematik
wichtigsten
Hauptstrukturen des Daseins durchsichtig gemacht hat, wenn
dem Begriff des Seins überhaupt der Horizont seiner
möglichen
Verständlichkeit zugewiesen ist und so auch erst
Zuhandenheit
und Vorhandenheit ontologisch ursprünglich verständlich wer-
den, dann läßt sich erst die jetzt vollzogene Kritik der
cartesi-
schen und grundsätzlich heute noch üblichen Weltontologie in
ihr
philosophisches Recht setzen.
Hierfür muß gezeigt werden (vgl. I. Teil, Abschnitt 3):
1. Warum wurde im Anfang der für uns entscheidenden onto-
logischen Tradition – bei Parmenides explizit – das Phäno-
men der Welt übersprungen; woher stammt die ständige
Wiederkehr dieses Überspringens?
2. Warum springt für das übersprungene Phänomen das inner-
weltlich Seiende als ontologisches Thema ein?
3. Warum wird dieses Seiende zunächst in der »Natur« gefun-
den?
4. Warum vollzieht sich die als notwendig erfahrene
Ergänzung
solcher Weltontologie unter Zuhilfenahme des Wert-
phänomens?
In den Antworten auf diese Fragen ist erst das positive Ver-
ständnis der Problematik der Welt erreicht, der Ursprung
ihrer
Verfehlung aufgezeigt und der Rechtsgrund einer Zurückweisung
der traditionellen Weltontologie nachgewiesen. 101
Die Betrachtungen über Descartes sollten zur Einsicht
bringen,
daß der scheinbar selbstverständliche Ausgang von den Dingen
der Welt, ebensowenig wie die Orientierung an der
vermeintlich
strengsten Erkenntnis von Seiendem, die Gewinnung des Bodens
gewährleisten, auf dem die nächsten ontologischen
Verfassungen
der Welt, des Daseins und des innerweltlichen Seienden
phäno-
menal anzutreffen sind.
Wenn wir aber daran erinnern, daß die Räumlichkeit offenbar
das innerweltlich Seiende mitkonstituiert, dann wird am Ende
doch eine »Rettung« der cartesischen Analyse der »Welt« mög-
lich. Mit der radikalen Herausstellung der extensio als des
prae-
suppositum für jede Bestimmtheit der res corporea hat
Descartes
dem Verständnis eines Apriori vorgearbeitet, dessen Gehalt
dann
Kant eindringlicher fixierte. Die Analyse der extensio
bleibt in
gewissen Grenzen unabhängig von dem Versäumnis einer aus-
drücklichen Interpretation des Seins des ausgedehnten
Seienden.
Die Ansetzung der extensio als Grundbestimmtheit der »Welt«
hat ihr phänomenales Recht, wenn auch im Rückgang auf sie
weder die Räumlichkeit der Welt, noch die zunächst entdeckte
Räumlichkeit des in der Umwelt begegnenden Seienden, noch gar
die Räumlichkeit des Daseins selbst ontologisch begriffen
werden
kann.
C. Das Umhafte der Umwelt und die Räumlichkeit
des Daseins
Im Zusammenhang der ersten Vorzeichnung des In-Seins (ver-
gleiche § 12) mußte das Dasein gegen eine Weise des Seins im
Raum abgegrenzt werden, die wir die Inwendigkeit nennen.
Diese
besagt: ein selbst ausgedehntes Seiendes ist von den
ausgedehnten
Grenzen eines Ausgedehnten umschlossen. Das inwendig Seiende
und das Umschließende sind beide im Raum vorhanden. Die
Ablehnung einer solchen Inwendigkeit des Daseins in einem
Raumgefäß sollte jedoch nicht grundsätzlich jede
Räumlichkeit
des Daseins ausschließen, sondern nur den Weg freihalten für
das
Sehen der dem Dasein konstitutiven Räumlichkeit. Diese muß
jetzt herausgestellt werden. Sofern aber das innerweltlich
Seiende
gleichfalls im Raum ist, wird dessen Räumlichkeit in einem
ontologischen Zusammenhang mit der Welt stehen. Daher ist zu
bestimmen, in welchem Sinne der Raum ein Konstituens der
Welt
ist, die ihrerseits als Strukturmoment des In-der-Welt-seins
cha-
rakterisiert wurde. Im besonderen muß gezeigt werden, wie
das
Umhafte der Umwelt, die spezifische Räumlichkeit des in der
Umwelt begegnenden Seienden selbst durch die Weltlichkeit
der
Welt 102
fundiert und nicht umgekehrt die Welt ihrerseits im Raum
vor-
handen ist. Die Untersuchung der Räumlichkeit des Daseins
und
der Raumbestimmtheit der Welt nimmt ihren Ausgang bei einer
Analyse des innerweltlich im Raum Zuhandenen. Die Betrach-
tung durchläuft drei Stufen: 1. die Räumlichkeit des
innerweltlich
Zuhandenen (§ 22), 2. die Räumlichkeit des In-der-Welt-seins
(§
23), 3. die Räumlichkeit des Daseins und der Raum (§ 24).
§ 22. Die Räumlichkeit des innerweltlich Zuhandenen
Wenn der Raum in einem noch zu bestimmenden Sinne die
Welt konstituiert, dann kann es nicht verwundern, wenn wir
schon bei der vorausgegangenen ontologischen Charakteristik
des
Seins des Innerweltlichen dieses auch als Innerräumliches im
Blick haben mußten. Bisher wurde diese Räumlichkeit des
Zuhandenen phänomenal nicht ausdrücklich gefaßt und in ihrer
Verklammerung mit der Seinsstruktur des Zuhandenen nicht
aufgewiesen. Das ist jetzt die Aufgabe.
Inwiefern sind wir schon bei der Charakteristik des Zuhande-
nen auf dessen Räumlichkeit gestoßen? Es war die Rede vom
zunächst Zuhandenen. Das besagt nicht nur das Seiende, das
je
zuerst vor anderem begegnet, sondern meint zugleich das
Seiende,
das »in der Nähe« ist. Das Zuhandene des alltäglichen
Umgangs
hat den Charakter der Nähe. Genau besehen ist diese Nähe des
Zeugs in dem Terminus, der sein Sein ausdrückt, in der
»Zuhan-
denheit«, schon angedeutet. Das »zur Hand« Seiende hat je
eine
verschiedene Nahe, die nicht durch Ausmessen von Abständen
festgelegt ist. Diese Nähe regelt sich aus dem umsichtig
»berech-
nenden« Hantieren und Gebrauchen. Die Umsicht des Besorgens
fixiert das in dieser Weise Nahe zugleich hinsichtlich der
Rich-
tung, in der das Zeug jederzeit zugänglich ist. Die
ausgerichtete
Nähe des Zeugs bedeutet, daß dieses nicht lediglich,
irgendwo
vorhanden, seine Stelle im Raum hat, sondern als Zeug
wesenhaft
an- und untergebracht, aufgestellt, zurechtgelegt ist. Das
Zeug
hat seinen Platz, oder aber es »liegt herum«, was von einem
puren Vorkommen an einer beliebigen Raumstelle grundsätzlich
zu unterscheiden ist. Der jeweilige Platz bestimmt sich als
Platz
dieses Zeugs zu... aus einem Ganzen der aufeinander ausgerichte-
ten Plätze des umweltlich zuhandenen Zeugzusammenhangs. Der
Platz und die Platzmannigfaltigkeit dürfen nicht als das Wo
eines
beliebigen Vorhandenseins der Dinge ausgelegt werden. Der
Platz
ist je das bestimmte »Dort« und »Da« des Hingehörens eines
Zeugs. Die jeweilige Hingehörigkeit entspricht dem
Zeugcharak-
ter des Zuhandenen, das 103
heißt seiner bewandtnismäßigen Zugehörigkeit zu einem Zeug-
ganzen. Der platzierbaren Hingehörigkeit eines Zeugganzen
liegt
aber als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrunde das Wohin
über-
haupt, in das hinein einem Zeugzusammenhang die
Platzganzheit
angewiesen wird. Dieses im besorgenden Umgang umsichtig vor-
weg im Blick gehaltene Wohin des möglichen zeughaften Hinge-
hörens nennen wir die Gegend.
»In der Gegend von« besagt nicht nur »in der Richtung nach«,
sondern zugleich im Umkreis von etwas, was in der Richtung
liegt. Der durch Richtung und Entferntheit – Nähe ist nur
ein
Modus dieser – konstituierte Platz ist schon auf eine Gegend
und
innerhalb ihrer orientiert. So etwas wie Gegend muß zuvor
ent-
deckt sein, soll das Anweisen und Vorfinden von Plätzen
einer
umsichtig verfügbaren Zeugganzheit möglich werden. Diese
gegendhafte Orientierung der Platzmannigfaltigkeit des
Zuhan-
denen macht das Umhafte, das Um-uns-herum des umweltlich
nächstbegegnenden Seienden aus. Es ist nie zunächst eine
dreidi-
mensionale Mannigfaltigkeit möglicher Stellen gegeben, die
mit
vorhandenen Dingen ausgefüllt wird. Diese Dimensionalität
des
Raumes ist in der Räumlichkeit des Zuhandenen noch verhüllt.
Das »Oben« ist das »an der Decke«, das »Unten« das »am
Boden«, das »Hinten« das »bei der Tür«; alle Wo sind durch
die
Gänge und Wege des alltäglichen Umgangs entdeckt und umsich-
tig ausgelegt, nicht in betrachtender Raumausmessung
festgestellt
und verzeichnet.
Gegenden werden nicht erst durch zusammen vorhandene
Dinge gebildet, sondern sind je schon in den einzelnen Plätzen
zuhanden. Die Plätze selbst werden dem Zuhandenen angewiesen
in der Umsicht des Besorgens oder sie werden vorgefunden.
Stän-
dig Zuhandenes, dem das umsichtige In-der-Welt-sein im
vorhin-
ein Rechnung trägt, hat deshalb seinen Platz. Das Wo seiner
Zuhandenheit ist für das Besorgen in Rechnung gestellt und
auf
das übrige Zuhandene orientiert. So hat die Sonne, deren
Licht
und Warme im alltäglichen Gebrauch steht, aus der
wechselnden
Verwendbarkeit dessen her, was sie spendet, ihre umsichtig
ent-
deckten ausgezeichneten Plätze: Aufgang, Mittag, Niedergang,
Mitternacht. Die Plätze dieses in wechselnder Weise und doch
gleichmäßig ständig Zuhandenen werden zu betonten »Anzei-
gen« der in ihnen liegenden Gegenden. Diese Himmelsgegenden,
die noch gar keinen geographischen Sinn zu haben brauchen,
geben das vorgängige Wohin vor für jede besondere Ausformung
von Gegenden, die mit Plätzen besetzbar sind. Das Haus hat
seine
Sonnen- und Wetterseite; auf sie ist die Verteilung der
»Räume«
orien- 104
tiert und innnerhalb dieser wieder die »Einrichtung« je nach
ihrem Zeugcharakter. Kirchen und Gräber zum Beispiel sind
nach Aufgang und Niedergang der Sonne angelegt, die Gegenden
von Leben und Tod, aus denen her das Dasein selbst
hinsichtlich
seiner eigensten Seinsmöglichkeiten in der Welt bestimmt
ist. Das
Besorgen des Daseins, dem es in seinem Sein um dieses Sein
selbst
geht, entdeckt vorgängig die Gegenden, bei denen es je ein
ent-
scheidendes Bewenden hat. Die vorgängige Entdeckung der
Gegenden ist durch die Bewandtnisganzheit mitbestimmt, auf
die
das Zuhandene als Begegnendes freigegeben wird.
Die vorgängige Zuhandenheit der jeweiligen Gegend hat in
einem noch ursprünglicheren Sinne als das Sein des
Zuhandenen
den Charakter der unauffälligen Vertrautheit. Sie wird
selbst nur
sichtbar in der Weise des Auffallens bei einem umsichtigen
Ent-
decken des Zuhandenen und zwar in den defizienten Modi des
Besorgens. Im Nichtantreffen von etwas an seinem Platz wird
die
Gegend des Platzes oft zum erstenmal ausdrücklich als solche
zugänglich. Der Raum, der im umsichtigen In-der-Welt-sein
als
Räumlichkeit des Zeugganzen entdeckt ist, gehört je als
dessen
Platz zum Seienden selbst. Der bloße Raum ist noch verhüllt.
Der
Raum ist in die Plätze aufgesplittert. Diese Räumlichkeit
hat aber
durch die weltmäßige Bewandtnisganzheit des räumlich Zuhan-
denen ihre eigene Einheit. Die »Umwelt« richtet sich nicht
in
einem zuvorgegebenen Raum ein, sondern ihre spezifische
Welt-
lichkeit artikuliert in ihrer Bedeutsamkeit den
bewandtnishaften
Zusammenhang einer jeweiligen Ganzheit von umsichtig ange-
wiesenen Plätzen. Die jeweilige Welt entdeckt je die
Räumlichkeit
des ihr zugehörigen Raumes. Das Begegnenlassen von Zuhande-
nem in seinem umweltlichen Raum bleibt ontisch nur deshalb
möglich, weil das Dasein selbst hinsichtlich seines
In-der-Welt-
seins »räumlich« ist.
§ 23. Die Räumlichkeit des In-der-Welt-seins
Wenn wir dem Dasein Räumlichkeit zusprechen, dann muß
dieses »Sein im Räume« offenbar aus der Seinsart dieses
Seienden
begriffen werden. Räumlichkeit des Daseins, das wesenhaft
kein
Vorhandensein ist, kann weder so etwas wie Vorkommen an
einer Stelle im »Weltraume« bedeuten, noch Zuhandensein an
einem Platz. Beides sind Seinsarten des innerweltlich
begegnenden
Seienden. Das Dasein aber ist »in« der Welt im Sinne des
besor-
gend-vertrauten Umgangs mit dem innerweltlich begegnenden
Seienden. Wenn ihm sonach in irgendeiner Weise Räumlichkeit
zukommt, dann ist das nur möglich auf 105
dem Grunde dieses In-Seins. Dessen Räumlichkeit aber zeigt
die
Charaktere der Ent-fernung und Ausrichtung.
Unter Entfernung als einer Seinsart des Daseins hinsichtlich
seines In-der-Welt-seins verstehen wir nicht so etwas wie
Ent-
ferntheit (Nähe) oder gar Abstand. Wir gebrauchen den Aus-
druck Entfernung in einer aktiven und transitiven Bedeutung.
Sie
meint eine Seinsverfassung des Daseins, hinsichtlich derer
das
Entfernen von etwas, als Wegstellen, nur ein bestimmter, fakti-
scher Modus ist. Entfernen besagt ein Verschwindenmachen der
Ferne, das heißt der Entferntheit von etwas, Näherung.
Dasein ist
wesenhaft ent-fernend, es läßt als das Seiende, das es ist,
je Seien-
des in die Nähe begegnen. Ent-fernung entdeckt Entferntheit.
Diese ist ebenso wie Abstand eine kategoriale Bestimmung des
nicht daseinsmäßigen Seienden. Entfernung dagegen muß als
Existenzial festgehalten werden. Nur sofern überhaupt
Seiendes
in seiner Entferntheit für das Dasein entdeckt ist, werden
am
innerweltlichen Seienden selbst in bezug auf anderes
»Entfernun-
gen« und Abstände zugänglich. Zwei Punkte sind so wenig von-
einander entfernt wie überhaupt zwei Dinge, weil keines
dieser
Seienden seiner Seinsart nach entfernen kann. Sie haben
lediglich
einen im Entfernen vorfindlichen und ausmeßbaren Abstand.
Das Ent-fernen ist zunächst und zumeist umsichtige Näherung,
in die Nähe bringen als beschaffen, bereitstellen, zur Hand
haben. Aber auch bestimmte Arten des rein erkennenden Ent-
deckens von Seiendem haben den Charakter der Näherung. Im
Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe. Alle Arten
der
Steigerung der Geschwindigkeit, die wir heute mehr oder
minder
gezwungen mitmachen, drängen auf Überwindung der Entfernt-
heit. Mit dem »Rundfunk« zum Beispiel vollzieht das Dasein
heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Ent-
fernung der »Welt« auf dem Wege einer Erweiterung der
alltäg-
lichen Umwelt.
Im Ent-fernen liegt nicht notwendig ein ausdrückliches
Abschätzen der Ferne eines Zuhandenen in bezug auf das
Dasein.
Die Entferntheit wird vor allem nie als Abstand gefaßt. Soll
die
Ferne geschätzt werden, dann geschieht das relativ auf
Entfer-
nungen, in denen das alltägliche Dasein sich hält.
Rechnerisch
genommen mögen diese Schätzungen ungenau und schwankend
sein, sie haben in der Alltäglichkeit des Daseins ihre
eigene und
durchgängig verständliche Bestimmtheit. Wir sagen: bis dort
ist
es ein Spaziergang, ein Katzensprung, »eine Pfeife lang«.
Diese
Maße drücken aus, daß sie nicht nur nicht »messen« wollen,
sondern daß die abgeschätzte Entfernt- 106
heit einem Seienden zugehört, zu dem man besorgend umsichtig
hingeht. Aber auch wenn wir uns fester Maße bedienen und
sagen: »bis zu dem Haus ist es eine halbe Stunde«, muß
dieses
Maß als geschätztes genommen werden. Eine »halbe Stunde«
sind nicht 30 Minuten, sondern eine Dauer, die überhaupt
keine
»Länge« hat im Sinne einer quantitativen Erstreckung. Diese
Dauer ist je aus gewohnten alltäglichen »Besorgungen« her
aus-
gelegt. Die Entferntheiten sind zunächst und auch da, wo
»amt-
lich« ausgerechnete Maße bekannt sind, umsichtig geschätzt.
Weil das Ent-fernte in solchen Schätzungen zuhanden ist,
behält
es seinen spezifisch innerweltlichen Charakter. Dazu gehört
es
sogar, daß die umgänglichen Wege zu entferntem Seienden
jeden
Tag verschieden lang sind. Das Zuhandene der Umwelt ist ja
nicht vorhanden für einen dem Dasein enthobenen ewigen
Betrachter, sondern begegnet in die umsichtig besorgende
Alltäg-
lichkeit des Daseins. Auf seinen Wegen durchmißt das Dasein
nicht als vorhandenes Körperding eine Raumstrecke, es »frißt
nicht Kilometer«, die Näherung und Ent-fernung ist je
besorgen-
des Sein zum Genäherten und Ent-fernten. Ein »objektiv«
langer
Weg kann kürzer sein als ein »objektiv« sehr kurzer, der
viel-
leicht ein »schwerer Gang« ist und einem unendlich lang vor-
kommt. In solchem »Vorkommen« aber ist die jeweilige Welt
erst eigentlich zuhanden. Die objektiven Abstände
vorhandener
Dinge decken sich nicht mit Entferntheit und Nähe des inner-
weltlich Zuhandenen. Jene mögen exakt gewußt sein, dieses
Wis-
sen bleibt jedoch blind, es hat nicht die Funktion der
umsichtig
entdeckenden Näherung der Umwelt; man verwendet solches
Wissen nur in und für ein nicht Strecken messendes
besorgendes
Sein zu der einen »angehenden« Welt.
Man ist geneigt, aus einer vorgängigen Orientierung an der
»Natur« und den »objektiv« gemessenen Abständen der Dinge
solche Entfernungsauslegung und Schätzung für »subjektiv«
aus-
zugeben. Das ist jedoch eine »Subjektivität«, die vielleicht
das
Realste der »Realität« der Welt entdeckt, die mit
»subjektiver«
Willkür und subjektivistischen »Auffassungen« eines »an
sich«
anders Seienden nichts zu tun hat. Das umsichtige Ent-fernen
der
Alltäglichkeit des Daseins entdeckt das An-sich-sein der
»wahren
Welt«, des Seienden, bei dem Dasein als existierendes je
schon
ist.
Die primäre und gar ausschließliche Orientierung an Entfernt-
heiten als gemessenen Abständen verdeckt die ursprüngliche
Räumlichkeit des In-Seins. Das vermeintlich »Nächste« ist
ganz
und gar nicht das, was den kleinsten Abstand »von uns« hat.
Das
»Nächste« liegt in dem, was 107
in einer durchschnittlichen Reich-, Greif- und Blickweite
entfernt
ist. Weil das Dasein wesenhaft räumlich ist in der Weise der
Ent-fernung, hält sich der Umgang immer in einer von ihm je
in
einem gewissen Spielraum entfernten »Umwelt«, daher hören
und sehen wir zunächst über das abstandmäßig »Nächste« immer
weg. Sehen und Hören sind Fernsinne nicht auf Grund ihrer
Tragweite, sondern weil das Dasein als entfernendes in ihnen
sich
vorwiegend aufhält. Für den, der zum Beispiel eine Brille
trägt,
die abstandmäßig so nahe ist, daß sie ihm auf der »Nase
sitzt«,
ist dieses gebrauchte Zeug umweltlich weiter entfernt als
das Bild
an der gegenüber befindlichen Wand. Dieses Zeug hat so wenig
Nähe, daß es oft zunächst gar nicht auffindbar wird. Das
Zeug
zum Sehen, desgleichen solches zum Hören, zum Beispiel der
Hörer am Telephon, hat die gekennzeichnete Unauffälligkeit
des
zunächst Zuhandenen. Das gilt zum Beispiel auch von der
Straße,
dem Zeug zum Gehen. Beim Gehen ist sie mit jedem Schritt
betastet und scheinbar das Nächste und Realste des überhaupt
Zuhandenen, sie schiebt sich gleichsam an bestimmten
Leibteilen,
den Fußsohlen entlang. Und doch ist sie weiter entfernt als
der
Bekannte, der einem bei solchem Gehen in der »Entfernung«
von
zwanzig Schritten »auf der Straße« begegnet. Über Nähe und
Ferne des umweltlich zunächst Zuhandenen entscheidet das
umsichtige Besorgen. Das, wobei dieses im vorhinein sich
aufhält,
ist das Nächste und regelt die Ent-fernungen.
Wenn das Dasein im Besorgen sich etwas in seine Nähe bringt,
dann bedeutet das nicht ein Fixieren von etwas an einer
Raum-
stelle, die den geringsten Abstand von irgendeinem Punkt des
Körpers hat. In der Nähe besagt: in dem Umkreis des
umsichtig
zunächst Zuhandenen. Die Näherung ist nicht orientiert auf
das
körperbehaftete Ichding, sondern auf das besorgende In-der-
Welt-sein, das heißt das, was in diesem je zunächst
begegnet. Die
Räumlichkeit des Daseins wird daher auch nicht bestimmt
durch
Angabe der Stelle, an der ein Körperding vorhanden ist. Wir
sagen zwar auch vom Dasein, daß es je einen Platz einnimmt.
Dieses »Einnehmen« ist aber grundsätzlich zu scheiden von
dem
Zuhandensein an einem Platz aus einer Gegend her. Das Platz-
einnehmen muß als Entfernen des umweltlich Zuhandenen in
eine umsichtig vorentdeckte Gegend hinein begriffen werden.
Sein Hier versteht das Dasein aus dem umweltlichen Dort. Das
Hier meint nicht das Wo eines Vorhandenen, sondern das Wobei
eines ent-fernenden Seins bei... in eins mit dieser Ent-fernung.
Das Dasein ist gemäß seiner Räumlichkeit zunächst nie hier,
son-
dern dort, aus welchem Dort es auf sein Hier zurückkommt und
das wiederum 108
nur in der Weise, daß es sein besorgendes Sein zu... aus dem
Dortzuhandenen her auslegt. Das wird vollends deutlich aus
einer
phänomenalen Eigentümlichkeit der Ent-fernungsstruktur des
In-
Seins.
Das Dasein hält sich als In-der-Welt-sein wesenhaft in einem
Entfernen. Diese Ent-fernung, die Ferne des Zuhandenen von
ihm
selbst, kann das Dasein nie kreuzen. Die Entferntheit eines
Zuhandenen vom Dasein kann zwar selbst von diesem als
Abstand vorfindlich werden, wenn sie bestimmt wird in Bezie-
hung auf ein Ding, das als an dem Platz vorhanden gedacht
wird,
den das Dasein zuvor eingenommen hat. Dieses Zwischen des
Abstandes kann das Dasein nachträglich durchqueren, jedoch
nur
so, daß der Abstand selbst ein entfernter wird. Seine
Ent-fernung
hat das Dasein so wenig durchkreuzt, daß es sie vielmehr
mitge-
nommen hat und ständig mitnimmt, weil es wesenhaft Ent-fer-
nung, das heißt räumlich ist. Das Dasein kann im jeweiligen
Um-
kreis seiner Ent-fernungen nicht umherwandern, es kann sie
im-
mer nur verändern. Das Dasein ist räumlich in der Weise der
umsichtigen Raumentdeckung, so zwar, daß es sich zu dem so
räumlich begegnenden Seienden ständig entfernend verhält.
Das Dasein hat als ent-fernendes In-Sein zugleich den
Charak-
ter der Ausrichtung. Jede Näherung hat vorweg schon eine
Rich-
tung in eine Gegend aufgenommen, aus der her das Ent-fernte
sich nähert, um so hinsichtlich seines Platzes vorfindlich
zu wer-
den. Das umsichtige Besorgen ist ausrichtendes Ent-fernen.
In
diesem Besorgen, das heißt im In-der-Welt-sein des Daseins
selbst
ist der Bedarf von »Zeichen« vorgegeben; dieses Zeug
übernimmt
die ausdrückliche und leicht handliche Angabe von
Richtungen.
Es hält die umsichtig gebrauchten Gegenden ausdrücklich
offen,
das jeweilige Wohin des Hingehörens, Hingehens, Hinbringens,
Herholens. Wenn Dasein ist, hat es als
ausrichtend-entfernendes
je schon seine entdeckte Gegend. Die Ausrichtung ebenso wie
die
Ent-fernung werden als Seinsmodi des In-der-Welt-seins
vorgän-
gig durch die Umsicht des Besorgens geführt.
Aus dieser Ausrichtung entspringen die festen Richtungen
nach
rechts und links. So wie seine Ent-fernungen nimmt das
Dasein
auch diese Richtungen ständig mit. Die Verräumlichung des
Daseins in seiner »Leiblichkeit«, die eine eigene hier nicht
zu
behandelnde Problematik in sich birgt, ist mit nach diesen
Rich-
tungen ausgezeichnet. Daher muß Zuhandenes und für den Leib
Gebrauchtes, wie Handschuhe zum Beispiel, das die Bewegungen
der Hände mitmachen soll, auf rechts und links ausgerichtet
sein.
Ein Handwerkszeug dagegen, das 109
in der Hand gehalten und mit ihr bewegt wird, macht nicht
die
spezifische »handliche« Bewegung der Hand mit. Daher gibt
es,
ob sie gleich mit der Hand gehandhabt werden, nicht rechte
und
linke Hämmer.
Zu beachten bleibt aber, daß die Ausrichtung, die zur
Ent-fernung gehört, durch das In-der-Welt-sein fundiert ist.
Links
und rechts sind nicht etwas »Subjektives«, dafür das Subjekt
ein
Gefühl hat, sondern sind Richtungen der Ausgerichtetheit in
eine
je schon zuhandene Welt hinein. »Durch das bloße Gefühl
eines
Unterschieds meiner zwei Seiten«1 könnte ich mich nie in
einer
Welt zurechtfinden. Das Subjekt mit dem »bloßen Gefühl«
dieses
Unterschieds ist ein konstruktiver Ansatz, der die wahrhafte
Ver-
fassung des Subjekts außer acht läßt, daß das Dasein mit
diesem
»bloßen Gefühl« je schon in einer Welt ist und sein muß, um
sich
orientieren zu können. Das wird aus dem Beispiel deutlich,
an
dem Kant das Phänomen der Orientierung zu klären versucht.
Angenommen ich trete in ein bekanntes, aber dunkles Zimmer,
das während meiner Abwesenheit so umgeräumt wurde, daß
alles, was rechts stand, nunmehr links steht. Soll ich mich
orien-
tieren, dann hilft das »bloße Gefühl des Unterschieds«
meiner
zwei Seiten gar nichts, solange nicht ein bestimmter
Gegenstand
erfaßt ist, von dem Kant beiläufig sagt, »dessen Stelle ich
im
Gedächtnis habe«. Was bedeutet das aber anderes als: ich
orien-
tiere mich notwendig in und aus einem je schon sein bei
einer
»bekannten« Welt. Der Zeugzusammenhang einer Welt muß dem
Dasein schon vorgegeben sein. Daß ich je schon in einer Welt
bin,
ist für die Möglichkeit der Orientierung nicht weniger
konstitutiv
als das Gefühl für rechts und links. Daß diese
Seinsverfassung des
Daseins selbstverständlich ist, berechtigt nicht, sie in
ihrer onto-
logisch konstitutiven Rolle zu unterschlagen. Kant
unterschlägt
sie auch nicht, sowenig wie jede andere Interpretation des
Daseins. Das ständige Gebrauchmachen von dieser Verfassung
entbindet aber nicht von einer angemessenen ontologischen
Explikation, sondern fordert sie. Die psychologische
Interpreta-
tion, daß das Ich etwas »im Gedächtnis« habe, meint im
Grunde
die existenziale Verfassung des In-der-Welt-seins. Weil Kant
diese
Struktur nicht sieht, verkennt er auch den vollen
Zusammenhang
der Konstitution einer möglichen Orientierung.
Ausgerichtetheit
nach rechts und links gründet
1 I. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786) WW.
(Akad.
Ausgabe) Bd. VIII, S. 131-147. 110
in der wesenhaften Ausrichtung des Daseins überhaupt, die
ihrer-
seits wesenhaft durch das In-der-Welt-sein mitbestimmt ist.
Allerdings liegt Kant auch nicht an einer thematischen
Interpreta-
tion der Orientierung. Er will lediglich zeigen, daß jede
Orientie-
rung eines »subjektiven Prinzips« bedarf. »Subjektiv« wird
aber
hier bedeuten wollen: a priori. Das Apriori der
Ausgerichtetheit
auf rechts und links gründet jedoch im »subjektiven« Apriori
des
In-der-Welt-seins, das mit einer vorgängig auf ein weltloses
Sub-
jekt beschränkten Bestimmtheit nichts zu tun hat.
Ent-fernung und Ausrichtung bestimmen als konstitutive Cha-
raktere des In-Seins die Räumlichkeit des Daseins,
besorgend-
umsichtig im entdeckten, innerweltlichen Raum zu sein. Die
bis-
herige Explikation der Räumlichkeit des innerweltlich
Zuhande-
nen und der Räumlichkeit des In-der-Welt-seins gibt erst die
Vor-
aussetzungen, um das Phänomen der Räumlichkeit der Welt her-
auszuarbeiten und das ontologische Problem des Raumes zu
stellen.
§ 24. Die Räumlichkeit des Daseins und der Raum
Dasein hat als In-der-Welt-sein jeweilig schon eine »Welt«
ent-
deckt. Dieses in der Weltlichkeit der Welt fundierte
Entdecken
wurde charakterisiert als Freigabe des Seienden auf eine
Bewandtnisganzheit. Das freigebende Bewendenlassen vollzieht
sich in der Weise des umsichtigen Sichverweisens, das in
einem
vorgängigen Verstehen der Bedeutsamkeit gründet. Nunmehr ist
gezeigt: das umsichtige In-der-Welt-sein ist räumliches. Und
nur
weil Dasein in der Weise von Ent-fernung und Ausrichtung
räumlich ist, kann das umweltlich Zu-handene in seiner Räum-
lichkeit begegnen. Die Freigabe einer Bewandtnisganzheit ist
gleichursprünglich ein ent-fernend-ausrichtendes
Bewendenlassen
bei einer Gegend, das heißt Freigabe der räumlichen
Hingehörig-
keit des Zuhandenen. In der Bedeutsamkeit, mit der das
Dasein
als besorgendes In-Sein vertraut ist, liegt die wesenhafte
Miter-
schlossenheit des Raumes.
Der so mit der Weltlichkeit der Welt erschlossene Raum hat
noch nichts von der reinen Mannigfaltigkeit der drei Dimen-
sionen. Der Raum bleibt bei dieser nächsten Erschlossenheit
noch
verborgen als das reine Worin einer metrischen
Stellenordnung
und Lagebestimmung. Woraufhin der Raum vorgängig im Dasein
entdeckt ist, das haben wir schon mit dem Phänomen der
Gegend
angezeigt. Wir verstehen sie als das Wohin der möglichen
Zuge-
hörigkeit des zuhandenen Zeugzusammenhanges, der als ausge-
richtet entfernter, das heißt 111
platzierter soll begegnen können. Die Gehörigkeit bestimmt
sich
aus der für die Welt konstitutiven Bedeutsamkeit und
artikuliert
innerhalb des möglichen Wohin das Hier- und Dorthin. Das
Wohin überhaupt wird vorgezeichnet durch das in einem
Worum-willen des Besorgens festgemachte Verweisungsganze,
innerhalb dessen das freigebende Bewendenlassen sich
verweist.
Mit dem, was als Zuhandenes begegnet, hat es je eine
Bewandtnis
bei einer Gegend. Zur Bewandtnisganzheit, die das Sein des
um-
weltlich Zuhandenen ausmacht, gehört gegendhafte Raumbe-
wandtnis. Auf deren Grunde wird das Zu-handene nach Form
und Richtung vorfindlich und bestimmbar. Je nach der
möglichen
Durchsichtigkeit der besorgenden Umsicht ist mit dem
faktischen
Sein des Daseins das innerweltlich Zuhandene entfernt und
aus-
gerichtet.
Das für das In-der-Welt-sein konstitutive Begegnenlassen des
innerweltlich Seienden ist ein »Raum-geben«. Dieses »Raum-
geben«, das wir auch Einräumen nennen, ist das Freigeben des
Zuhandenen auf seine Räumlichkeit. Dieses Einräumen ermög-
licht als entdeckende Vorgabe einer möglichen bewandtnisbe-
stimmten Platzganzheit die jeweilige faktische Orientierung.
Das
Dasein kann als umsichtiges Besorgen der Welt nur deshalb
um-,
weg- und »einräumen«, weil zu seinem In-der-Welt-sein das
Ein-
räumen – als Existenzial verstanden – gehört. Aber weder
steht
die je vorgängig entdeckte Gegend, noch überhaupt die
jeweilige
Räumlichkeit ausdrücklich im Blick. Sie ist an sich in der
Unauf-
fälligkeit des Zuhandenen, in dessen Besorgen die Umsicht
auf-
geht, für diese zugegen. Mit dem In-der-Welt-sein ist der
Raum
zunächst in dieser Räumlichkeit entdeckt. Auf dem Boden der
so
entdeckten Räumlichkeit wird der Raum selbst für das
Erkennen
zugänglich.
Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum.
Der Raum ist vielmehr »in« der Welt, sofern das für das
Dasein
konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat. Der Raum
befindet sich nicht im Subjekt, noch betrachtet dieses die
Welt,
»als ob« sie in einem Raum sei, sondern das ontologisch
wohl-
verstandene »Subjekt«, das Dasein, ist räumlich. Und weil
das
Dasein in der beschriebenen Weise räumlich ist, zeigt sich
der
Raum als Apriori. Dieser Titel besagt nicht so etwas wie
vorgän-
gige Zugehörigkeit zu einem zunächst noch weltlosen Subjekt,
das einen Raum aus sich hinauswirft. Apriorität besagt hier:
Vor-
gängigkeit des Begegnens von Raum (als Gegend) im jeweiligen
umweltlichen Begegnen des Zuhandenen,
Die Räumlichkeit des umsichtig zunächst Begegnenden kann
für die Umsicht selbst thematisch und Aufgabe der Berechnung
und Ausmes- 112
sung werden, zum Beispiel beim Hausbau und in der Landver-
messung. Mit dieser noch vorwiegend umsichtigen Thematisie-
rung der Umwelträumlichkeit kommt der Raum an ihm selbst
schon in gewisser Weise in den Blick. Dem so sich zeigenden
Raum kann das reine Hinsehen nachgehen unter Preisgabe der
vordem einzigen Zugangsmöglichkeit zum Raum, der umsichti-
gen Berechnung. Die »formale Anschauung« des Raumes ent-
deckt die reinen Möglichkeiten räumlicher Beziehungen.
Hierbei
besteht eine Stufenfolge in der Freilegung des reinen,
homogenen
Raumes von der reinen Morphologie der räumlichen Gestalten
zur Analysis Situs bis zur rein metrischen Wissenschaft von
Raum. Die Betrachtung dieser Zusammenhänge gehört nicht in
diese Untersuchung.1 Innerhalb ihrer Problematik sollte
lediglich
der phänomenale Boden ontologisch fixiert werden, auf dem
die
thematische Entdeckung und Ausarbeitung des reinen Raumes
ansetzt.
Das umsichtsfreie, nur noch hinsehende Entdecken des Raumes
neutralisiert die umweltlichen Gegenden zu den reinen
Dimensio-
nen. Die Plätze und die umsichtig orientierte Platzganzheit
des
zuhandenen Zeugs sinken zu einer Stellenmannigfaltigkeit für
beliebige Dinge zusammen. Die Räumlichkeit des innerweltlich
Zuhandenen verliert mit diesem ihren Bewandtnischarakter.
Die
Welt geht des spezifisch Umhaften verlustig, die Umwelt wird
zur
Naturwelt. Die »Welt« als zuhandenes Zeugganzes wird ver-
räumlicht zu einem Zusammenhang von nur noch vorhandenen
ausgedehnten Dingen. Der homogene Naturraum zeigt sich nur
auf dem Wege einer Entdeckungsart des begegnenden Seienden,
die den Charakter einer spezifischen Entweltlichung der
Welt-
mäßigkeit des Zuhandenen hat.
Dem Dasein wird gemäß seinem In-der-Welt-sein je schon ent-
deckter Raum, obzwar unthematisch, vorgegeben. Der Raum an
ihm selbst dagegen bleibt hinsichtlich der in ihm
beschlossenen
reinen Möglichkeiten des puren Räumlichseins von etwas
zunächst noch verdeckt. Daß der Raum sich wesenhaft in einer
Welt zeigt, entscheidet noch nicht über die Art seines
Seins. Er
braucht nicht die Seinsart eines selbst räumlich Zuhandenen
oder
Vorhandenen zu haben. Das Sein des Raumes hat auch nicht die
Seinsart des Daseins. Daraus, daß das Sein des Raumes selbst
nicht in der Seinsart der res extensa begriffen werden kann,
folgt
weder, daß er ontologisch bestimmt werden muß
1 Vgl. hierzu O. Becker, Beiträge zur phänomenologischen
Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen
Anwendungen.
Jahrbuch Bd. VI (1923), S. 385 ff. 113
als »Phänomen« dieser res – er wäre im Sein nicht von ihr
unter-
schieden – noch gar, daß das Sein des Raumes dem der res
cogi-
tans gleichgesetzt und als bloß »subjektives« begriffen
werden
könnte, von der Fragwürdigkeit des Seins dieses Subjektes
ganz
abgesehen.
Die bis heute fortbestehende Verlegenheit bezüglich der
Inter-
pretation des Seins des Raumes gründet nicht so sehr in
einer
unzureichenden Kenntnis des Sachgehaltes des Raumes selbst,
als
in dem Mangel an einer grundsätzlichen Durchsichtigkeit der
Möglichkeiten von Sein überhaupt und deren ontologisch
begrifflicher Interpretation. Das Entscheidende für das
Verständ-
nis des ontologischen Raumproblems liegt darin, die Frage
nach
dem Sein des Raumes aus der Enge der zufällig verfügbaren
und
überdies meist rohen Seinsbegriffe zu befreien und die
Problema-
tik des Seins des Raumes im Hinblick auf das Phänomen selbst
und die verschiedenen phänomenalen Räumlichkeiten in die
Richtung der Aufklärung der Möglichkeiten von Sein überhaupt
zu bringen.
Im Phänomen des Raumes kann weder die einzige, noch auch
die unter anderen primäre ontologische Bestimmtheit des
Seins
des innerweltlichen Seienden gefunden werden. Noch weniger
konstituiert er das Phänomen der Welt. Raum kann erst im
Rückgang auf die Welt begriffen werden. Der Raum wird nicht
allein erst durch die Entweltlichung der Umwelt zugänglich,
Räumlichkeit ist überhaupt nur auf dem Grunde von Welt ent-
deckbar, so zwar, daß der Raum die Welt doch
mitkonstituiert,
entsprechend der wesenhaften Räumlichkeit des Daseins selbst
hinsichtlich seiner Grundverfassung des In-der-Welt-seins.
Viertes Kapitel
Das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein. Das »Man«
Die Analyse der Weltlichkeit der Welt brachte ständig das
ganze Phänomen des In-der-Welt-seins in den Blick, ohne daß
dabei alle seine konstitutiven Momente in der gleichen
phänome-
nalen Deutlichkeit zur Abhebung kamen wie das Phänomen der
Welt selbst. Die ontologische Interpretation der Welt im
Durch-
gang durch das inner-weltlich Zuhandene ist vorangestellt,
weil
das Dasein in seiner Alltäglichkeit, hinsichtlich derer es
ständiges
Thema bleibt, nicht nur überhaupt in einer Welt ist, sondern
sich
in einer vorherrschenden Seinsart zur Welt verhält. Das
Dasein ist
zunächst und zumeist von seiner Welt benommen. Diese
Seinsart
des Aufgehens in der Welt und damit das zugrundeliegende In-
sein überhaupt bestimmen wesentlich 114
das Phänomen, dem wir jetzt nachgehen mit der Frage: wer ist
es,
der in der Alltäglichkeit das Dasein ist? Alle
Seinsstrukturen des
Daseins, mithin auch das Phänomen, das auf diese Wer-frage
antwortet, sind Weisen seines Seins. Ihre ontologische
Charakte-
ristik ist eine existenziale. Daher bedarf es der rechten
Ansetzung
der Frage und der Vorzeichnung des Weges, auf dem ein
weiterer
phänomenaler Bezirk der Alltäglichkeit des Daseins in den
Blick
gebracht werden soll. Die Nachforschung in der Richtung auf
das
Phänomen, durch das sich die Frage nach dem Wer beantworten
läßt, führt auf Strukturen des Daseins, die mit dem
In-der-Welt-
sein gleich ursprünglich sind: das Mitsein und Mitdasein. In
die-
ser Seinsart gründet der Modus des alltäglichen Selbstseins,
des-
sen Explikation das sichtbar macht, was wir das »Subjekt«
der
Alltäglichkeit nennen dürfen, das Man. Das Kapitel über das
»Wer« des durchschnittlichen Daseins hat demnach folgende
Gliederung: 1. der Ansatz der existenzialen Frage nach dem
Wer
des Daseins (§ 25); 2. das Mitdasein der Anderen und das
alltäg-
liche Mitsein (§ 26); 3. das alltägliche Selbstsein und das
Man (§
27).
§ 25. Der Ansatz der existenzialen Frage nach dem Wer des
Daseins
Die Antwort auf die Frage, wer dieses Seiende (das Dasein)
je
ist, wurde scheinbar bei der formalen Anzeige der Grundbe-
stimmtheiten des Daseins (vgl. § 9) schon gegeben. Dasein
ist
Seiendes, das je ich selbst bin, das Sein ist je meines.
Diese
Bestimmung zeigt eine ontologische Verfassung an, aber auch
nur
das. Sie enthält zugleich die ontische – obzwar rohe –
Angabe,
daß je ein Ich dieses Seiende ist und nicht Andere. Das Wer
beantwortet sich aus dem Ich selbst, dem »Subjekt«, dem
»Selbst«. Das Wer ist das, was sich im Wechsel der
Verhaltungen
und Erlebnisse als Identisches durchhält und sich dabei auf
diese
Mannigfaltigkeit bezieht. Ontologisch verstehen wir es als
das in
einer geschlossenen Region und für diese je schon und
ständig
Vorhandene, das in einem vorzüglichen Sinne zum Grunde lie-
gende, als das Subjectum. Dieses hat als Selbiges in der
vielfälti-
gen Andersheit den Charakter des Selbst. Man mag Seelensub-
stanz ebenso wie Dinglichkeit des Bewußtseins und
Gegenständ-
lichkeit der Person ablehnen, ontologisch bleibt es bei der
An-
setzung von etwas, dessen Sein ausdrücklich oder nicht den
Sinn
von Vorhandenheit behält. Substanzialität ist der
ontologische
Leitfaden für die Bestimmung des Seienden, aus dem her die
Werfrage beantwortet wird. Dasein ist unausgesprochen im
vor-
hinein als Vorhandenes begriffen. In jedem Falle 115
impliziert die Unbestimmtheit seines Seins immer diesen
Seins-
sinn. Vorhandenheit jedoch ist die Seinsart eines
nicht-daseins-
mäßigen Seienden.
Die ontische Selbstverständlichkeit der Aussage, daß ich es
bin,
der je das Dasein ist, darf nicht zu der Meinung verleiten,
es sei
damit der Weg einer ontologischen Interpretation des so
»Gege-
benen« unmißverständlich vorgezeichnet. Fraglich bleibt
sogar,
ob auch nur der ontische Gehalt der obigen Aussage den
phäno-
menalen Bestand des alltäglichen Daseins angemessen
wiedergibt.
Es könnte sein, daß das Wer des alltäglichen Daseins gerade
nicht
je ich selbst bin.
Soll die phänomenale Aufweisung aus der Seinsart des
Seienden
selbst bei der Gewinnung der ontisch-ontologischen Aussagen
den Vorrang behalten auch vor den selbstverständlichsten und
von jeher üblichen Antworten und den aus diesen geschöpften
Problemstellungen, dann muß die phänomenologische
Interpreta-
tion des Daseins bezüglich der jetzt zu stellenden Frage vor
einer
Verkehrung der Problematik bewahrt bleiben.
Widerstrebt es aber nicht den Regeln aller gesunden
Methodik,
wenn sich der Ansatz einer Problematik nicht an die
evidenten
Gegebenheiten des thematischen Gebietes hält? Und was ist
un-
bezweifelbarer als die Gegebenheit des Ich? Und liegt in
dieser
Gegebenheit nicht die Anweisung, zu Zwecken seiner ursprüng-
lichen Herausarbeitung von allem sonst noch »Gegebenen«
abzu-
sehen, nicht nur von einer seienden »Welt«, sondern auch vom
Sein anderer »Iche«? Vielleicht ist in der Tat das, was
diese Art
der Gebung, das schlichte, formale, reflektive Ichvernehmen
gibt,
evident. Diese Einsicht öffnet sogar den Zugang zu einer
eigen-
ständigen phänomenologischen Problematik, die als »formale
Phänomenologie des Bewußtseins« ihre grundsätzliche, rahmen-
gebende Bedeutung hat.
Im vorliegenden Zusammenhang einer existenzialen Analytik
des faktischen Daseins erhebt sich die Frage, ob die
genannte
Weise der Gebung des Ich das Dasein in seiner Alltäglichkeit
erschließt, wenn sie es überhaupt erschließt. Ist es denn a
priori
selbstverständlich, daß der Zugang zum Dasein eine schlicht
vernehmende Reflexion auf das Ich von Akten sein muß? Wenn
diese Art der »Selbstgebung« des Daseins für die
existenziale
Analytik eine Verführung wäre und zwar eine solche, die im
Sein
des Daseins selbst gründet? Vielleicht sagt das Dasein im
nächsten Ansprechen seiner selbst immer: ich bin es und am
Ende
dann am lautesten, wenn es dieses Seiende »nicht« ist. Wenn
die
Verfassung des Daseins, daß es je meines ist, der Grund
dafür 116
wäre, daß das Dasein zunächst und zumeist nicht es selbst
ist?
Wenn die existenziale Analytik mit dem oben genannten Ansatz
bei der Gegebenheit des Ich dem Dasein selbst und einer
nahelie-
genden Selbstauslegung seiner gleichsam in die Falle liefe?
Wenn
sich ergeben sollte, daß der ontologische Horizont für die
Bestimmung des in schlichter Gebung Zugänglichen grundsätz-
lich unbestimmt bleibt? Man kann wohl immer ontisch recht-
mäßig von diesem Seienden sagen, daß »Ich« es bin. Die
ontolo-
gische Analytik jedoch, die von solchen Aussagen Gebrauch
macht, muß sie unter grundsätzliche Vorbehalte stellen. Das
»Ich« darf nur verstanden werden im Sinne einer
unverbindlichen
formalen Anzeige von etwas, das im jeweiligen phänomenalen
Seinszusammenhang vielleicht sich als sein »Gegenteil«
enthüllt.
Dabei besagt dann »Nicht-Ich« keineswegs so viel wie
Seiendes,
das wesenhaft der »Ichheit« entbehrt, sondern meint eine
bestimmte Seinsart des »Ich« selbst, zum Beispiel die
Selbstverlo-
renheit.
Aber auch die bisher gegebene positive Interpretation des
Daseins verbietet schon den Ausgang von der formalen
Gegeben-
heit des Ich in Absicht auf eine phänomenal zureichende
Beant-
wortung der Werfrage. Die Klärung des In-der-Welt-seins
zeigte,
daß nicht zunächst »ist« und auch nie gegeben ist ein bloßes
Subjekt ohne Welt. Und so ist am Ende ebensowenig zunächst
ein
isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen.1 Wenn aber »die
Ande-
ren« je schon im In-der-Welt-sein mit da sind, dann darf
auch
diese phänomenale Feststellung nicht dazu verleiten, die
ontolo-
gische Struktur des so »Gegebenen« für selbstverständlich
und
einer Untersuchung unbedürftig zu halten. Die Aufgabe ist,
die
Art dieses Mitdaseins in der nächsten Alltäglichkeit
phänomenal
sichtbar zu machen und ontologisch angemessen zu
interpretie-
ren.
Wie die ontische Selbstverständlichkeit des An-sich-seins
des
innerweltlich Seienden zur Überzeugung von der ontologischen
Selbstverständlichkeit des Sinnes dieses Seins verleitet und
das
Phänomen der Welt übersehen läßt, so birgt auch die ontische
Selbstverständlichkeit, daß das Dasein je meines ist, eine
mög-
liche Verführung der zugehörigen ontologischen Problematik
in
sich. Zunächst ist das Wer des Daseins nicht nur ontologisch
ein
Problem, sondern es bleibt auch ontisch verdeckt.
1 Vgl. die phänomenologischen Aufweisungen von M. Scheler,
Zur
Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle, 1913,
Anhang S.
118 ff.; ebenso die 2. Aufl. unter dem Titel: Wesen und
Formen der
Sympathie, 1923,
S. 244 ff. 117
Ist denn nun aber die existenzial-analytische Beantwortung
der
Wer-frage überhaupt ohne Leitfaden? Keineswegs. Allerdings
fungiert als solcher von den oben (§§ 9 und 12) gegebenen
for-
malen Anzeigen der Seinsverfassung des Daseins nicht so sehr
die
bisher besprochene, als vielmehr die, wonach die »Essenz«
des
Daseins in seiner Existenz gründet. Wenn das »Ich« eine
essen-
tielle Bestimmtheit des Daseins ist, dann muß sie
existenzial
interpretiert werden. Das Wer ist dann nur zu beantworten in
der
phänomenalen Aufweisung einer bestimmten Seinsart des
Daseins. Wenn das Dasein je nur existierend sein Selbst ist,
dann
verlangt die Ständigkeit des Selbst ebensosehr wie seine
mögliche
»Unselbständigkeit« eine existenzial-ontologische
Fragestellung
als den allein angemessenen Zugang zu seiner Problematik.
Soll das Selbst aber »nur« als eine Weise des Seins dieses
Seien-
den begriffen werden, dann scheint das doch der
Verflüchtigung
des eigentlichen »Kernes« des Daseins gleichzukommen. Solche
Befürchtungen nähren sich aber von der verkehrten
Vormeinung,
das fragliche Seiende habe im Grunde doch die Seinsart eines
Vorhandenen, mag man von ihm auch das Massive eines vor-
kommenden Körperdinges fernhalten. Allein die »Substanz« des
Menschen ist nicht der Geist als die Synthese von Seele und
Leib,
sondern die Existenz.
§ 26. Das Mitdasein der Anderen und das alltägliche Mitsein
Die Antwort auf die Frage nach dem Wer des alltäglichen
Daseins soll in der Analyse der Seinsart gewonnen werden,
darin
das Dasein zunächst und zumeist sich hält. Die Untersuchung
nimmt die Orientierung am In-der-Welt-sein, durch welche
Grundverfassung des Daseins jeder Modus seines Seins mitbe-
stimmt wird. Wenn wir mit Recht sagten, durch die
vorstehende
Explikation der Welt seien auch schon die übrigen
Strukturmo-
mente des In-der-Welt-seins in den Blick gekommen, dann muß
durch sie auch die Beantwortung der Wer-frage in gewisser
Weise
vorbereitet sein.
Die »Beschreibung« der nächsten Umwelt, zum Beispiel der
Werkwelt des Handwerkers, ergab, daß mit dem in Arbeit
befindlichen Zeug die anderen »mitbegegnen«, für die das
»Werk« bestimmt ist. In der Seinsart dieses Zuhandenen, das
heißt in seiner Bewandtnis liegt eine wesenhafte Verweisung
auf
mögliche Träger, denen es auf den »Leib zugeschnitten« sein
soll.
Imgleichen begegnet im verwendeten Material der Hersteller
oder
»Lieferant« desselben als der, der gut oder schlecht
»bedient«.
Das Feld zum Beispiel, an dem wir 118
»draußen« entlang gehen, zeigt sich als dem und dem gehörig,
von ihm ordentlich instand gehalten, das benutzte Buch ist
gekauft bei..., geschenkt von... und dergleichen. Das
verankerte
Boot am Strand verweist in seinem An-sich-sein auf einen
Bekannten, der damit seine Fahrten unternimmt, aber auch als
»fremdes Boot« zeigt es Andere. Die so im zuhandenen,
umwelt-
lichen Zeugzusammenhang »begegnenden« Anderen werden
nicht etwa zu einem zunächst nur vorhandenen Ding hinzuge-
dacht, sondern diese »Dinge« begegnen aus der Welt her, in
der
sie für die Anderen zuhanden sind, welche Welt im vorhinein
auch schon immer die meine ist. In der bisherigen Analyse
wurde
der Umkreis des innerweltlich Begegnenden zunächst eingeengt
auf das zuhandene Zeug bzw. die vorhandene Natur, mithin auf
Seiendes von nichtdaseinsmäßigem Charakter. Diese Beschrän-
kung war nicht nur notwendig zu Zwecken der Vereinfachung
der Explikation, sondern vor allem deshalb, weil die
Seinsart des
innerweltlich begegnenden Daseins der Anderen sich von
Zuhan-
denheit und Vorhandenheit unterscheidet. Die Welt des
Daseins
gibt demnach Seiendes frei, das nicht nur von Zeug und
Dingen
überhaupt verschieden ist, sondern gemäß seiner Seinsart als
Dasein selbst in der Weise des In-der-Welt-seins »in« der
Welt
ist, in der es zugleich innerweltlich begegnet. Dieses
Seiende ist
weder vorhanden noch zuhanden, sondern ist so, wie das
freige-
bende Dasein selbst – es ist auch und mit da. Wollte man
denn
schon Welt überhaupt mit dem innerweltlich Seienden
identifizie-
ren, dann müßte man sagen, »Welt« ist auch Dasein.
Die Charakteristik des Begegnens der Anderen orientiert sich
so
aber doch wieder am je eigenen Dasein. Geht nicht auch sie
von
einer Auszeichnung und Isolierung des »Ich« aus, so daß dann
von diesem isolierten Subjekt ein Übergang zu den Anderen
gesucht werden muß? Zur Vermeidung dieses Mißverständnisses
ist zu beachten, in welchem Sinne hier von »den Anderen« die
Rede ist. »Die Anderen« besagt nicht soviel wie: der ganze
Rest
der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt, die
Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist
nicht unterscheidet, unter denen man auch ist. Dieses
Auch-da-
sein mit ihnen hat nicht den ontologischen Charakter eines
»Mit«-Vorhandenseins innerhalb einer Welt. Das »Mit« ist ein
Daseinsmäßiges, das »Auch« meint die Gleichheit des Seins
als
umsichtig-besorgendes In-der-Welt-sein. »Mit« und »Auch«
sind
existenzial und nicht kategorial zu verstehen. Auf dem
Grunde
dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon
immer
die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist
Mit-
welt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das
innerweltliche
Ansichsein dieser ist Mitdasein. 119
Die Anderen begegnen nicht im vorgängig unterscheidenden
Erfassen des zunächst vorhandenen eigenen Subjektes von den
übrigen auch vorkommenden Subjekten, nicht in einem primären
Hinsehen auf sich selbst, darin erst das Wogegen eines
Unter-
schieds festgelegt wird. Sie begegnen aus der Welt her, in
der das
besorgend-umsichtige Dasein sich wesenhaft aufhält.
Gegenüber
den sich leicht eindrängenden theoretisch erdachten
»Erklärun-
gen« des Vorhandenseins Anderer muß an dem aufgezeigten
phänomenalen Tatbestand ihres umweltlichen Begegnens fest-
gehalten werden. Diese nächste und elementare weltliche
Begegnisart von Dasein geht so weit, daß selbst das eigene
Dasein
zunächst »vorfindlich« wird von ihm selbst im Wegsehen von,
bzw. überhaupt noch nicht »Sehen« von »Erlebnissen« und
»Aktzentrum«. Dasein findet »sich selbst« zunächst in dem,
was
es betreibt, braucht, erwartet, verhütet – in dem zunächst
besorg-
ten umweltlich Zuhandenen.
Und sogar wenn das Dasein sich selbst ausdrücklich anspricht
als: Ich-hier, dann muß die örtliche Personbestimmung aus
der
existenzialen Räumlichkeit des Daseins verstanden werden.
Bei
der Interpretation dieser (§ 23) deuteten wir schon an, daß
dieses
Ich-hier nicht einen ausgezeichneten Punkt des Ichdinges
meint,
sondern sich versteht als In-sein aus dem Dort der
zuhandenen
Welt, bei dem Dasein als Besorgen sich aufhält.
W. v. Humboldt1 hat auf Sprachen hingewiesen, die das »Ich«
durch »hier«, das »Du« durch »da«, das »Er« durch »dort«
aus-
drücken, die demnach – grammatisch formuliert – die
Personal-
pronomina durch Ortsadverbien wiedergeben. Es ist
kontrovers,
welches wohl die ursprüngliche Bedeutung der Ortsausdrücke
sei,
die adverbiale oder die pronominale. Der Streit verliert den
Boden, wenn beachtet wird, daß die Ortsadverbien Bezug haben
auf das Ich qua Dasein. Das »hier«, »dort« und »da« sind
primär
keine reinen Ortsbestimmungen des innerweltlichen an Raum-
stellen vorhandenen Seienden, sondern Charaktere der
ursprüng-
lichen Räumlichkeit des Daseins. Die vermutlichen
Ortsadverbien
sind Daseinsbestimmungen, sie haben primär existenziale und
nicht kategoriale Bedeutung. Sie sind aber auch keine
Pronomina,
ihre Bedeutung liegt vor der Differenz von Ortsadverbien und
Personalpronomina; die eigentlich räumliche Daseinsbedeutung
dieser Ausdrücke dokumentiert aber, daß die theoretisch
unver-
bogene
1 Über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen
in
einigen Sprachen (1829). Ges Schriften (herausg. von der
Preuß. Akad.
der Wiss.) Bd. VI,
1. Abt., S. 304-330. 120
Daseinsauslegung dieses unmittelbar in seinem räumlichen,
das
ist ent-fernend-ausrichtenden »Sein bei« der besorgten Welt
sieht.
Im »hier« spricht das in seiner Welt aufgehende Dasein nicht
auf
sich zu, sondern von sich weg auf das »dort« eines umsichtig
Zuhandenen und meint doch sich in der existenzialen
Räumlich-
keit.
Dasein versteht sich zunächst und zumeist aus seiner Welt,
und
das Mitdasein der Anderen begegnet vielfach aus dem
innerwelt-
lich Zuhandenen her. Aber auch wenn die Anderen in ihrem
Dasein gleichsam thematisch werden, begegnen sie nicht als
vor-
handene Persondinge, sondern wir treffen sie »bei der
Arbeit«,
das heißt primär in ihrem In-der-Welt-sein. Selbst wenn wir
den
Anderen »bloß herumstehen« sehen, ist er nie als vorhandenes
Menschending erfaßt, sondern das »Herumstehen« ist ein exi-
stenzialer Seinsmodus: das unbesorgte, umsichtslose
Verweilen
bei Allem und Keinem. Der Andere begegnet in seinem
Mitdasein
in der Welt.
Aber der Ausdruck »Dasein« zeigt doch deutlich, daß dieses
Seiende »zunächst« ist in der Unbezogenheit auf Andere, daß
es
nachträglich zwar auch noch »mit« anderen sein kann. Es darf
jedoch nicht übersehen werden, daß wir den Terminus
Mitdasein
zur Bezeichnung des Seins gebrauchen, daraufhin die seienden
Anderen innerweltlich freigegeben sind. Dieses Mitdasein der
Anderen ist nur innerweltlich für ein Dasein und so auch für
die
Mitdaseienden erschlossen, weil das Dasein wesenhaft an ihm
selbst Mitsein ist. Die phänomenologische Aussage: Dasein
ist
wesenhaft Mitsein hat einen existenzial-ontologischen Sinn.
Sie
will nicht ontisch feststellen, daß ich faktisch nicht
allein vorhan-
den bin, vielmehr noch andere meiner Art vorkommen. Wäre mit
dem Satz, daß das In-der-Welt-sein des Daseins wesenhaft
durch
das Mitsein konstituiert ist, so etwas gemeint, dann wäre
das
Mitsein nicht eine existenziale Bestimmtheit, die dem Dasein
von
ihm selbst her aus seiner Seinsart zukäme, sondern eine auf
Grund des Vorkommens Anderer sich jeweils einstellende
Beschaffenheit. Das Mitsein bestimmt existenzial das Dasein
auch
dann, wenn ein Anderer faktisch nicht vorhanden und wahrge-
nommen ist. Auch das Alleinsein des Daseins ist Mitsein in
der
Welt. Fehlen kann der Andere nur in einem und für ein
Mitsein.
Das Alleinsein ist ein defizienter Modus des Mitseins, seine
Mög-
lichkeit ist der Beweis für dieses. Das faktische Alleinsein
wird
andererseits nicht dadurch behoben, daß ein zweites Exemplar
Mensch »neben« mir vorkommt oder vielleicht zehn solcher.
Auch wenn diese und noch mehr vorhanden sind, kann das Da-
sein allein sein. Das Mitsein und die Faktizität des
Miteinan-
derseins gründet 121
daher nicht in einem Zusammenvorkommen von mehreren
»Subjekten«. Das Alleinsein »unter« Vielen besagt jedoch bezüg-
lich des Seins der Vielen auch wiederum nicht, daß sie dabei
lediglich vorhanden sind. Auch im Sein »unter ihnen« sind
sie mit
da; ihr Mitdasein begegnet im Modus der Gleichgültigkeit und
Fremdheit. Das Fehlen und »Fortsein« sind Modi des
Mitdaseins
und nur möglich, weil Dasein als Mitsein das Dasein anderer
in
seiner Welt begegnen läßt. Mitsein ist eine Bestimmtheit des
je
eigenen Daseins; Mitdasein charakterisiert das Dasein
anderer,
sofern es für ein Mitsein durch dessen Welt freigegeben ist.
Das
eigene Dasein ist nur, sofern es die Wesensstruktur des
Mitseins
hat, als für Andere begegnend Mitdasein.
Wenn das Mitdasein für das In-der-Welt-sein existenzial kon-
stitutiv bleibt, dann muß es ebenso wie der umsichtige
Umgang
mit dem innerweltlich Zuhandenen, das wir vorgreifend als
Besorgen kennzeichneten, aus dem Phänomen der Sorge
interpre-
tiert werden, als welche das Sein des Daseins überhaupt
bestimmt
wird (vgl. Kap. 6 dieses Abschn.). Der Seinscharakter des
Besor-
gens kann dem Mitsein nicht eignen, obzwar diese Seinsart
ein
Sein zu innerweltlich begegnendem Seienden ist wie das
Besorgen.
Das Seiende, zu dem sich das Dasein als Mitsein verhält, hat
aber
nicht die Seinsart des zuhandenen Zeugs, es ist selbst
Dasein.
Dieses Seiende wird nicht besorgt, sondern steht in der
Fürsorge.
Auch das »Besorgen« von Nahrung und Kleidung, die Pflege
des kranken Leibes ist Fürsorge. Diesen Ausdruck verstehen
wir
aber entsprechend der Verwendung von Besorgen als Terminus
für ein Existenzial. Die »Fürsorge« als faktische soziale
Einrich-
tung zum Beispiel gründet in der Seinsverfassung des Daseins
als
Mitsein. Ihre faktische Dringlichkeit ist darin motiviert,
daß das
Dasein sich zunächst und zumeist in den defizienten Modi der
Fürsorge hält. Das Für-, Wider-, Ohne-einandersein, das
Anein-
andervorbeigehen, das Einander-nichts-angehen sind mögliche
Weisen der Fürsorge. Und gerade die zuletzt genannten Modi
der
Defizienz und Indifferenz charakterisieren das alltägliche
und
durchschnittliche Miteinandersein. Diese Seinsmodi zeigen
wieder
den Charakter der Unauffälligkeit und
Selbstverständlichkeit, der
dem alltäglichen innerweltlichen Mitdasein Anderer ebenso
eig-
net wie der Zuhandenheit des täglich besorgten Zeugs. Diese
indifferenten Modi des Miteinanderseins verleiten die
ontologi-
sche Interpretation leicht dazu, dieses Sein zunächst als
pures
Vorhandensein mehrerer Subjekte auszulegen. Es scheinen nur
geringfügige Spielarten derselben Seinsart vorzuliegen und
doch
besteht ontologisch zwischen dem »gleichgültigen« Zusammen-
vorkommen beliebiger Dinge und dem 122
Einander-nichts-angehen miteinander Seiender ein wesenhafter
Unterschied.
Die Fürsorge hat hinsichtlich ihrer positiven Modi zwei
extreme Möglichkeiten. Sie kann dem Anderen die »Sorge«
gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle
setzen,
für ihn einspringen. Diese Fürsorge übernimmt das, was zu
besorgen ist, für den Anderen. Dieser wird dabei aus seiner
Stelle
geworfen, er tritt zurück, um nachträglich das Besorgte als
fertig
Verfügbares zu übernehmen, bzw. sich ganz davon zu
entlasten.
In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und
Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine
stillschwei-
gende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben. Diese
ein-
springende, die »Sorge« abnehmende Fürsorge bestimmt das
Miteinandersein in weitem Umfang, und sie betrifft zumeist
das
Besorgen des Zuhandenen.
Ihr gegenüber besteht die Möglichkeit einer Fürsorge, die
für
den Anderen nicht so sehr einspringt, als daß sie ihm in
seinem
existenziellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die
»Sorge« abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche
zurück-
zugeben. Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge
–
das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein
Was, das
er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich
durch-
sichtig und für sie frei zu werden.
Die Fürsorge erweist sich als eine Seinsverfassung des
Daseins,
die nach ihren verschiedenen Möglichkeiten mit dessen Sein
zur
besorgten Welt ebenso wie mit dem eigentlichen Sein zu ihm
selbst verklammert ist. Das Miteinandersein gründet zunächst
und vielfach ausschließlich in dem, was in solchem Sein
gemein-
sam besorgt wird. Ein Miteinandersein, das daraus
entspringt,
daß man dasselbe betreibt, hält sich meist nicht nur in
äußeren
Grenzen, sondern kommt in den Modus von Abstand und
Reserve. Das Miteinandersein derer, die bei derselben Sache
angestellt sind, nährt sich oft nur von Mißtrauen. Umgekehrt
ist
das gemeinsame Sicheinsetzen für dieselbe Sache aus dem je
eigens ergriffenen Dasein bestimmt. Diese eigentliche
Verbun-
denheit ermöglicht erst die rechte Sachlichkeit, die den
anderen in
seiner Freiheit für ihn selbst freigibt.
Zwischen den beiden Extremen der positiven Fürsorge – der
einspringend-beherrschenden und der vorspringend-befreienden
–
hält sich das alltägliche Miteinandersein und zeigt
mannigfache
Mischformen, deren Beschreibung und Klassifikation außerhalb
der Grenzen dieser Untersuchung liegen. 123
Wie dem Besorgen als Weise des Entdeckens des Zuhandenen
die Umsicht zugehört, so ist die Fürsorge geleitet durch die
Rück-
sicht und Nachsicht. Beide können mit der Fürsorge die ent-
sprechenden defizienten und indifferenten Modi durchlaufen
bis
zur Rücksichtslosigkeit und dem Nachsehen, das die
Gleichgül-
tigkeit leitet.
Die Welt gibt nicht nur das Zuhandene als innerweltlich
begegnendes Seiendes frei, sondern auch Dasein, die Anderen
in
ihrem Mitdasein. Dieses umweltlich freigegebene Seiende ist
aber
seinem eigensten Seins-sinn entsprechend In-sein in
derselben
Welt, in der es, für andere begegnend, mit da ist. Die
Weltlichkeit
wurde interpretiert (§ 18) als das Verweisungsganze der
Bedeut-
samkeit. Im vorgängig verstehenden Vertrautsein mit dieser
läßt
das Dasein Zuhandenes als in seiner Bewandtnis Entdecktes
begegnen. Der Verweisungszusammenhang der Bedeutsamkeit ist
festgemacht im Sein des Daseins zu seinem eigensten Sein,
damit
es wesenhaft keine Bewandtnis haben kann, das vielmehr das
Sein ist, worumwillen das Dasein selbst ist, wie es ist.
Nach der jetzt durchgeführten Analyse gehört aber zum Sein
des Daseins, um das es ihm in seinem Sein selbst geht, das
Mit-
sein mit Anderen. Als Mitsein »ist« daher das Dasein
wesenhaft
umwillen Anderer. Das muß als existenziale Wesensaussage
ver-
standen werden. Auch wenn das jeweilige faktische Dasein
sich
an Andere nicht kehrt, ihrer unbedürftig zu sein vermeint,
oder
aber sie entbehrt, ist es in der Weise des Mitseins. Im
Mitsein als
dem existenzialen Umwillen Anderer sind diese in ihrem
Dasein
schon erschlossen. Diese mit dem Mitsein vorgängig
konstituierte
Erschlossenheit der Anderen macht demnach auch die Bedeut-
samkeit, d. h. die Weltlichkeit mit aus, als welche sie im
existen-
zialen Worum-willen festgemacht ist. Daher läßt die so
konstitu-
ierte Weltlichkeit der Welt, in der das Dasein wesenhaft je schon
ist, das umweltlich Zuhandene so begegnen, daß in eins mit
ihm
als umsichtig Besorgtem begegnet das Mitdasein Anderer. In
der
Struktur der Weltlichkeit der Welt liegt es, daß die Anderen
nicht
zunächst als freischwebende Subjekte vorhanden sind neben
anderen Dingen, sondern in ihrem umweltlichen besonderen
Sein
in der Welt aus dem in dieser Zuhandenen her sich zeigen.
Die zum Mitsein gehörige Erschlossenheit des Mitdaseins
Anderer besagt: im Seinsverständnis des Daseins liegt schon,
weil
sein Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses
Verstehen
ist, wie Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen
erwach-
sene Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale
Seinsart,
die Erkennen und Kennt- 124
nis allererst möglich macht. Das Sichkennen gründet in dem
ur-
sprünglich verstehenden Mitsein. Es bewegt sich zunächst
gemäß
der nächsten Seinsart des mitseienden In-der-Welt-seins im
ver-
stehenden Kennen dessen, was das Dasein mit den Anderen um-
weltlich umsichtig vorfindet und besorgt. Aus dem Besorgten
her
und mit dem Verstehen seiner ist das fürsorgende Besorgen
ver-
standen. Der Andere ist so zunächst in der besorgenden
Fürsorge
erschlossen.
Weil nun aber zunächst und zumeist die Fürsorge sich in den
defizienten oder zum mindesten indifferenten Modi aufhält –
in
der Gleichgültigkeit des Aneinandervorbeigehens -, bedarf
das
nächste und wesenhafte Sichkennen eines Sichkennenlernens.
Und wenn gar das Sichkennen sich verliert in die Weisen der
Zurückhaltung, des Sichversteckens und Verstellens, bedarf
das
Miteinandersein besonderer Wege, um den Anderen nahe, bzw.
»hinter sie« zu kommen.
Aber so wie das Sichoffenbaren, bzw. Verschließen in der
jeweiligen Seinsart des Miteinanderseins gründet, ja nichts
ande-
res als diese selbst ist, erwächst auch das ausdrückliche
fürsor-
gende Erschließen des Anderen je nur aus dem primären
Mitsein
mit ihm. Solches obzwar thematisches, aber nicht
theoretisch-
psychologisches Erschließen des Anderen wird nun leicht für
die
theoretische Problematik des Verstehens »fremden
Seelenlebens«
zu dem Phänomen, das zunächst in den Blick kommt. Was so
phänomenal »zunächst« eine Weise des verstehenden Miteinan-
derseins darstellt, wird aber zugleich als das genommen, was
»anfänglich« und ursprünglich überhaupt das Sein zu Anderen
ermöglicht und konstituiert. Dieses nicht eben glücklich als
»Ein-
fühlung« bezeichnete Phänomen soll dann ontologisch
gleichsam
erst die Brücke schlagen von dem zunächst allein gegebenen
eige-
nen Subjekt zu dem zunächst überhaupt verschlossenen anderen
Subjekt.
Das Sein zu Anderen ist zwar ontologisch verschieden vom
Sein
zu vorhandenen Dingen. Das »andere« Seiende hat selbst die
Seinsart des Daseins. Im Sein mit und zu Anderen liegt
demnach
ein Seinsverhältnis von Dasein zu Dasein. Dieses Verhältnis,
möchte man sagen, ist aber doch schon konstitutiv für das je
eigene Dasein, das von ihm selbst ein Seinsverständnis hat
und so
sich zu Dasein verhält. Das Seinsverhältnis zu Anderen wird
dann
zur Projektion des eigenen Seins zu sich selbst »in ein
Anderes«.
Der Andere ist eine Dublette des Selbst.
Aber es ist leicht zu sehen, daß diese scheinbar
selbstverständ-
liche Überlegung auf schwachem Boden ruht. Die in Anspruch
genommene Voraussetzung dieser Argumentation, daß das Sein
des 125
Daseins zu ihm selbst das Sein zu einem Anderen sei, trifft
nicht
zu. Solange diese Voraussetzung sich nicht evident in ihrer
Rechtmäßigkeit erwiesen hat, so lange bleibt es rätselhaft,
wie sie
das Verhältnis des Daseins zu ihm selbst dem Anderen als
Ande-
rem erschließen soll.
Das Sein zu Anderen ist nicht nur ein eigenständiger,
irreduk-
tibler Seinsbezug, er ist als Mitsein mit dem Sein des
Daseins
schon seiend. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß das auf dem
Grunde des Mitseins lebendige Sich-gegenseitig-kennen oft
ab-
hängig ist davon, wie weit das eigene Dasein jeweilig sich
selbst
verstanden hat; das besagt aber nur, wie weit es das wesenhafte
Mitsein mit anderen sich durchsichtig gemacht und nicht
verstellt
hat, was nur möglich ist, wenn Dasein als In-der-Welt-sein
je
schon mit Anderen ist. »Einfühlung« konstituiert nicht erst
das
Mitsein, sondern ist auf dessen Grunde erst möglich und
durch
die vorherrschenden defizienten Modi des Mitseins in ihrer
Unumgänglichkeit motiviert.
Daß die »Einfühlung« kein ursprüngliches existenziales Phä-
nomen ist, so wenig wie Erkennen überhaupt, besagt aber
nicht,
es bestehe bezüglich ihrer kein Problem. Ihre spezielle
Hermeneu-
tik wird zu zeigen haben, wie die verschiedenen
Seinsmöglichkei-
ten des Daseins selbst das Miteinandersein und dessen
Sichken-
nen mißleiten und verbauen, so daß ein echtes »Verstehen«
nie-
dergehalten wird und das Dasein zu Surrogaten die Zuflucht
nimmt; welche positive existenziale Bedingung rechtes
Fremdver-
stehen für seine Möglichkeit voraussetzt. Die Analyse hat
gezeigt:
Das Mitsein ist ein existenziales Konstituens des
In-der-Welt-
seins. Das Mitdasein erweist sich als eigene Seinsart von
inner-
weltlich begegnendem Seienden. Sofern Dasein überhaupt ist,
hat
es die Seinsart des Miteinanderseins. Dieses kann nicht als
sum-
matives Resultat des Vorkommens mehrerer »Subjekte«
begriffen
werden. Das Vorfinden einer Anzahl von »Subjekten« wird
selbst
nur dadurch möglich, daß die zunächst in ihrem Mitdasein
begegnenden Anderen lediglich noch als »Nummern« behandelt
werden. Solche Anzahl wird nur entdeckt durch ein bestimmtes
Mit- und Zu-einandersein. Dieses »rücksichtslose« Mitsein
»rechnet« mit den Anderen, ohne daß es ernsthaft »auf sie
zählt«
oder auch nur mit ihnen »zu tun haben« möchte.
Das eigene Dasein ebenso wie das Mitdasein Anderer begegnet
zunächst und zumeist aus der umweltlich besorgten Mitwelt.
Das
Dasein ist im Aufgehen in der besorgten Welt, das heißt
zugleich
im Mitsein zu den Anderen, nicht es selbst. Wer ist es denn,
der
das Sein als alltägliches Miteinandersein übernommen hat?
126
§ 27. Das alltägliche Selbstsein und das Man
Das ontologiscb relevante Ergebnis der vorstehenden Analyse
des Mitseins liegt in der Einsicht, daß der
»Subjektcharakter« des
eigenen Daseins und der Anderen sich existenzial bestimmt,
das
heißt aus gewissen Weisen zu sein. Im umweltlich Besorgten
begegnen die Anderen als das, was sie sind; sie sind das,
was sie
betreiben.
Im Besorgen dessen, was man mit, für und gegen die Anderen
ergriffen hat, ruht ständig die Sorge um einen Unterschied
gegen
die Anderen, sei es auch nur, um den Unterschied gegen sie
aus-
zugleichen, sei es, daß das eigene Dasein – gegen die
Anderen
zurückbleibend – im Verhältnis zu ihnen aufholen will, sei
es, daß
das Dasein im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie
nie-
derzuhalten. Das Miteinandersein ist – ihm selbst verborgen
–
von der Sorge um diesen Abstand beunruhigt. Existenzial
ausge-
drückt, es hat den Charakter der Abständigkeit. Je
unauffälliger
diese Seinsart dem alltäglichen Dasein selbst ist, um so
hart-
näckiger und ursprünglicher wirkt sie sich aus.
In dieser zum Mitsein gehörigen Abständigkeit liegt aber:
das
Dasein steht als alltägliches Miteinandersein in der
Botmäßigkeit
der Anderen. Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das
Sein
abgenommen. Das Belieben der Anderen verfügt über die
alltäg-
lichen Seinsmöglichkeiten des Daseins. Diese Anderen sind
dabei
nicht bestimmte Andere. Im Gegenteil, jeder Andere kann sie
vertreten. Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein
als
Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Ande-
ren. Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre
Macht.
»Die Anderen«, die man so nennt, um die eigene wesenhafte
Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, sind die, die im
alltäglichen
Miteinandersein zunächst und zumeist »da sind«. Das Wer ist
nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht
einige
und nicht die Summe Aller. Das »Wer« ist das Neutrum, das
Man.
Früher wurde gezeigt, wie je schon in der nächsten Umwelt
die
öffentliche »Umwelt« zuhanden und mitbesorgt ist. In der
Benut-
zung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des
Nach-
richtenwesens (Zeitung) ist jeder Andere wie der Andere.
Dieses
Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in die
Seinsart »der
Anderen« auf, so zwar, daß die Anderen in ihrer Unterschied-
lichkeit und Ausdrücklichkeit noch mehr verschwinden. In
dieser
Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man
seine
eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie
man
genießt; wir lesen, sehen 127
und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und
urteilt;
wir ziehen uns aber auch vom »großen Haufen« zurück, wie man
sich zurückzieht; wir finden »empörend«, was man empörend
findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle,
obzwar
nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der
Alltäglichkeit vor.
Das Man hat selbst eigene Weisen zu sein. Die genannte Ten-
denz des Mitseins, die wir die Abständigkeit nannten,
gründet
darin, daß das Miteinandersein als solches die
Durchschnittlich-
keit besorgt. Sie ist ein existenzialer Charakter des Man.
Dem
Man geht es in seinem Sein wesentlich um sie. Deshalb hält
es
sich faktisch in der Durchschnittlichkeit dessen, was sich
gehört,
was man gelten läßt und was nicht, dem man Erfolg zubilligt,
dem man ihn versagt. Diese Durchschnittlichkeit in der Vor-
zeichnung dessen, was gewagt werden kann und darf, wacht
über
jede sich vordrängende Ausnahme. Jeder Vorrang wird
geräuschlos niedergehalten. Alles Ursprüngliche ist über
Nacht
als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich.
Jedes
Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der
Durchschnittlichkeit
enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir
die
Einebnung aller Seinsmöglichkeiten nennen.
Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren
als Seinsweisen des Man das, was wir als »die
Öffentlichkeit«
kennen. Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung
und
behält in allem Recht. Und das nicht auf Grund eines
ausgezeich-
neten und primären Seinsverhältnisses zu den »Dingen«, nicht
weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit
des
Daseins verfügt, sondern auf Grund des Nichteingehens »auf
die
Sachen«, weil sie unempfindlich ist gegen alle Unterschiede
des
Niveaus und der Echtheit. Die Öffentlichkeit verdunkelt
alles und
gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche
aus.
Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon
immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung
drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden
vor-
gibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit
ab.
Das Man kann es sich gleichsam leisten, daß »man« sich
ständig
auf es beruft. Es kann am leichtesten alles verantworten,
weil
keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht. Das Man
»war«
es immer und doch kann gesagt werden, »keiner« ist es
gewesen.
In der Alltäglichkeit des Daseins wird das meiste durch das,
von
dem wir sagen müssen, keiner war es.
Das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner
Alltäglich-
keit. Nicht nur das; mit dieser Seinsentlastung kommt das
Man
dem Da- 128
sein entgegen, sofern in diesem die Tendenz zum Leichtnehmen
und Leichtmachen liegt. Und weil das Man mit der Seinsent-
lastung dem jeweiligen Dasein ständig entgegenkommt, behält
es
und verfestigt es seine hartnäckige Herrschaft.
Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem
sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins
beantwor-
tet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein
sich
je schon ausgeliefert hat.
In den herausgestellten Seinscharakteren des alltäglichen
Unter-
einanderseins, Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung,
Öffentlichkeit, Seinsentlastung und Entgegenkommen liegt die
nächste »Ständigkeit« des Daseins. Diese Ständigkeit
betrifft
nicht das fortwährende Vorhandensein von etwas, sondern die
Seinsart des Daseins als Mitsein. In den genannten Modi
seiend
hat das Selbst des eigenen Daseins und das Selbst des Andern
sich
noch nicht gefunden bzw. verloren. Man ist in der Weise der
Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit. Diese Weise zu sein
bedeutet keine Herabminderung der Faktizität des Daseins, so
wenig wie das Man als das Niemand ein Nichts ist. Im
Gegenteil,
in dieser Seinsart ist das Dasein ein ens realissimum, falls
»Reali-
tät« als daseinsmäßiges Sein verstanden wird.
Allerdings ist das Man so wenig vorhanden wie das Dasein
überhaupt. Je offensichtlicher sich das Man gebärdet, um so
un-
faßlicher und versteckter ist es, um so weniger ist es aber
auch
nichts. Dem unvoreingenommenen ontisch-ontologischen
»Sehen« enthüllt es sich als das »realste Subjekt« der
Alltäglich-
keit. Und wenn es nicht zugänglich ist wie ein vorhandener
Stein,
dann entscheidet das nicht im mindesten über seine Seinsart.
Man
darf weder vorschnell dekretieren, dieses Man ist
»eigentlich«
nichts, noch der Meinung huldigen, das Phänomen sei ontolo-
gisch interpretiert, wenn man es etwa als nachträglich
zusam-
mengeschlossenes Resultat des Zusammenvorhandenseins mehre-
rer Subjekte »erklärt«. Vielmehr muß sich umgekehrt die
Ausar-
beitung der Seinsbegriffe nach diesen unabweisbaren Phänome-
nen richten.
Das Man ist auch nicht so etwas wie ein »allgemeines
Subjekt«,
das über mehreren schwebt. Zu dieser Auffassung kann es nur
kommen, wenn das Sein der »Subjekte« nicht daseinsmäßig ver-
standen wird und diese als tatsächlich vorhandene Fälle
einer
vorkommenden Gattung angesetzt werden. Bei diesem Ansatz
besteht ontologisch nur die Möglichkeit, alles was nicht
Fall ist,
im Sinne der Art und Gattung zu verstehen. Das Man ist nicht
die
Gattung des jeweiligen Da- 129
seins und es läßt sich auch nicht als bleibende
Beschaffenheit an
diesem Seienden vorfinden. Daß auch die traditionelle Logik
angesichts dieser Phänomene versagt, kann nicht verwundern,
wenn bedacht wird, daß sie ihr Fundament in einer überdies
noch
rohen Ontologie des Vorhandenen hat. Daher ist sie durch
noch
so viele Verbesserungen und Erweiterungen grundsätzlich
nicht
geschmeidiger zu machen. Diese »geisteswissenschaftlich«
orien-
tierten Reformen der Logik steigern nur die ontologische
Verwir-
rung.
Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches
Phä-
nomen zur positiven Verfassung des Daseins. Es hat selbst
wieder
verschiedene Möglichkeiten seiner daseinsmäßigen Konkretion.
Eindringlichkeit und Ausdrücklichkeit seiner Herrschaft
können
geschichtlich wechseln.
Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das
wir
von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst
unter-
scheiden. Als Man-selbst ist das jeweilige Dasein in das Man
zerstreut und muß sich erst finden. Diese Zerstreuung
charakteri-
siert das »Subjekt« der Seinsart, die wir als das besorgende
Auf-
gehen in der nächst begegnenden Welt kennen. Wenn das Dasein
ihm selbst als Man-selbst vertraut ist, dann besagt das
zugleich,
daß das Man die nächste Auslegung der Welt und des In-der-
Welt-seins vorzeichnet. Das Man selbst, worum-willen das
Dasein alltäglich ist, artikuliert den
Verweisungszusammenhang
der Bedeutsamkeit. Die Welt des Daseins gibt das begegnende
Seiende auf eine Bewandtnisganzheit frei, die dem Man
vertraut
ist, und in den Grenzen, die mit der Durchschnittlichkeit
des Man
festgelegt sind. Zunächst ist das faktische Dasein in der
durch-
schnittlich entdeckten Mitwelt. Zunächst »bin« nicht »ich«
im
Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise
des
Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir »selbst«
zunächst »gegeben«. Zunächst ist das Dasein Man und zumeist
bleibt es so. Wenn das Dasein die Welt eigens entdeckt und
sich
nahebringt, wenn es ihm selbst sein eigentliches Sein
erschließt,
dann vollzieht sich dieses Entdecken von »Welt« und
Erschließen
von Dasein immer als Wegräumen der Verdeckungen und Ver-
dunkelungen, als Zerbrechen der Verstellungen, mit denen
sich
das Dasein gegen es selbst abriegelt.
Mit der Interpretation des Mitseins und des Selbstseins im
Man
ist die Frage nach dem Wer der Alltäglichkeit des Miteinan-
derseins beantwortet. Diese Betrachtungen haben zugleich ein
konkretes Verständnis der Grundverfassung des Daseins
erbracht. Das In-der-Welt-sein wurde in seiner
Alltäglichkeit und
Durchschnittlichkeit sichtbar. 130
Das alltägliche Dasein schöpft die vorontologische Auslegung
seines Seins aus der nächsten Seinsart des Man. Die
ontologische
Interpretation folgt zunächst dieser Auslegungstendenz, sie
ver-
steht das Dasein aus der Welt her und findet es als
innerweltlich
Seiendes vor. Nicht nur das; auch den Sinn des Seins,
daraufhin
diese seienden »Subjekte« verstanden werden, läßt sich die
»nächste« Ontologie des Daseins aus der »Welt« vorgeben.
Weil
aber in diesem Aufgehen in der Welt das Weltphänomen selbst
übersprungen wird, tritt an seine Stelle das innerweltlich
Vor-
handene, die Dinge. Das Sein des Seienden, das mit-da-ist,
wird
als Vorhandenheit begriffen. So ermöglicht der Aufweis des
posi-
tiven Phänomens des nächstalltäglichen In-der-Welt-seins die
Einsicht in die Wurzel der Verfehlung der ontologischen
Interpre-
tation dieser Seinsverfassung. Sie selbst in ihrer
alltäglichen
Seinsart ist es, die sich zunächst verfehlt und verdeckt.
Wenn schon das Sein des alltäglichen Miteinanderseins, das
sich scheinbar ontologisch der puren Vorhandenheit nähert,
von
dieser grundsätzlich verschieden ist, dann wird das Sein des
eigentlichen Selbst noch weniger als Vorhandenheit begriffen
werden können. Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf
einem
vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist
eine existenzielle Modifikation des Man als eines
wesenhaften
Existenzials.
Die Selbigkeit des eigentlich existierenden Selbst ist aber
dann
ontologisch durch eine Kluft getrennt von der Identität des
in der
Erlebnismannigfaltigkeit sich durchhaltenden Ich.
Fünftes Kapitel
Das In-Sein als solches
§ 28. Die Aufgabe einer thematischen Analyse des In-Seins
Die existenziale Analytik des Daseins hat in ihrem
vorbereiten-
den Stadium die Grundverfassung dieses Seienden, das In-der-
Welt-sein, zum leitenden Thema. Ihr nächstes Ziel ist die
phäno-
menale Hebung der einheitlichen ursprünglichen Struktur des
Seins des Daseins, daraus sich seine Möglichkeiten und
Weisen
»zu sein« ontologisch bestimmen. Bisher war die phänomenale
Charakteristik des In-der-Welt-seins auf das Strukturmoment
der
Welt und die Beantwortung der Frage nach dem Wer dieses Sei-
enden in seiner Alltäglichkeit gerichtet. Aber schon bei der
ersten
Kennzeichnung der Aufgaben einer vor- 131
bereitenden Fundamentalanalyse des Daseins wurde eine Orien-
tierung über das In-Sein als solches vorausgeschickt1 und an
dem
konkreten Modus des Welterkennens demonstriert2.
Die Vorwegnahme dieses tragenden Strukturmomentes ent-
sprang der Absicht, von Anfang an die Analyse der einzelnen
Momente in einem sich durchhaltenden Vorblick auf das Struk-
turganze einzukreisen und jede Sprengung und Aufsplitterung
des
einheitlichen Phänomens zu verhüten. Jetzt gilt es, die
Interpreta-
tion unter Bewahrung des in der konkreten Analyse von Welt
und Wer Gewonnenen zum Phänomen des In-Seins zurückzulen-
ken. Die eindringlichere Betrachtung desselben soll aber
nicht nur
erneut und sicherer die Strukturganzheit des
In-der-Welt-seins
vor den phänomenologischen Blick zwingen, sondern auch den
Weg bahnen zur Erfassung des ursprünglichen Seins des
Daseins
selbst, der Sorge.
Was kann aber noch weiter aufgezeigt werden am In-der-Welt-
sein über die wesenhaften Bezüge des Seins bei der Welt
(Besor-
gen), des Mitseins (Fürsorge) und des Selbstseins (Wer)
hinaus?
Es bleibt allenfalls noch die Möglichkeit, die Analyse durch
ver-
gleichende Charakteristik der Abwandlungen des Besorgens und
seiner Umsicht, der Fürsorge und ihrer Rücksicht in die
Breite
auszubauen und durch die verschärfte Explikation des Seins
alles
möglichen innerweltlichen Seienden das Dasein gegen nicht
daseinsmäßiges Seiendes abzuheben. Ohne Frage liegen nach
dieser Richtung unerledigte Aufgaben. Das bislang Herausge-
stellte ist vielfältig ergänzungsbedürftig im Hinblick auf
eine
geschlossene Ausarbeitung des existenzialen Apriori der philoso-
phischen Anthropologie. Darauf zielt aber die vorliegende
Unter-
suchung nicht. Ihre Absicht ist eine
fundamentalontologische.
Wenn wir sonach dem In-Sein thematisch nachfragen, dann kön-
nen wir zwar nicht die Ursprünglichkeit des Phänomens durch
Ableitung aus anderen, d.h. durch eine unangemessene Analyse
im Sinne einer Auflösung vernichten wollen. Die
Unableitbarkeit
eines Ursprünglichen schließt aber eine Mannigfaltigkeit der
dafür konstitutiven Seinscharaktere nicht aus. Zeigen sich
solche,
dann sind sie existenzial gleichursprünglich. Das Phänomen
der
Gleichursprünglichkeit der konstitutiven Momente ist in der
Ontologie oft mißachtet worden zufolge einer methodisch
unge-
zügelten Tendenz zur Herkunftsnachweisung von allem und
jedem aus einem einfachen »Urgrund«.
1 Vgl. § 12, S.
52 ff.
2 Vgl. § 13, S. 59-63. 132
In welche Richtung gilt es zu sehen für die phänomenale Cha-
rakteristik des In-Seins als solchen? Wir erhalten Antwort
durch
die Erinnerung daran, was bei der Anzeige des Phänomens dem
phänomenologisch behaltenden Blick anvertraut wurde: das In-
Sein im Unterschied von der vorhandenen Inwendigkeit eines
Vorhandenen »in« einem anderen; das In-Sein nicht als eine
durch das Vorhandensein von »Welt« bewirkte oder auch nur
ausgelöste Beschaffenheit eines vorhandenen Subjekts; das
In-Sein
vielmehr als wesenhafte Seinsart dieses Seienden selbst. Was
anderes stellt sich aber dann mit diesem Phänomen dar als
das
vorhandene commercium zwischen einem vorhandenen Subjekt
und einem vorhandenen Objekt? Diese Auslegung käme dem
phänomenalen Bestand schon näher, wenn sie sagte: das Dasein
ist das Sein dieses »Zwischen«. Irreführend bliebe die
Orientie-
rung an dem »Zwischen« trotzdem. Sie macht unbesehen den
ontologisch unbestimmten Ansatz des Seienden mit, wozwischen
dieses Zwischen als solches »ist«. Das Zwischen ist schon
als
Resultat der convenientia zweier Vorhandenen begriffen. Der
vorgängige Ansatz dieser aber sprengt immer schon das Phäno-
men, und es ist aussichtslos, dieses je wieder aus den
Spreng-
stücken zusammenzusetzen. Nicht nur der »Kitt« fehlt,
sondern
das »Schema« ist gesprengt, bzw. nie zuvor enthüllt, gemäß
dem
die Zusammenfügung sich vollziehen soll. Das ontologisch
Ent-
scheidende liegt darin, die Sprengung des Phänomens
vorgängig
zu verhüten, das heißt seinen positiven phänomenalen Bestand
zu
sichern. Daß es hierzu weitgehender Umständlichkeit bedarf,
ist
nur der Ausdruck davon, daß etwas ontisch
Selbstverständliches
in der überlieferten Behandlungsart des »Erkenntnisproblems«
ontologisch vielfältig bis zur Unsichtbarkeit verstellt
wurde.
Das Seiende, das wesenhaft durch das In-der-Welt-sein
konsti-
tuiert wird, ist selbst je sein »Da«. Der vertrauten
Wortbedeu-
tung nach deutet das »Da« auf »hier« und »dort«. Das »Hier«
eines »Ich-Hier« versteht sich immer aus einem zuhandenen
»Dort« im Sinne des entfernend-ausrichtend-besorgenden Seins
zu diesem. Die existenziale Räumlichkeit des Daseins, die
ihm
dergestalt seinen »Ort« bestimmt, gründet selbst auf dem
In-der-
Welt-sein. Das Dort ist die Bestimmtheit eines innerweltlich
Begegnenden. »Hier« und »Dort« sind nur möglich in einem
»Da«, das heißt wenn ein Seiendes ist, das als Sein des »Da«
Räumlichkeit erschlossen hat. Dieses Seiende trägt in seinem
eigensten Sein den Charakter der Unverschlossenheit. Der
Aus-
druck »Da« meint diese wesenhafte Erschlossenheit. Durch sie
ist
dieses Seiende (das Dasein) in eins mit dem Da-sein von Welt
für
es selbst »da«. 133
Die ontisch bildliche Rede vom lumen naturale im Menschen
meint nichts anderes als die existenzial-ontologische
Struktur
dieses Seienden, daß es ist in der Weise, sein Da zu sein.
Es ist
»erleuchtet«, besagt: an ihm selbst als In-der-Welt-sein
gelichtet,
nicht durch ein anderes Seiendes, sondern so, daß es selbst
die
Lichtung ist. Nur einem existenzial so gelichteten Seienden
wird
Vorhandenes im Licht zugänglich, im Dunkel verborgen. Das
Dasein bringt sein Da von Hause aus mit, seiner entbehrend
ist es
nicht nur faktisch nicht, sondern überhaupt nicht das
Seiende
dieses Wesens. Das Dasein ist seine Erschlossenheit.
Die Konstitution dieses Seins soll herausgestellt werden.
Sofern
aber das Wesen dieses Seienden die Existenz ist, besagt der
exi-
stenziale Satz »das Dasein ist seine Erschlossenheit«
zugleich: das
Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist,
sein
»Da« zu sein. Außer der Charakteristik der primären
Konstitu-
tion des Seins der Erschlossenheit bedarf es gemäß dem Zug
der
Analyse einer Interpretation der Seinsart, in der dieses
Seiende
alltäglich sein Da ist.
Das Kapitel, das die Explikation des In-Seins als solchen,
das
heißt des Seins des Da übernimmt, zerfällt in zwei Teile: A.
Die
existenziale Konstitution des Da. B. Das alltägliche Sein
des Da
und das Verfallen des Daseins.
Die beiden gleichursprünglichen konstitutiven Weisen, das Da
zu sein, sehen wir in der Befindlichkeit und im Verstehen;
deren
Analyse erhält jeweils durch die Interpretation eines
konkreten
und für die nachkommende Problematik wichtigen Modus die
notwendige phänomenale Bewährung. Befindlichkeit und Verste-
hen sind gleichursprünglich bestimmt durch die Rede.
Unter A (die existenziale Konstitution des Da) wird demnach
behandelt: das Da-sein als Befindlichkeit (§ 29), die Furcht
als ein
Modus der Befindlichkeit (§ 30), das Da-sein als Verstehen
(§ 31), Verstehen und Auslegung (§ 32), die Aussage als
abkünf-
tiger Modus der Auslegung (§ 33), Da-sein, Rede und Sprache
(§
34).
Die Analyse der Seinscharaktere des Da-seins ist eine
existenzi-
ale. Das besagt: Die Charaktere sind nicht Eigenschaften
eines
Vorhandenen, sondern wesenhaft existenziale Weisen zu sein.
Ihre Seinsart in der Alltäglichkeit muß daher herausgestellt
wer-
den.
Unter B (das alltägliche Sein des Da und das Verfallen des
Da-
seins) werden entsprechend dem konstitutiven Phänomen der
Rede, der im Verstehen liegenden Sicht und gemäß der ihm
zuge-
hörigen Auslegung 134
(Deutung) als existenziale Modi des alltäglichen Seins des
Da
analysiert: Das Gerede (§ 35), die Neugier (§ 36), die
Zweideu-
tigkeit (§ 37). An diesen Phänomenen wird eine Grundart des
Seins des Da sichtbar, die wir als Verfallen interpretieren,
welches
»Fallen« eine existenzial eigene Weise der Bewegtheit zeigt
(§
38).
A. Die existenziale Konstitution des Da
§ 29. Das Da-sein als Befindlichkeit
Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen,
ist
ontiscb das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das
Gestimmtsein. Vor aller Psychologie der Stimmungen, die
zudem
noch völlig brach liegt, gilt es, dieses Phänomen als
fundamenta-
les Existenzial zu sehen und in seiner Struktur zu umreißen.
Der ungestörte Gleichmut ebenso wie der gehemmte Mißmut
des alltäglichen Besorgens, das Übergleiten von jenem in
diesen
und umgekehrt, das Ausgleiten in Verstimmungen sind ontolo-
gisch nicht nichts, mögen diese Phänomene als das
vermeintlich
Gleichgültigste und Flüchtigste im Dasein unbeachtet
bleiben.
Daß Stimmungen verdorben werden und umschlagen können,
sagt nur, daß das Dasein je schon immer gestimmt ist. Die
oft
anhaltende, ebenmäßige und fahle Ungestimmtheit, die nicht
mit
Verstimmung verwechselt werden darf, ist so wenig nichts,
daß
gerade in ihr das Dasein ihm selbst überdrüssig wird. Das
Sein ist
als Last offenbar geworden. Warum, weiß man nicht. Und das
Dasein kann dergleichen nicht wissen, weil die
Erschließungs-
möglichkeiten des Erkennens viel zu kurz tragen gegenüber
dem
ursprünglichen Erschließen der Stimmungen, in denen das
Dasein
vor sein Sein als Da gebracht ist. Und wiederum kann die
geho-
bene Stimmung der offenbaren Last des Seins entheben; auch
diese Stimmungsmöglichkeit erschließt, wenngleich enthebend,
den Lastcharakter des Daseins. Die Stimmung macht offenbar,
»wie einem ist und wird«. In diesem »wie einem ist« bringt
das
Gestimmtsein das Sein in sein »Da«.
In der Gestimmtheit ist immer schon stimmungsmäßig das Da-
sein als das Seiende erschlossen, dem das Dasein in seinem
Sein
überantwortet wurde als dem Sein, das es existierend zu sein
hat.
Erschlossen besagt nicht, als solches erkannt. Und gerade in
der
gleichgültigsten und harmlosesten Alltäglichkeit kann das
Sein
des Daseins als nacktes »Daß es ist und zu sein hat«
aufbrechen.
Das pure »daß es ist« zeigt sich, das Woher und Wohin
bleiben
im Dunkel. Daß das Dasein ebenso alltäglich dergleichen
Stim-
mungen nicht »nachgibt«, 135
das heißt ihrem Erschließen nicht nachgeht und sich nicht
vor das
Erschlossene bringen läßt, ist kein Beweis gegen den
phänome-
nalen Tatbestand der stimmungsmäßigen Erschlossenheit des
Seins des Da in seinem Daß, sondern ein Beleg dafür. Das
Dasein
weicht zumeist ontisch-existenziell dem in der Stimmung
erschlossenen Sein aus; das besagt ontologisch-existenzial:
in
dem, woran solche Stimmung sich nicht kehrt, ist das Dasein
in
seinem Überantwortetsein an das Da enthüllt. Im Ausweichen
selbst ist das Da erschlossenes.
Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm
selbst um so unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des
Daseins, dieses »Daß es ist« nennen wir die Geworfenheit
dieses
Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-der-Welt-sein
das Da
ist. Der Ausdruck Geworfenheit soll die Faktizität der
Überant-
wortung andeuten. Das in der Befindlichkeit des Daseins
erschlossene »Daß es ist und zu sein hat« ist nicht jenes
»Daß«,
das ontologisch-kategorial die der Vorhandenheit zugehörige
Tatsächlichkeit ausdrückt. Diese wird nur in einem
hinsehenden
Feststellen zugänglich. Vielmehr muß das in der
Befindlichkeit
erschlossene Daß als existenziale Bestimmtheit des Seienden
begriffen werden, das in der Weise des In-der-Welt-seins
ist. Fak-
tizität ist nicht die Tatsächlichkeit des factum brutum
eines Vor-
handenen, sondern ein in die Existenz aufgenommener, wenn-
gleich zunächst abgedrängter Seinscharakter des Daseins. Das
Daß der Faktizität wird in einem Anschauen nie vorfindlich.
Seiendes vom Charakter des Daseins ist sein Da in der Weise,
daß es sich, ob ausdrücklich oder nicht, in seiner
Geworfenheit
befindet. In der Befindlichkeit ist das Dasein immer schon
vor es
selbst gebracht, es hat sich immer schon gefunden, nicht als
wahrnehmendes Sich-vor-finden, sondern als gestimmtes Sichbe-
finden. Als Seiendes, das seinem Sein überantwortet ist,
bleibt es
auch dem überantwortet, daß es sich immer schon gefunden ha-
ben muß – gefunden in einem Finden, das nicht so sehr einem
direkten Suchen, sondern einem Fliehen entspringt. Die Stim-
mung erschließt nicht in der Weise des Hinblickens auf die
Geworfenheit, sondern als An- und Abkehr. Zumeist kehrt sie
sich nicht an den in ihr offenbaren Lastcharakter des
Daseins, am
wenigsten als Enthobensein in der gehobenen Stimmung. Diese
Abkehr ist, was sie ist, immer in der Weise der
Befindlichkeit.
Man würde das, was Stimmung erschließt und wie sie
erschließt, phänomenal völlig verkennen, wollte man mit dem
Erschlossenen das zusammenstellen, was das gestimmte Dasein
»zugleich« kennt, weiß 136
und glaubt. Auch wenn Dasein im Glauben seines »Wohin«
»sicher« ist oder um das Woher zu wissen meint in rationaler
Aufklärung, so verschlägt das alles nichts gegen den
phänome-
nalen Tatbestand, daß die Stimmung das Dasein vor das Daß
seines Da bringt, als welches es ihm in unerbittlicher
Rätselhaf-
tigkeit entgegenstarrt. Existenzial-ontologisch besteht
nicht das
mindeste Recht, die »Evidenz« der Befindlichkeit
herabzudrücken
durch Messung an der apodiktischen Gewißheit eines theoreti-
schen Erkennens von purem Vorhandenen. Um nichts geringer
aber ist die Verfälschung der Phänomene, die sie in das
Refugium
des Irrationalen abschiebt. Der Irrationalismus – als das
Gegen-
spiel des Rationalismus – redet nur schielend von dem,
wogegen
dieser blind ist.
Daß ein Dasein faktisch mit Wissen und Willen der Stimmung
Herr werden kann, soll und muß, mag in gewissen
Möglichkeiten
des Existierens einen Vorrang von Wollen und Erkenntnis
bedeu-
ten. Nur darf das nicht dazu verleiten, ontologisch die
Stimmung
als ursprüngliche Seinsart des Daseins zu verleugnen, in der
es
ihm selbst vor allem Erkennen und Wollen und über deren
Erschließungstragweite hinaus erschlossen ist. Und überdies,
Herr
werden wir der Stimmung nie stimmungsfrei, sondern je aus
einer
Gegenstimmung. Als ersten ontologischen Wesenscharakter der
Befindlichkeit gewinnen wir: Die Befindlichkeit erschließt
das
Dasein in seiner Geworfenheit und zunächst und zumeist in
der
Weise der ausweichenden Abkehr.
Schon hieran wird sichtbar, daß die Befindlichkeit weit
entfernt
ist von so etwas wie dem Vorfinden eines seelischen
Zustandes.
Sie hat so wenig den Charakter eines sich erst um- und
rückwen-
denden Erfassens, daß alle immanente Reflexion nur deshalb
»Erlebnisse« vorfinden kann, weil das Da in der
Befindlichkeit
schon erschlossen ist. Die »bloße Stimmung« erschließt das
Da
ursprünglicher, sie verschließt es aber auch entsprechend
hart-
näckiger als jedes Nicht-wahrnehmen.
Das zeigt die Verstimmung. In ihr wird das Dasein ihm selbst
gegenüber blind, die besorgte Umwelt verschleiert sich, die
Um-
sicht des Besorgens wird mißleitet. Die Befindlichkeit ist
so wenig
reflektiert, daß sie das Dasein gerade im reflexionslosen Hin-
und
Ausgegebensein an die besorgte »Welt« überfällt. Die
Stimmung
überfällt. Sie kommt weder von »Außen« noch von »Innen«,
sondern steigt als Weise des In-der-Welt-seins aus diesem
selbst
auf. Damit aber kommen wir über eine negative Abgrenzung der
Befindlichkeit gegen das reflektierende Erfassen des
»Innern« zu
einer positiven Einsicht in 137
ihren Erschließungscharakter. Die Stimmung hat je schon das
In-
der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein
Sichrichten
auf... allererst möglich. Das Gestimmtsein bezieht sich
nicht zu-
nächst auf Seelisches, ist selbst kein Zustand drinnen, der
dann
auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und
Perso-
nen abfärbt. Darin zeigt sich der zweite Wesenscharakter der
Befindlichkeit. Sie ist eine existenziale Grundart der
gleichur-
sprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und
Existenz,
weil diese selbst wesenhaft In-der-Weltsein ist.
Neben diesen beiden explizierten Wesensbestimmungen der
Befindlichkeit, dem Erschließen der Geworfenheit und dem
jeweiligen Erschließen des ganzen In-der-Welt-seins ist eine
dritte
zu beachten, die vor allem zum eindringlicheren Verständnis
der
Weltlichkeit der Welt beiträgt. Früher1 wurde gesagt: Die
vordem
schon erschlossene Welt läßt Innerweltliches begegnen. Diese
vorgängige, zum In-Sein gehörige Erschlossenheit der Welt
ist
durch die Befindlichkeit mitkonstituiert. Das Begegnenlassen
ist
primär umsichtiges, nicht lediglich noch ein Empfinden oder
Anstarren. Das umsichtig besorgende Begegnenlassen hat – so
können wir jetzt von der Befindlichkeit her schärfer sehen –
den
Charakter des Betroffenwerdens. Die Betroffenheit aber durch
die
Undienlichkeit, Widerständigkeit, Bedrohlichkeit des
Zuhande-
nen wird ontologisch nur so möglich, daß das In-Sein als
solches
existenzial vorgängig so bestimmt ist, daß es in dieser
Weise von
innerweltlich Begegnendem angegangen werden kann. Diese
Angänglichkeit gründet in der Befindlichkeit, als welche sie
die
Welt zum Beispiel auf Bedrohbarkeit hin erschlossen hat. Nur
was in der Befindlichkeit des Fürchtens, bzw. der
Furchtlosigkeit
ist, kann umweltlich Zuhandenes als Bedrohliches entdecken.
Die
Gestimmtheit der Befindlichkeit konstituiert existenzial die
Welt-
offenheit des Daseins.
Und nur weil die »Sinne« ontologisch einem Seienden zugehö-
ren, das die Seinsart des befindlichen In-der-Welt-seins
hat, kön-
nen sie »gerührt« werden und »Sinn haben für«, so daß das
Rüh-
rende sich in der Affektion zeigt. Dergleichen wie Affektion
käme
beim stärksten Druck und Widerstand nicht zustande, Wider-
stand bliebe wesenhaft unentdeckt, wenn nicht befindliches
In-
der-Welt-sein sich schon angewiesen hätte auf eine durch
Stim-
mungen vorgezeichnete Angänglich-keit durch das
innerweltlich
Seiende. In der Befindlichkeit liegt existenzial eine
erschließende
Angewiesenheit auf Welt, aus der her An-
1 Vgl. § 18, S.
83 ff. 138
gehendes begegnen kann. Wir müssen in der Tat ontologisch
grundsätzlich die primäre Entdeckung der Welt der »bloßen
Stimmung« überlassen. Ein reines Anschauen, und dränge es in
die innersten Adern des Seins eines Vorhandenen, vermöchte
nie
so etwas zu entdecken wie Bedrohliches.
Daß auf dem Grunde der primär erschließenden Befindlichkeit
die alltägliche Umsicht sich versieht, weitgehend der
Täuschung
unterliegt, ist, an der Idee einer absoluten
»Welt«-erkenntnis
gemessen, ein m¾ Ôn. Aber die existenziale Positivität der
Täusch-
barkeit wird durch solche ontologisch unberechtigten
Wertungen
völlig verkannt. Gerade im unsteten, stimmungsmäßig
flackern-
den Sehen der »Welt« zeigt sich das Zuhandene in seiner
spezifi-
schen Weltlichkeit, die an keinem Tag dieselbe ist.
Theoretisches
Hinsehen hat immer schon die Welt auf die Einförmigkeit des
puren Vorhandenen abgeblendet, innerhalb welcher Einförmig-
keit freilich ein neuer Reichtum des im reinen Bestimmen
Ent-
deckbaren beschlossen liegt. Aber auch die reinste qewr?a
hat
nicht alle Stimmung hinter sich gelassen; auch ihrem
Hinsehen
zeigt sich das nur noch Vorhandene in seinem puren Aussehen
lediglich dann, wenn sie es im ruhigen Verweilen bei... in
der
?vstónh und ?diagnwg? auf sich zukommen lassen kann1. – Man
wird die Aufweisung der existenzial-ontologischen
Konstitution
des erkennenden Bestimmens in der Befindlichkeit des In-der-
Welt-seins nicht verwechseln wollen mit einem Versuch,
Wissen-
schaft ontisch dem »Gefühl« auszuliefern.
Innerhalb der Problematik dieser Untersuchung können die
verschiedenen Modi der Befindlichkeit und ihre
Fundierungszu-
sammenhänge nicht interpretiert werden. Unter dem Titel der
Affekte und Gefühle sind die Phänomene ontisch längst
bekannt
und in der Philosophie immer schon betrachtet worden. Es ist
kein Zufall, daß die erste überlieferte, systematisch
ausgeführte
Interpretation der Affekte nicht im Rahmen der »Psychologie«
abgehandelt ist. Aristoteles untersucht die p£qh im zweiten
Buch
seiner »Rhetorik«. Diese muß – entgegen der traditionellen
Ori-
entierung des Begriffes der Rhetorik an so etwas wie einem
»Lehrfach« – als die erste systematische Hermeneutik der
Alltäg-
lichkeit des Miteinanderseins aufgefaßt werden. Die
Öffentlich-
keit als die Seinsart des Man (vgl. § 27) hat nicht nur
überhaupt
ihre Gestimmtheit, sie braucht Stimmung und »macht« sie für
sich. In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner.
Er be-
1 Vgl. Aristoteles,
Met. A 2, 982 b 22 sqq. 139
darf des Verständnisses der Möglichkeiten der Stimmung, um
sie
in der rechten Weise zu wecken und zu lenken.
Die Weiterführung der Interpretation der Affekte in der
Stoa,
imgleichen die Überlieferung derselben durch die
patristische und
scholastische Theologie an die Neuzeit sind bekannt.
Unbeachtet
bleibt, daß die grundsätzliche ontologische Interpretation
des
Affektiven überhaupt seit Aristoteles kaum einen
nennenswerten
Schritt vorwärts hat tun können. Im Gegenteil: die Affekte
und
Gefühle geraten thematisch unter die psychischen Phänomene,
als
deren dritte Klasse sie meist neben Vorstellen und Wollen
fungie-
ren. Sie sinken zu Begleitphänomenen herab.
Es ist ein Verdienst der phänomenologischen Forschung, wie-
der eine freiere Sicht auf diese Phänomene geschaffen zu
haben.
Nicht nur das; Scheler hat vor allem unter Aufnahme von An-
stößen Augustins und Pascals1 die Problematik auf die
Fundie-
rungszusammenhänge zwischen den »vorstellenden« und »in-
teressenehmenden« Akten gelenkt. Freilich bleiben auch hier
noch die existenzial-ontologischen Fundamente des Aktphäno-
mens überhaupt im Dunkel.
Die Befindlichkeit erschließt nicht nur das Dasein in seiner
Geworfenheit und Angewiesenheit auf die mit seinem Sein je
schon erschlossene Welt, sie ist selbst die existenziale
Seinsart, in
der es sich ständig an die »Welt« ausliefert, sich von ihr
angehen
läßt derart, daß es ihm selbst in gewisser Weise ausweicht.
Die
existenziale Verfassung dieses Ausweichens wird am Phänomen
des Verfallens deutlich werden.
Die Befindlichkeit ist eine existenziale Grundart, in der
das
Dasein sein Da ist. Sie charakterisiert nicht nur
ontologisch das
Dasein, sondern ist zugleich auf Grund ihres Erschließens
für die
existenziale Analytik von grundsätzlicher methodischer
Bedeu-
tung. Diese vermag, wie jede ontologische Interpretation
über-
haupt, nur vordem schon erschlossenes Seiendes auf sein Sein
gleichsam abzuhören. Und sie wird sich an die
ausgezeichneten
weittragendsten Erschließungsmöglichkeiten des Daseins
halten,
um von ihnen den Aufschluß dieses
1 Vgl. Pensees,
a. a. O. Et de là vient qu’au lieu qu’en parlant des
choses humaines
on dit qu’il faut les connaître avant que de les aimer, ce
qui a passé en
proverbe, les saints au contraire disent en parlant des
choses divines
qu’il faut les aimer pour les connaître, et qu’on n’entre
dans la vérité
que par la charité, dont ils ont fait une de leurs plus utiles
sentences; vgl.
dazu Augustinus, Opera (Migne P. L. tom VIII), Contra
Faustum lib. 32,
cap. 18: non intratur in veritatem, nisi per charitatem. 140
Seienden entgegenzunehmen. Die phänomenologische Interpreta-
tion muß dem Dasein selbst die Möglichkeit des
ursprünglichen
Erschließens geben und es gleichsam sich selbst auslegen
lassen.
Sie geht in diesem Erschließen nur mit, um den phänomenalen
Gehalt des Erschlossenen existenzial in den Begriff zu
heben.
Mit Rücksicht auf die später folgende Interpretation einer
sol-
chen existenzial-ontologisch bedeutsamen Grundbefindlichkeit
des Daseins, der Angst (vgl. § 40), soll das Phänomen der
Befind-
lichkeit an dem bestimmten Modus der Furcht noch konkreter
demonstriert werden.
§ 30. Die Furcht als ein Modus der Befindlichkeit*1
Das Phänomen der Furcht läßt sich nach drei Hinsichten
betrachten; wir analysieren das Wovor der Furcht, das Fürchten
und das Worum der Furcht. Diese möglichen und zusammenge-
hörigen Hinblicke sind nicht zufällig. Mit ihnen kommt die
Struktur der Befindlichkeit überhaupt zum Vorschein. Die
Ana-
lyse wird vervollständigt durch den Hinweis auf die
möglichen
Modifikationen der Furcht, die je verschiedene
Strukturmomente
an ihr betreffen.
Das Wovor der Furcht, das »Furchtbare«, ist jeweils ein
inner-
weltlich Begegnendes von der Seinsart des Zuhandenen, des
Vor-
handenen oder des Mitdaseins. Es soll nicht ontisch
berichtet
werden über das Seiende, das vielfach und zumeist
»furchtbar«
sein kann, sondern das Furchtbare ist in seiner
Furchtbarkeit
phänomenal zu bestimmen. Was gehört zum Furchtbaren als
solchem, das im Fürchten begegnet? Das Wovor der Furcht hat
den Charakter der Bedrohlichkeit. Hierzu gehört ein
Mehrfaches:
1. das Begegnende hat die Bewandtnisart der Abträglichkeit.
Es
zeigt sich innerhalb eines Bewandtniszusammenhangs. 2. Diese
Abträglichkeit zielt auf einen bestimmten Umkreis des von
ihr
Betreffbaren. Sie kommt als so bestimmte selbst aus einer
bestimmten Gegend. 3. Die Gegend selbst und das aus ihr Her-
kommende ist als solches bekannt, mit dem es nicht »geheuer«
ist. 4. Das Abträgliche ist als Drohendes noch nicht in
beherrsch-
barer Nähe, aber es naht. In solchem Herannahen strahlt die
Abträglichkeit aus und hat darin den Charakter des Drohens.
5.
Dieses Herannahen ist ein solches innerhalb der Nähe. Was
zwar
im höchsten Grade abträglich sein kann und sogar ständig
näher
kommt aber in der Ferne, bleibt in seiner Furchtbarkeit
verhüllt.
Als Herannahendes in der Nähe aber ist das Abträgliche dro-
hend, es kann treffen und doch nicht. Im Heran-
1 Vgl. Aristoteles, Rhetorik B 5, 1382 a 20-1383 b 11. 141
nahen steigert sich dieses »es kann und am Ende doch nicht«.
Es
ist furchtbar, sagen wir. 6. Darin liegt: das Abträgliche
als
Nahendes in der Nähe trägt die enthüllte Möglichkeit des
Aus-
bleibens und Vorbeigehens bei sich, was das Fürchten nicht
min-
dert und auslöscht, sondern ausbildet.
Das Fürchten selbst ist das sich-angehen-lassende Freigeben
des
so charakterisierten Bedrohlichen. Nicht wird etwa zunächst
ein
zukünftiges Übel (malum futurum) festgestellt und dann
gefürch-
tet. Aber auch das Fürchten konstatiert nicht erst das
Heranna-
hende, sondern entdeckt es zuvor in seiner Furchtbarkeit.
Und
fürchtend kann dann die Furcht sich, ausdrücklich hinsehend,
das
Furchtbare »klar machen«. Die Umsicht sieht das Furchtbare,
weil sie in der Befindlichkeit der Furcht ist. Das Fürchten
als
schlummernde Möglichkeit des befindlichen In-der-Welt-seins,
die »Furchtsamkeit«, hat die Welt schon darauf hin
erschlossen,
daß aus ihr so etwas wie Furchtbares nahen kann. Das Nahen-
können selbst ist freigegeben durch die wesenhafte
existenziale
Räumlichkeit des In-der-Welt-seins.
Das Worum die Furcht fürchtet, ist das sich fürchtende
Seiende
selbst, das Dasein. Nur Seiendes, dem es in seinem Sein um
dieses
selbst geht, kann sich fürchten. Das Fürchten erschließt
dieses
Seiende in seiner Gefährdung, in der Überlassenheit an es
selbst.
Die Furcht enthüllt immer, wenn auch in wechselnder
Ausdrück-
lichkeit, das Dasein im Sein seines Da. Wenn wir um Haus und
Hof fürchten, dann liegt hierin keine Gegeninstanz für die
obige
Bestimmung des Worum der Furcht. Denn das Dasein ist als In-
der-Welt-sein je besorgendes Sein bei. Zumeist und zunächst
ist
das Dasein aus dem her, was es besorgt. Dessen Gefährdung
ist
Bedrohung des Seins bei. Die Furcht erschließt das Dasein
vor-
wiegend in privativer Weise. Sie verwirrt und macht
»kopflos«.
Die Furcht verschließt zugleich das gefährdete InSein, indem
sie
es sehen läßt, so daß das Dasein, wenn die Furcht gewichen,
sich
erst wieder zurechtfinden muß.
Das Fürchten um als Sichfürchten vor erschließt immer – ob
privativ oder positiv – gleichursprünglich das
innerweltliche Sei-
ende in seiner Bedrohlichkeit und das In-Sein hinsichtlich
seiner
Bedrohtheit. Furcht ist ein Modus der Befindlichkeit.
Das Fürchten um kann aber auch andere betreffen, und wir
sprechen dann von einem Fürchten für sie. Dieses Fürchten
für...
nimmt dem Anderen nicht die Furcht ab. Das ist schon deshalb
ausgeschlossen, weil der Andere, für den wir fürchten,
seinerseits
sich gar nicht zu fürchten braucht. Wir fürchten für den
Anderen
gerade dann am meisten, wenn er sich nicht fürchtet und
toll-
kühn dem Drohenden 142
sich entgegenstürzt. Fürchten für... ist eine Weise der
Mitbefind-
lichkeit mit den Anderen, aber nicht notwendig ein Sich-mit-
fürchten oder gar ein Miteinanderfürchten. Man kann fürchten
um..., ohne sich zu fürchten. Genau besehen ist aber das
Fürchten
um... doch ein Sichfürchten. »Befürchtet« ist dabei das
Mitsein
mit dem Anderen, der einem entrissen werden könnte. Das
Furchtbare zielt nicht direkt auf den Mitfürchtenden. Das
Fürch-
ten um... weiß sich in gewisser Weise unbetroffen und ist
doch
mitbetroffen in der Betroffenheit des Mitdaseins, wofür es
fürch-
tet. Das Fürchten um ist deshalb kein abgeschwächtes
Sichfürch-
ten. Es geht hier nicht um Grade von »Gefühlstönen«, sondern
um existenziale Modi. Das Fürchten um... verliert dadurch
auch
nicht seine spezifische Echtheit, wenn es sich »eigentlich«
doch
nicht fürchtet.
Die konstitutiven Momente des vollen Furchtphänomens kön-
nen variieren. Damit ergeben sich verschiedene
Seinsmöglichkei-
ten des Fürchtens. Zur Begegnisstruktur des Bedrohlichen
gehört
die Näherung in der Nähe. Sofern ein Bedrohliches in seinem
»zwar noch nicht, aber jeden Augenblick« selbst plötzlich in
das
besorgende In-der-Welt-sein hereinschlägt, wird die Furcht
zum
Erschrecken. Am Bedrohlichen ist sonach zu scheiden: die
nächste Näherung des Drohenden und die Art des Begegnens der
Näherung selbst, die Plötzlichkeit. Das Wovor des
Erschreckens
ist zunächst etwas Bekanntes und Vertrautes. Hat dagegen das
Bedrohliche den Charakter des ganz und gar Unvertrauten,
dann
wird die Furcht zum Grauen. Und wo nun gar ein Bedrohendes
im Charakter des Grauenhaften begegnet und zugleich den
Begegnischarakter des Erschreckenden hat, die Plötzlichkeit,
da
wird die Furcht zum Entsetzen. Weitere Abwandlungen der
Furcht kennen wir als Schüchternheit, Scheu, Bangigkeit,
Stutzigwerden. Alle Modifikationen der Furcht deuten als
Mög-
lichkeiten des Sich-befindens darauf hin, daß das Dasein als
In-
der-Welt-sein »furchtsam« ist. Diese »Furchtsamkeit« darf
nicht
im ontischen Sinne einer faktischen, »vereinzelten«
Veranlagung
verstanden werden, sondern als existenziale Möglichkeit der
wesenhaften Befindlichkeit des Daseins überhaupt, die
freilich
nicht die einzige ist.
§ 31. Das Da-sein als Verstehen
Die Befindlichkeit ist eine der existenzialen Strukturen, in
denen sich das Sein des »Da« hält. Gleichursprünglich mit
ihr
konstituiert dieses Sein das Verstehen. Befindlichkeit hat
je ihr
Verständnis, wenn auch nur so, daß sie es niederhält.
Verstehen
ist immer gestimmtes. 143
Wenn wir dieses als fundamentales Existenzial
interpretieren,
dann zeigt sich damit an, daß dieses Phänomen als Grundmodus
des Seins des Daseins begriffen wird. »Verstehen« dagegen im
Sinne einer möglichen Erkenntnisart unter anderen, etwa
unter-
schieden von »Erklären«, muß mit diesem als existenziales
Deri-
vat des primären, das Sein des Da überhaupt
mitkonstituierenden
Verstehens interpretiert werden.
Die bisherige Untersuchung ist denn auch schon auf dieses
ur-
sprüngliche Verstehen gestoßen, ohne daß sie es ausdrücklich
in
das Thema einrücken ließ. Das Dasein ist existierend sein
Da,
besagt einmal: Welt ist »da«; deren Da-sein ist das In-sein.
Und
dieses ist imgleichen »da« und zwar als das, worumwillen das
Dasein ist. Im Worumwillen ist das existierende
In-der-Welt-sein
als solches erschlossen, welche Erschlossenheit Verstehen
genannt
wurde1. Im Verstehen des Worumwillen ist die darin gründende
Bedeutsamkeit miterschlossen. Die Erschlossenheit des
Verste-
hens betrifft als die von Worumwillen und Bedeutsamkeit
gleich-
ursprünglich das volle In-der-Welt-sein. Bedeutsamkeit ist
das,
woraufhin Welt als solche erschlossen ist. Worumwillen und
Bedeutsamkeit sind im Dasein erschlossen, besagt: Dasein ist
Seiendes, dem es als In-der-Welt-sein um es selbst geht.
Wir gebrauchen zuweilen in ontischer Rede den Ausdruck
»etwas verstehen« in der Bedeutung von »einer Sache
vorstehen
können«, »ihr gewachsen sein«, »etwas können«. Das im
Verste-
hen als Existenzial Gekonnte ist kein Was, sondern das Sein
als
Existieren. Im Verstehen liegt existenzial die Seinsart des
Daseins
als Sein-können. Dasein ist nicht ein Vorhandenes, das als
Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär
Möglichsein. Dasein ist je das, was es sein kann und wie es
seine
Möglichkeit ist. Das wesenhafte Möglichsein des Daseins
betrifft
die charakterisierten Weisen des Besorgens der »Welt«, der
Für-
sorge für die anderen und in all dem und immer schon das
Sein-
können zu ihm selbst, umwillen seiner. Das Möglichsein, das
je
das Dasein existenzial ist, unterscheidet sich ebensosehr
von der
leeren, logischen Möglichkeit wie von der Kontingenz eines
Vor-
handenen, sofern mit diesem das und jenes »passieren« kann.
Als
modale Kategorie der Vorhandenheit bedeutet Möglichkeit das
noch nicht Wirkliche und das nicht jemals Notwendige. Sie
cha-
rakterisiert das nur Mögliche. Sie ist ontologisch niedriger
als
Wirklichkeit und Notwendigkeit. Die Möglichkeit als
Existenzial
dagegen ist die ur-
1 Vgl. § 18,S. 85
ff. 144
sprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit
des
Daseins; zunächst kann sie wie Existenzialität überhaupt
lediglich
als Problem vorbereitet werden. Den phänomenalen Boden, sie
überhaupt zu sehen, bietet das Verstehen als erschließendes
Sein-
können.
Die Möglichkeit als Existenzial bedeutet nicht das
freischwe-
bende Seinkönnen im Sinne der »Gleichgültigkeit der Willkür«
(libertas indifferentiae). Das Dasein ist als wesenhaft
befindliches
je schon in bestimmte Möglichkeiten hineingeraten, als
Seinkön-
nen, das es ist, hat es solche vorbeigehen lassen, es begibt
sich
ständig der Möglichkeiten seines Seins, ergreift sie und
vergreift
sich. Das besagt aber: das Dasein ist ihm selbst überantwortetes
Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit. Das
Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste
Seinkön-
nen. Das Möglichsein ist ihm selbst in verschiedenen
möglichen
Weisen und Graden durchsichtig.
Verstehen ist das Sein solchen Seinkönnens, das nie als
Noch-
nicht-vorhandenes aussteht, sondern als wesenhaft nie
Vorhan-
denes mit dem Sein des Daseins im Sinne der Existenz »ist«.
Das
Dasein ist in der Weise, daß es je verstanden, bzw. nicht
verstan-
den hat, so oder so zu sein. Als solches Verstehen »weiß«
es,
woran es mit ihm selbst, das heißt seinem Seinkönnen ist.
Dieses
»Wissen« ist nicht erst einer immanenten Selbstwahrnehmung
erwachsen, sondern gehört zum Sein des Da, das wesenhaft
Ver-
stehen ist. Und nur weil Dasein verstehend sein Da ist, kann
es
sich verlaufen und verkennen. Und sofern Verstehen
befindliches
ist und als dieses existenzial der Geworfenheit
ausgeliefertes, hat
das Dasein sich je schon verlaufen und verkannt. In seinem
Sein-
können ist es daher der Möglichkeit überantwortet, sich in
seinen
Möglichkeiten erst wieder zu finden.
Verstehen ist das existenziale Sein des eigenen Seinkönnens
des
Daseins selbst, so zwar, daß dieses Sein an ihm selbst das
Woran
des mit ihm selbst Seins erschließt. Die Struktur dieses
Existenzi-
als gilt es noch schärfer zu fassen.
Das Verstehen betrifft als Erschließen immer die ganze
Grund-
verfassung des In-der-Welt-seins. Als Seinkönnen ist das
In-Sein
je Sein-können-in-der-Welt. Diese ist nicht nur qua Welt als
mögliche Bedeutsamkeit erschlossen, sondern die Freigabe des
Innerweltlichen selbst gibt dieses Seiende frei auf seine
Möglich-
keiten. Das Zuhandene ist als solches entdeckt in seiner
Dienlich-
keit, Verwendbarkeit, Abträglichkeit. Die Bewandtnisganzheit
enthüllt sich als das kategoriale Ganze einer Möglichkeit
des
Zusammenhangs von Zuhandenem. Aber auch die »Einheit« des
mannigfaltigen Vorhandenen, die Natur, 145
wird nur entdeckbar auf dem Grunde der Erschlossenheit einer
Möglichkeit ihrer. Ist es Zufall, daß die Frage nach dem
Sein von
Natur auf die »Bedingungen ihrer Möglichkeit« zielt? Worin
gründet solches Fragen? Ihm selbst gegenüber kann die Frage
nicht ausbleiben: warum ist nichtdaseinsmäßiges Seiendes in
seinem Sein verstanden, wenn es auf die Bedingungen seiner
Möglichkeit hin erschlossen wird? Kant setzt dergleichen
viel-
leicht mit Recht voraus. Aber diese Voraussetzung selbst
kann
am allerwenigsten in ihrem Recht unausgewiesen bleiben.
Warum dringt das Verstehen nach allen wesenhaften Dimensi-
onen des in ihm Erschließbaren immer in die Möglichkeiten?
Weil das Verstehen an ihm selbst die existenziale Struktur
hat,
die wir den Entwurf nennen. Es entwirft das Sein des Daseins
auf
sein Worumwillen ebenso ursprünglich wie auf die Bedeutsam-
keit als die Weltlichkeit seiner jeweiligen Welt. Der
Entwurfcha-
rakter des Verstehens konstituiert das In-der-Welt-sein
hinsicht-
lich der Erschlossenheit seines Da als Da eines Seinkönnens.
Der
Entwurf ist die existenziale Seinsverfassung des Spielraums
des
faktischen Seinkönnens. Und als geworfenes ist das Dasein in
die
Seinsart des Entwerfens geworfen. Das Entwerfen hat nichts
zu
tun mit einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan,
gemäß
dem das Dasein sein Sein einrichtet, sondern als Dasein hat
es
sich je schon entworfen und ist, solange es ist, entwerfend.
Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es
ist,
aus Möglichkeiten. Der Entwurfcharakter des Verstehens
besagt
ferner, daß dieses das, woraufhin es entwirft, die
Möglichkeiten,
selbst nicht thematisch erfaßt. Solches Erfassen benimmt dem
Entworfenen gerade seinen Möglichkeitscharakter, zieht es
herab
zu einem gegebenen, gemeinten Bestand, während der Entwurf
im Werfen die Möglichkeit als Möglichkeit sich vorwirft und
als
solche sein läßt. Das Verstehen ist, als Entwerfen, die
Seinsart des
Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten
ist.
Auf dem Grunde der Seinsart, die durch das Existenzial des
Entwurfs konstituiert wird, ist das Dasein ständig »mehr«,
als es
tatsächlich ist, wollte man es und könnte man es als
Vorhandenes
in seinem Seinsbestand registrieren. Es ist aber nie mehr,
als es
faktisch ist, weil zu seiner Faktizität das Seinkönnen wesenhaft
gehört. Das Dasein ist aber als Möglichsein auch nie
weniger, das
heißt das, was es in seinem Seinkönnen noch nicht ist, ist
es exi-
stenzial. Und nur weil das Sein des Da durch das Verstehen
und
dessen Entwurfcharakter seine Konstitution erhält, weil es
ist,
was es wird bzw. nicht wird, kann es verstehend ihm selbst
sagen: »werde, was du bist!«. 146
Der Entwurf betrifft immer die volle Erschlossenheit des
In-der-
Welt-seins; das Verstehen hat als Seinkönnen selbst
Möglichkei-
ten, die durch den Umkreis des in ihm wesenhaft
Erschließbaren
vorgezeichnet sind. Das Verstehen kann sich primär in die
Erschlossenheit der Welt legen, das heißt das Dasein kann
sich
zunächst und zumeist aus seiner Welt her verstehen. Oder
aber
das Verstehen wirft sich primär in das Worumwillen, das
heißt
das Dasein existiert als es selbst. Das Verstehen ist
entweder
eigentliches, aus dem eigenen Selbst als solchem
entspringendes,
oder uneigentliches. Das »Un-« besagt nicht, daß sich das
Dasein
von seinem Selbst abschnürt und »nur« die Welt versteht.
Welt
gehört zu seinem Selbstsein als In-der-Welt-sein. Das
eigentliche
ebensowohl wie das uneigentliche Verstehen können wiederum
echt oder unecht sein. Das Verstehen ist als Seinkönnen ganz
und
gar von Möglichkeit durchsetzt. Das Sichverlegen in eine
dieser
Grundmöglichkeiten des Verstehens legt aber die andere nicht
ab.
Weil vielmehr das Verstehen jeweils die volle
Erschlossenheit des
Daseins als In-der-Welt-sein betrifft, ist das Sichverlegen
des
Verstehens eine existenziale Modifikation des Entwurfes als
gan-
zen. Im Verstehen von Welt ist das In-Sein immer
mitverstanden,
Verstehen der Existenz als solcher ist immer ein Verstehen
von
Welt.
Als faktisches Dasein hat es sein Seinkönnen je schon in
eine
Möglichkeit des Verstehens verlegt.
Das Verstehen macht in seinem Entwurfcharakter existenzial
das aus, was wir die Sicht des Daseins nennen. Die mit der
Erschlossenheit des Da existenzial seiende Sicht ist das
Dasein
gleichursprünglich nach den gekennzeichneten Grundweisen
seines Seins als Umsicht des Besorgens, Rücksicht der
Fürsorge,
als Sicht auf das Sein als solches, umwillen dessen das
Dasein je
ist, wie es ist. Die Sicht, die sich primär und im ganzen
auf die
Existenz bezieht, nennen wir die Durchsichtigkeit. Wir
wählen
diesen Terminus zur Bezeichnung der wohlverstandenen
»Selbst-
erkenntnis«, um anzuzeigen, daß es sich bei ihr nicht um das
wahrnehmende Aufspüren und Beschauen eines Selbstpunktes
handelt, sondern um ein verstehendes Ergreifen der vollen
Erschlossenheit des In-der-Welt-seins durch seine
wesenhaften
Verfassungsmomente hindurch. Existierend Seiendes sichtet
»sich« nur, sofern es sich gleichursprünglich in seinem Sein
bei
der Welt, im Mitsein mit Anderen als der konstitutiven
Momente
seiner Existenz durchsichtig geworden ist.
Umgekehrt wurzelt die Undurchsichtigkeit des Daseins nicht
einzig und primär in »egozentrischen» Selbsttäuschungen,
sondern ebensosehr in der Unkenntnis der Welt. 147
Der Ausdruck »Sicht« muß freilich vor einem Mißverständnis
bewahrt bleiben. Er entspricht der Gelichtetheit, als welche
wir
die Erschlossenheit des Da charakterisierten. Das »Sehen«
meint
nicht nur nicht das Wahrnehmen mit den leiblichen Augen,
son-
dern auch nicht das pure unsinnliche Vernehmen eines Vorhan-
denen in seiner Vorhandenheit. Für die existenziale
Bedeutung
von Sicht ist nur die Eigentümlichkeit des Sehens in
Anspruch
genommen, daß es das ihm zugänglich Seiende an ihm selbst
unverdeckt begegnen läßt. Das leistet freilich jeder »Sinn«
inner-
halb seines genuinen Entdeckungsbezirkes. Die Tradition der
Philosophie ist aber von Anfang an primär am »Sehen« als
Zugangsart zu Seiendem und zu Sein orientiert. Um den Zusam-
menhang mit ihr zu wahren, kann man Sicht und Sehen so weit
formalisieren, daß damit ein universaler Terminus gewonnen
wird, der jeden Zugang zu Seiendem und zu Sein als Zugang
überhaupt charakterisiert.
Dadurch, daß gezeigt wird, wie alle Sicht primär im Verstehen
gründet – die Umsicht des Besorgens ist das Verstehen als
Ver-
ständigkeit –, ist dem puren Anschauen sein Vorrang
genommen,
der noetisch dem traditionellen ontologischen Vorrang des
Vor-
handenen entspricht. »Anschauung« und »Denken« sind beide
schon entfernte Derivate des Verstehens. Auch die
phänomenolo-
gische »Wesensschau« gründet im existenzialen Verstehen.
Über
diese Art des Sehens darf erst entschieden werden, wenn die
expliziten Begriffe von Sein und Seinsstruktur gewonnen
sind, als
welche einzig Phänomene im phänomenologischen Sinne werden
können.
Die Erschlossenheit des Da im Verstehen ist selbst eine
Weise
des Seinkönnens des Daseins. In der Entworfenheit seines
Seins
auf das Worumwillen in eins mit der auf die Bedeutsamkeit
(Welt) liegt Erschlossenheit von Sein überhaupt. Im
Entwerfen
auf Möglichkeiten ist schon Seinsverständnis vorweggenommen.
Sein ist im Entwurf verstanden, nicht ontologisch begriffen.
Seiendes von der Seinsart des wesenhaften Entwurfs des
In-der-
Welt-seins hat als Konstitutivum seines Seins das
Seinsverständ-
nis. Was früher1 dogmatisch angesetzt wurde, erhält jetzt
seine
Aufweisung aus der Konstitution des Seins, in dem das Dasein
als
Verstehen sein Da ist. Eine den Grenzen dieser ganzen Unter-
suchung entsprechend befriedigende Aufklärung des
existenzialen
Sinnes dieses Seinsverständnisses wird erst auf Grund der
tempo-
ralen Seinsinterpretation erreicht werden können.
1 Vgl. § 4, S. 11
ff. 148
Befindlichkeit und Verstehen charakterisieren als Existenzialien
die ursprüngliche Erschlossenheit des In-der-Welt-seins. In
der
Weise der Gestimmtheit »sieht« das Dasein Möglichkeiten, aus
denen her es ist. Im entwerfenden Erschließen solcher
Möglich-
keiten ist es je schon gestimmt. Der Entwurf des eigensten
Sein-
könnens ist dem Faktum der Geworfenheit in das Da überant-
wortet. Wird mit der Explikation der existenzialen
Verfassung
des Seins des Da im Sinne des geworfenen Entwurfs das Sein
des
Daseins nicht rätselhafter? In der Tat. Wir müssen erst die
volle
Rätselhaftigkeit dieses Seins heraustreten lassen, wenn auch
nur,
um an seiner »Lösung« in echter Weise scheitern zu können
und
die Frage nach dem Sein des geworfen-entwerfenden
In-der-Welt-
seins erneut zu stellen.
Um zunächst auch nur die alltägliche Seinsart des
befindlichen
Verstehens, der vollen Erschlossenheit des Da phänomenal
hin-
reichend in den Blick zu bringen, bedarf es einer konkreten
Aus-
arbeitung dieser Existenzialien.
§ 32. Verstehen und Auslegung
Das Dasein entwirft als Verstehen sein Sein auf
Möglichkeiten.
Dieses verstehende Sein zu Möglichkeiten ist selbst durch
den
Rückschlag dieser als erschlossener in das Dasein ein
Seinkönnen.
Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit,
sich
auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Ausle-
gung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes
verste-
hend zu. In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas
ande-
res, sondern es selbst. Auslegung gründet existenzial im
Verste-
hen, und nicht entsteht dieses durch jene. Die Auslegung ist
nicht
die Kenntnisnahme des Verstandenen, sondern die Ausarbeitung
der im Verstehen entworfenen Möglichkeiten. Gemäß dem Zuge
dieser vorbereitenden Analysen des alltäglichen Daseins
verfolgen
wir das Phänomen der Auslegung am Verstehen der Welt, das
heißt dem uneigentlichen Verstehen und zwar im Modus seiner
Echtheit.
Aus der im Weltverstehen erschlossenen Bedeutsamkeit her
gibt
sich das besorgende Sein beim Zuhandenen zu verstehen,
welche
Bewandtnis es je mit dem Begegnenden haben kann. Die Umsicht
entdeckt, das bedeutet, die schon verstandene »Welt« wird
aus-
gelegt. Das Zuhandene kommt ausdrücklich in die verstehende
Sicht. Alles Zubereiten, Zurechtlegen, Instandsetzen,
Verbessern,
Ergänzen vollzieht sich in 149
der Weise, daß umsichtig Zuhandenes in seinem Um-zu ausei-
nandergelegt und gemäß der sichtig gewordenen Auseinanderge-
legtheit besorgt wird. Das umsichtig auf sein Um-zu
Auseinan-
dergelegte als solches, das ausdrücklich Verstandene, hat
die
Struktur des Etwas als Etwas. Auf die umsichtige Frage, was
dieses bestimmte Zuhandene sei, lautet die umsichtig
auslegende
Antwort: es ist zum... Die Angabe des Wozu ist nicht einfach
die
Nennung von etwas, sondern das Genannte ist verstanden als
das, als welches das in Frage stehende zu nehmen ist. Das im
Verstehen Erschlossene, das Verstandene ist immer schon so
zugänglich, daß an ihm sein »als was« ausdrücklich abgehoben
werden kann. Das »Als« macht die Struktur der
Ausdrücklichkeit
eines Verstandenen aus; es konstituiert die Auslegung. Der
umsichtig-auslegende Umgang mit dem umweltlich Zuhandenen,
der dieses als Tisch, Tür, Wagen, Brücke »sieht», braucht
das
umsichtig Ausgelegte nicht notwendig auch schon in einer
bestimmenden Aussage auseinander zu legen. Alles vorprädika-
tive schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon
ver-
stehend-auslegend. Aber macht nicht das Fehlen dieses »Als«
die
Schlichtheit eines puren Wahrnehmens von etwas aus? Das
Sehen
dieser Sicht ist je schon verstehend-auslegend. Es birgt in
sich die
Ausdrücklichkeit der Verweisungsbezüge (des Um-zu), die zur
Bewandtnisganzheit gehören, aus der her das schlicht
Begegnende
verstanden ist. Die Artikulation des Verstandenen in der
ausle-
genden Näherung des Seienden am Leitfaden des »Etwas als
etwas« liegt vor der thematischen Aussage darüber. In dieser
taucht das »Als« nicht zuerst auf, sondern wird nur erst
ausge-
sprochen, was allein so möglich ist, daß es als
Aussprechbares
vorliegt. Daß im schlichten Hinsehen die Ausdrücklichkeit
eines
Aussagens fehlen kann, berechtigt nicht dazu, diesem
schlichten
Sehen jede artikulierende Auslegung, mithin die Als-struktur
abzusprechen. Das schlichte Sehen der nächsten Dinge im
Zutun-
haben mit... trägt die Auslegungsstruktur so ursprünglich in
sich,
daß gerade ein gleichsam als-freies Erfassen von etwas einer
gewissen Umstellung bedarf. Das Nur-noch-vor-sich-Haben von
etwas liegt vor im reinen Anstarren als
Nicht-mehr-verstehen.
Dieses als-freie Erfassen ist eine Privation des schlicht
verstehen-
den Sehens, nicht ursprünglicher als dieses, sondern
abgeleitet aus
ihm. Die ontische Unausgesprochenheit des »als« darf nicht
dazu
verführen, es als apriorische existenziale Verfassung des
Verste-
hens zu übersehen.
Wenn aber schon jedes Wahrnehmen von zuhandenem Zeug
verstehend-auslegend ist, umsichtig etwas als etwas begegnen
läßt, sagt 150
das dann eben nicht: zunächst ist ein pures Vorhandenes
erfah-
ren, das dann als Tür, als Haus aufgefaßt wird? Das wäre ein
Mißverständnis der spezifischen Erschließungsfunktion der
Aus-
legung. Sie wirft nicht gleichsam über das nackte Vorhandene
eine »Bedeutung« und beklebt es nicht mit einem Wert,
sondern
mit dem innerweltlichen Begegnenden als solchem hat es je
schon
eine im Weltverstehen erschlossene Bewandtnis, die durch die
Auslegung herausgelegt wird.
Zuhandenes wird immer schon aus der Bewandtnisganzheit her
verstanden. Diese braucht nicht durch eine thematische
Ausle-
gung explizit erfaßt zu sein. Selbst wenn sie durch eine
solche
Auslegung hindurchgegangen ist, tritt sie wieder in das
unabge-
hobene Verständnis zurück. Und gerade in diesem Modus ist
sie
wesenhaftes Fundament der alltäglichen, umsichtigen
Auslegung.
Diese gründet jeweils in einer Vorhabe. Sie bewegt sich als
Ver-
ständniszueignung im verstehenden Sein zu einer schon
verstan-
denen Bewandtnisganzheit. Die Zueignung des Verstandenen,
aber noch Eingehüllten vollzieht die Enthüllung immer unter
der
Führung einer Hinsicht, die das fixiert, im Hinblick worauf
das
Verstandene ausgelegt werden soll. Die Auslegung gründet
jeweils in einer Vorsicht, die das in Vorhabe Genommene auf
eine bestimmte Auslegbarkeit hin »anschneidet«. Das in der
Vor-
habe gehaltene und »vorsichtig« anvisierte Verstandene wird
durch die Auslegung begreiflich. Die Auslegung kann die dem
auszulegenden Seienden zugehörige Begrifflichkeit aus diesem
selbst schöpfen oder aber in Begriffe zwängen, denen sich
das
Seiende gemäß seiner Seinsart widersetzt. Wie immer – die
Ausle-
gung hat sich je schon endgültig oder vorbehaltlich für eine
bestimmte Begrifflichkeit entschieden; sie gründet in einem
Vor-
griff.
Die Auslegung von Etwas als Etwas wird wesenhaft durch
Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff fundiert. Auslegung ist nie
ein
voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen. Wenn sich
die
besondere Konkretion der Auslegung im Sinne der exakten
Textinterpretation gern auf das beruft, was »dasteht«, so
ist das,
was zunächst »dasteht«, nichts anderes als die
selbstverständ-
liche, undiskutierte Vormeinung des Auslegers, die notwendig
in
jedem Auslegungsansatz liegt als das, was mit Auslegung über-
haupt schon »gesetzt«, das heißt in Vorhabe, Vorsicht,
Vorgriff
vorgegeben ist.
Wie ist der Charakter dieses »Vor-« zu begreifen? Ist es
damit
getan, wenn man formal »apriori« sagt? Warum eignet diese
Struktur dem Verstehen, das wir als fundamentales
Existenzial
des Daseins 151
kenntlich gemacht haben? Wie verhält sich zu ihr die dem
Aus-
gelegten als solchen eignende Struktur des »Als«? Dieses
Phäno-
men ist offenbar nicht »in Stücke« aufzulösen. Schließt das
aber
eine ursprüngliche Analytik aus? Sollen wir dergleichen
Phäno-
mene als »Letztheiten« hinnehmen? Dann bliebe noch die
Frage,
warum? Oder zeigen die Vor-Struktur des Verstehens und die
Als-Struktur der Auslegung einen existenzial-ontologischen
Zusammenhang mit dem Phänomen des Entwurfs? Und weist
dieses in eine ursprüngliche Seinsverfassung des Daseins
zurück?
Vor der Beantwortung dieser Fragen, dafür die bisherige
Zurüstung längst nicht ausreicht, muß untersucht werden, ob
das
als Vor-Struktur des Verstehens und qua Als-Struktur der
Ausle-
gung Sichtbare nicht schon selbst ein einheitliches Phänomen
darstellt, davon zwar in der philosophischen Problematik
ausgie-
big Gebrauch gemacht wird, ohne daß dem so universal
Gebrauchten die Ursprünglichkeit der ontologischen
Explikation
entsprechen will.
Im Entwerfen des Verstehens ist Seiendes in seiner
Möglichkeit
erschlossen. Der Möglichkeitscharakter entspricht jeweils
der
Seinsart des verstandenen Seienden. Das innerweltlich
Seiende
überhaupt ist auf Welt hin entworfen, das heißt auf ein
Ganzes
von Bedeutsamkeit, in deren Verweisungsbezügen das Besorgen
als In-der-Welt-sein sich im vorhinein festgemacht hat. Wenn
innerweltliches Seiendes mit dem Sein des Daseins entdeckt,
das
heißt zu Verständnis gekommen ist, sagen wir, es hat Sinn.
Ver-
standen aber ist, streng genommen, nicht der Sinn, sondern
das
Seiende, bzw. das Sein. Sinn ist das, worin sich
Verständlichkeit
von etwas hält. Was im verstehenden Erschließen
artikulierbar
ist, nennen wir Sinn. Der Begriff des Sinnes umfaßt das
formale
Gerüst dessen, was notwendig zu dem gehört, was verstehende
Auslegung artikuliert. Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht
und
Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her
etwas als etwas verständlich wird. Sofern Verstehen und
Ausle-
gung die existenziale Verfassung des Seins des Da ausmachen,
muß Sinn als das formal-existenziale Gerüst der dem
Verstehen
zugehörigen Erschlossenheit begriffen werden. Sinn ist ein
Exi-
stenzial des Daseins, nicht eine Eigenschaft, die am Seienden
haf-
tet, »hinter« ihm liegt oder als »Zwischenreich« irgendwo
schwebt. Sinn »hat« nur das Dasein, sofern die
Erschlossenheit
des In-der-Welt-seins durch das in ihr entdeckbare Seiende
»erfüllbar« ist. Nur Dasein kann daher sinnvoll oder sinnlos
sein.
Das besagt: sein eigenes Sein und das mit diesem
erschlossene
Seiende kann im Verständnis zugeeignet sein oder dem Unver-
ständnis versagt bleiben. 152
Hält man diese grundsätzlich ontologisch-existenziale
Interpre-
tation des Begriffes von »Sinn« fest, dann muß alles Seiende
von
nichtdaseinsmäßiger Seinsart als unsinniges, des Sinnes
überhaupt
wesenhaft bares begriffen werden. »Unsinnig« bedeutet hier
keine Wertung, sondern gibt einer ontologischen Bestimmung
Ausdruck. Und nur das Unsinnige kann widersinnig sein. Vor-
handenes kann als im Dasein Begegnendes gegen dessen Sein
gleichsam anlaufen, zum Beispiel hereinbrechende und zerstö-
rende Naturereignisse.
Und wenn wir nach dem Sinn von Sein fragen, dann wird die
Untersuchung nicht tiefsinnig und ergrübelt nichts, was
hinter
dem Sein steht, sondern fragt nach ihm selbst, sofern es in
die
Verständlichkeit des Daseins hereinsteht. Der Sinn von Sein
kann
nie in Gegensatz gebracht werden zum Seienden oder zum Sein
als tragenden »Grund« des Seienden, weil »Grund« nur als
Sinn
zugänglich wird, und sei er selbst der Abgrund der
Sinnlosigkeit.
Das Verstehen betrifft als die Erschlossenheit des Da immer
das
Ganze des In-der-Welt-seins. In jedem Verstehen von Welt ist
Existenz mitverstanden und umgekehrt. Alle Auslegung bewegt
sich ferner in der gekennzeichneten Vorstruktur. Alle
Auslegung,
die Verständnis beistellen soll, muß schon das Auszulegende
ver-
standen haben. Man hat diese Tatsache immer schon bemerkt,
wenn auch nur im Gebiet der abgeleiteten Weisen von
Verstehen
und Auslegung, in der philologischen Interpretation. Diese
gehört
in den Umkreis wissenschaftlichen Erkennens. Dergleichen
Erkenntnis verlangt die Strenge der begründenden Ausweisung.
Wissenschaftlicher Beweis darf nicht schon voraussetzen, was
zu
begründen seine Aufgabe ist. Wenn aber Auslegung sich je
schon
im Verstandenen bewegen und aus ihm her sich nähren muß, wie
soll sie dann wissenschaftliche Resultate zeitigen, ohne
sich in
einem Zirkel zu bewegen, zumal wenn das vorausgesetzte Ver-
ständnis überdies noch in der gemeinen Menschen- und Welt-
kenntnis sich bewegt? Der Zirkel aber ist nach den
elementarsten
Regeln der Logik circulus vitiosus. Damit aber bleibt das
Geschäft der historischen Auslegung a priori aus dem Bezirk
strenger Erkenntnis verbannt. Sofern man dieses Faktum des
Zirkels im Verstehen nicht wegbringt, muß sich die Historie
mit
weniger strengen Erkenntnismöglichkeiten abfinden. Man
erlaubt
ihr, diesen Mangel durch die »geistige Bedeutung« ihrer
»Gegen-
stände« einigermaßen zu ersetzen. Idealer wäre es freilich
auch
nach der Meinung der Historiker selbst, wenn der Zirkel
vermie-
den werden könnte und Hoffnung bestünde, einmal eine
Historie
zu schaffen, die vom Standort des Betrachters so unabhängig
wäre wie vermeintlich die Naturerkenntnis. 153
Aber in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Aus-
schau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als
unvermeid-
liche Unvollkommenheit »empfinden«, heißt das Verstehen von
Grund aus mißverstehen. Nicht darum geht es, Verstehen und
Auslegung einem bestimmten Erkenntnisideal anzugleichen, das
selbst nur eine Abart von Verstehen ist, die sich in die
recht-
mäßige Aufgabe einer Erfassung des Vorhandenen in seiner
wesenhaften Unverständlichkeit verlaufen hat. Die Erfüllung
der
Grundbedingungen möglichen Auslegens liegt vielmehr darin,
dieses nicht zuvor hinsichtlich seiner wesenhaften
Vollzugsbedin-
gungen zu verkennen. Das Entscheidende ist nicht, aus dem
Zir-
kel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzu-
kommen. Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in
dem
sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der
Aus-
druck der existenzialen Vor-struktur des Daseins selbst. Der
Zir-
kel darf nicht zu einem vitiosum und sei es auch zu einem
gedul-
deten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine
positive
Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in
echter
Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden
hat,
daß ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich
jeweils
Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und
Volks-
begriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus
den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu
sichern.
Weil Verstehen seinem existenzialen Sinn nach das Seinkönnen
des Daseins selbst ist, übersteigen die ontologischen
Vorausset-
zungen historischer Erkenntnis grundsätzlich die Idee der
Strenge
der exaktesten Wissenschaften. Mathematik ist nicht strenger
als
Historie, sondern nur enger hinsichtlich des Umkreises der
für sie
relevanten existenzialen Fundamente.
Der »Zirkel« im Verstehen gehört zur Struktur des Sinnes,
wel-
ches Phänomen in der existenzialen Verfassung des Daseins,
im
auslegenden Verstehen verwurzelt ist. Seiendes, dem es als
In-der-
Welt-sein um sein Sein selbst geht, hat eine ontologische
Zirkel-
struktur. Man wird jedoch unter Beachtung, daß »Zirkel«
onto-
logisch einer Seinsart von Vorhandenheit (Bestand) zugehört,
überhaupt vermeiden müssen, mit diesem Phänomen ontologisch
so etwas wie Dasein zu charakterisieren.
§ 33. Die Aussage als abkünftiger Modus der Auslegung
Alle Auslegung gründet im Verstehen. Das in der Auslegung
Gegliederte als solches und im Verstehen überhaupt als
Glieder-
bares Vorgezeichnete ist der Sinn. Sofern die Aussage (das
»Urteil«) im Ver- 154
stehen gründet und eine abgeleitete Vollzugsform der
Auslegung
darstellt, »hat« auch sie einen Sinn. Nicht jedoch kann
dieser als
das definiert werden, was »an« einem Urteil neben der
Urteils-
fällung vorkommt. Die ausdrückliche Analyse der Aussage im
vorliegenden Zusammenhang hat eine mehrfache Abzweckung.
Einmal kann an der Aussage demonstriert werden, in welcher
Weise die für Verstehen und Auslegung konstitutive Struktur
des
»Als« modifikabel ist. Verstehen und Auslegung kommen damit
in ein noch schärferes Licht. Sodann hat die Analyse der
Aussage
innerhalb der fundamentalontologischen Problematik eine
ausge-
zeichnete Stelle, weil in den entscheidenden Anfängen der
antiken
Ontologie der lÒgoj als einziger Leitfaden für den Zugang
zum
eigentlich Seienden und für die Bestimmung des Seins dieses
Sei-
enden fungierte. Schließlich gilt die Aussage von alters her
als der
primäre und eigentliche »Ort« der Wahrheit. Dieses Phänomen
ist mit dem Seinsproblem so eng verkoppelt, daß die
vorliegende
Untersuchung in ihrem weiteren Gang notwendig auf das Wahr-
heitsproblem stößt, sie steht sogar schon, obzwar
unausdrück-
lich, in seiner Dimension. Die Analyse der Aussage soll
diese
Problematik mit vorbereiten.
Im folgenden weisen wir dem Titel Aussage drei Bedeutungen
zu, die aus dem damit bezeichneten Phänomen geschöpft sind,
unter sich zusammenhängen und in ihrer Einheit die volle
Struk-
tur der Aussage umgrenzen.
1. Aussage bedeutet primär Aufzeigung. Wir halten damit den
ursprünglichen Sinn von lÒgoj als ¢pÒfansij fest: Seiendes
von
ihm selbst her sehen lassen. In der Aussage: »Der Hammer ist
zu
schwer« ist das für die Sicht Entdeckte kein »Sinn«, sondern
ein
Seiendes in der Weise seiner Zuhandenheit. Auch wenn dieses
Seiende nicht in greifbarer und »sichtbarer« Nähe ist, meint
die
Aufzeigung das Seiende selbst und nicht etwa eine bloße Vor-
stellung seiner, weder ein »bloß Vorgestelltes« noch gar
einen
psychischen Zustand des Aussagenden, sein Vorstellen dieses
Seienden.
2. Aussage besagt soviel wie Prädikation. Von einem »Subjekt«
wird ein »Prädikat« »ausgesagt«, jenes wird durch dieses
bestimmt. Das Ausgesagte in dieser Bedeutung von Aussage ist
nicht etwa das Prädikat, sondern »der Hammer selbst«. Das
Aussagende, das heißt Bestimmende dagegen liegt in dem »zu
schwer«. Das Ausgesagte in der zweiten Bedeutung von
Aussage,
das Bestimmte als solches, hat 155
gegenüber dem Ausgesagten in der ersten Bedeutung dieses
Titels
gehaltlich eine Verengung erfahren. Jede Prädikation ist,
was sie
ist, nur als Aufzeigung. Die zweite Bedeutung von Aussage
hat
ihr Fundament in der ersten. Die Glieder der prädizierenden
Artikulation, Subjekt – Prädikat, erwachsen innerhalb der
Auf-
zeigung. Das Bestimmen entdeckt nicht erst, sondern schränkt
als
Modus der Aufzeigung das Sehen zunächst gerade ein auf das
Sichzeigende – Hammer – als solches, um durch die ausdrück-
liche Einschränkung des Blickes das Offenbare in seiner
Bestimmtheit ausdrücklich offenbar zu machen. Das Bestimmen
geht angesichts des schon Offenbaren – des zu schweren Ham-
mers – zunächst einen Schritt zurück; die »Subjektsetzung«
blen-
det das Seiende ab auf »der Hammer da«, um durch den Vollzug
der Entblendung das Offenbare in seiner bestimmbaren
Bestimmtheit sehen zu lassen. Subjektsetzung,
Prädikatsetzung
sind in eins mit der Hinzusetzung durch und durch »apophan-
tisch« im strengen Wortsinne.
3. Aussage bedeutet Mitteilung, Heraussage. Als diese hat
sie
direkten Bezug zur Aussage in der ersten und zweiten
Bedeutung.
Sie ist Mitsehenlassen des in der Weise des Bestimmens
Aufge-
zeigten. Das Mitsehenlassen teilt das in seiner Bestimmtheit
auf-
gezeigte Seiende mit dem Anderen. »Geteilt« wird das gemein-
same sehende Sein zum Aufgezeigten, welches Sein zu ihm
fest-
gehalten werden muß als Inder-Welt-sein, in der Welt
nämlich,
aus der her das Aufgezeigte begegnet. Zur Aussage als der so
existenzial verstandenen Mit-teilung gehört die
Ausgesprochen-
heit. Das Ausgesagte als Mitgeteiltes kann von den Anderen
mit
dem Aussagenden »geteilt« werden, ohne daß sie selbst das
auf-
gezeigte und bestimmte Seiende in greif- und sichtbarer Nähe
haben. Das Ausgesagte kann »weiter-gesagt« werden. Der Um-
kreis des sehenden Miteinanderteilens erweitert sich.
Zugleich
aber kann sich dabei im Weitersagen das Aufgezeigte gerade
wie-
der verhüllen, obzwar auch das in solchem Hörensagen erwach-
sende Wissen und Kennen immer noch das Seiende selbst meint
und nicht etwa einen herumgereichten »geltenden Sinn«
»bejaht«. Auch das Hörensagen ist ein In-der-Welt-sein und
Sein
zum Gehörten.
Die heute vorherrschend am Phänomen der »Geltung« orien-
tierte Theorie des »Urteils« soll hier nicht weitläufig
besprochen
werden Es genüge der Hinweis auf die vielfache
Fragwürdigkeit
dieses Phänomens der »Geltung«, das seit Lotze gern als
nicht
weiter zurückführbares »Urphänomen« ausgegeben wird. Diese
Rolle verdankt es nur seiner ontologischen Ungeklärtheit.
Die
»Problematik«, die sich 156
um diesen Wortgötzen angesiedelt hat, ist nicht minder
undurch-
sichtig. Geltung meint einmal die »Form« der Wirklichkeit,
die
dem Urteilsgehalt zukommt, sofern er unveränderlich besteht
gegenüber dem veränderlichen »psychischen« Urteilsvorgang.
Bei
dem in der Einleitung zu dieser Abhandlung charakterisierten
Stand der Seinsfrage überhaupt wird kaum erwartet werden
dür-
fen, daß »Geltung« als das »ideale Sein« sich durch
besondere
ontologische Klarheit auszeichnet. Geltung besagt dann
zugleich
Geltung des geltenden Urteilssinnes von dem darin gemeinten
»Objekt« und rückt so in die Bedeutung von »objektiver
Gültig-
keit« und Objektivität überhaupt. Der so vom Seienden »gel-
tende« und an ihm selbst »zeitlos« geltende Sinn »gilt« dann
noch einmal im Sinne des Geltens für jeden vernünftig Urteilen-
den. Geltung besagt jetzt Verbindlichkeit,
»Allgemeingültigkeit«.
Vertritt man gar noch eine »kritische« Erkenntnistheorie,
wonach das Subjekt »eigentlich« zum Objekt nicht »hinaus-
kommt«, dann wird die Gültigkeit als Geltung vom Objekt,
Objektivität, auf den geltenden Bestand des wahren (!)
Sinnes
gegründet. Die drei herausgestellten Bedeutungen von
»Gelten«,
als Weise des Seins von Idealem, als Objektivität und als
Ver-
bindlichkeit, sind nicht nur an sich undurchsichtig, sondern
sie
verwirren sich ständig unter ihnen selbst. Methodische
Vorsicht
verlangt, dergleichen schillernde Begriffe nicht zum
Leitfaden der
Interpretation zu wählen. Den Begriff des Sinnes
restringieren wir
nicht zuvor auf die Bedeutung von »Urteilsgehalt«, sondern
ver-
stehen ihn als das gekennzeichnete, existenziale Phänomen,
darin
das formale Gerüst des im Verstehen Erschließbaren und in
der
Auslegung Artikulierbaren überhaupt sichtbar wird.
Wenn wir die drei analysierten Bedeutungen von »Aussage« im
einheitlichen Blick auf das volle Phänomen zusammennehmen,
lautet die Definition: Aussage ist mitteilend bestimmende
Aufzei-
gung. Zu fragen bleibt: Mit welchem Recht fassen wir
überhaupt
die Aussage als Modus von Auslegung? Ist sie so etwas, dann
müssen in ihr die wesenhaften Strukturen der Auslegung
wieder-
kehren. Das Aufzeigen der Aussage vollzieht sich auf dem
Grunde des im Verstehen schon Erschlossenen bzw. umsichtig
Entdeckten. Aussage ist kein freischwebendes Verhalten, das
von
sich aus primär Seiendes überhaupt erschließen könnte,
sondern
hält sich schon immer auf der Basis des In-der-Welt-seins.
Was
früher1 bezüglich des Welterkennens gezeigt
1 Vgl § 13, S. 59
ff. 157
wurde, gilt nicht weniger von der Aussage. Sie bedarf einer
Vor-
habe von überhaupt Erschlossenem, das sie in der Weise des
Bestimmens aufzeigt. Im bestimmenden Ansetzen liegt ferner
schon eine ausgerichtete Hinblicknahme auf das Auszusagende.
Woraufhin das vorgegebene Seiende anvisiert wird, das über-
nimmt im Bestimmungsvollzug die Funktion des Bestimmenden.
Die Aussage bedarf einer Vorsicht, in der gleichsam das
abzuhe-
bende und zuzuweisende Prädikat in seiner unausdrücklichen
Beschlossenheit im Seienden selbst aufgelockert wird. Zur
Aus-
sage als bestimmender Mitteilung gehört jeweils eine bedeu-
tungsmäßige Artikulation des Aufgezeigten, sie bewegt sich
in
einer bestimmten Begrifflichkeit: Der Hammer ist schwer, die
Schwere kommt dem Hammer zu, der Hammer hat die Eigen-
schaft der Schwere. Der im Aussagen immer auch mitliegende
Vorgriff bleibt meist unauffällig, weil die Sprache je schon
eine
ausgebildete Begrifflichkeit in sich birgt. Die Aussage hat
not-
wendig wie Auslegung überhaupt die existenzialen Fundamente
in Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff.
Inwiefern wird sie aber zu einem abkünftigen Modus der Aus-
legung? Was hat sich an ihr modifiziert? Wir können die
Modifi-
kation aufzeigen, wenn wir uns an Grenzfälle von Aussagen
hal-
ten, die in der Logik als Normalfälle und als Exempel der
»ein-
fachsten« Aussagephänomene fungieren. Was die Logik mit dem
kategorischen Aussagesatz zum Thema macht, zum Beispiel »der
Hammer ist schwer«, das hat sie vor aller Analyse auch immer
schon »logisch« verstanden. Unbesehen ist als »Sinn« des
Satzes
schon vorausgesetzt: das Hammerding hat die Eigenschaft der
Schwere. In der besorgenden Umsicht gibt es dergleichen
Aussa-
gen »zunächst« nicht. Wohl aber hat sie ihre spezifischen
Weisen
der Auslegung, die mit Bezug auf das genannte »theoretische
Urteil« lauten können: »Der Hammer ist zu schwer« oder eher
noch: »zu schwer«, »den anderen Hammer!«. Der ursprüngliche
Vollzug der Auslegung liegt nicht in einem theoretischen
Aussa-
gesatz, sondern im umsichtig-besorgenden Weglegen bzw. Wech-
seln des ungeeigneten Werkzeuges, »ohne dabei ein Wort zu
ver-
lieren«. Aus dem Fehlen der Worte darf nicht auf das Fehlen
der
Auslegung geschlossen werden. Andererseits ist die umsichtig
ausgesprochene Auslegung nicht notwendig schon eine Aussage
im definierten Sinne. Durch welche existenzial-ontologischen
Modifikationen entspringt die Aussage aus der umsichtigen
Aus-
legung?
Das in der Vorhabe gehaltene Seiende, der Hammer zum Bei-
spiel, ist zunächst zuhanden als Zeug. Wird dieses Seiende
»Gegenstand« 158
einer Aussage, dann vollzieht sich mit dem Aussageansatz im
vorhinein ein Umschlag in der Vorhabe. Das zuhandene Womit
des Zutunhabens, der Verrichtung, wird zum »Worüber« der
aufzeigenden Aussage. Die Vorsicht zielt auf ein Vorhandenes
am
Zuhandenen. Durch die Hin-sicht und für sie wird das Zuhan-
dene als Zuhandenes verhüllt. Innerhalb dieses die
Zuhandenheit
verdeckenden Entdeckens der Vorhandenheit wird das begeg-
nende Vorhandene in seinem So-und-so-vorhandensein bestimmt.
Jetzt erst öffnet sich der Zugang zu so etwas wie
Eigenschaften.
Das Was, als welches die Aussage das Vorhandene bestimmt,
wird aus dem Vorhandenen als solchem geschöpft. Die
Als-Struk-
tur der Auslegung hat eine Modifikation erfahren. Das »Als«
greift in seiner Funktion der Zueignung des Verstandenen
nicht
mehr aus in eine Bewandtnisganzheit. Es ist bezüglich seiner
Möglichkeiten der Artikulation von Verweisungsbezügen von
der
Bedeutsamkeit, als welche die Umweltlichkeit konstituiert,
abge-
schnitten. Das »Als« wird in die gleichmäßige Ebene des nur
Vorhandenen zurückgedrängt. Es sinkt herab zur Struktur des
bestimmenden Nur-sehen-lassens von Vorhandenem. Diese
Nivellierung des ursprünglichen »Als« der umsichtigen Ausle-
gung zum Als der Vorhandenheitsbestimmung ist der Vorzug der
Aussage. Nur so gewinnt sie die Möglichkeit puren
hinsehenden
Aufweisens.
So kann die Aussage ihre ontologische Herkunft aus der ver-
stehenden Auslegung nicht verleugnen. Das ursprüngliche
»Als«
der umsichtig verstehenden Auslegung (Œrmhne?a) nennen wir
das
existenzial-hermeneutische »Als« im Unterschied vom
apophanti-
schen »Als« der Aussage.
Zwischen der im besorgenden Verstehen noch ganz eingehüll-
ten Auslegung und dem extremen Gegenfall einer theoretischen
Aussage über Vorhandenes gibt es mannigfache Zwischenstufen.
Aussagen über Geschehnisse in der Umwelt, Schilderungen des
Zuhandenen, »Situationsberichte«, Aufnahme und Fixierung
eines »Tatbestandes«, Beschreibung einer Sachlage, Erzählung
des Vorgefallenen. Diese »Sätze« lassen sich nicht, ohne
wesent-
liche Verkehrung ihres Sinnes, auf theoretische Aussagesätze
zurückführen. Sie haben, wie diese selbst, ihren »Ursprung«
in
der umsichtigen Auslegung.
Bei der fortschreitenden Erkenntnis der Struktur des lÒgoj
konnte es nicht ausbleiben, daß dieses Phänomen des apophan-
tischen »Als« in irgendeiner Gestalt in den Blick kam. Die
Art,
wie es zunächst gesehen wurde, ist nicht zufällig und hat
auch
ihre Auswirkung auf die nachkommende Geschichte der Logik
nicht verfehlt. 159
Für die philosophische Betrachtung ist der lÒgoj selbst ein
Sei-
endes und gemäß der Orientierung der antiken Ontologie ein
Vorhandenes. Zunächst vorhanden, das heißt vorfindlich wie
Dinge sind die Wörter und ist die Wörterfolge, als in
welcher er
sich ausspricht. Dies erste Suchen nach der Struktur des so
vor-
handenen lÒgoj findet ein Zusammenvorhandensein mehrerer
Wörter. Was stiftet die Einheit dieses Zusammen? Sie liegt,
was
Plato erkannte, darin, daß der lÒgoj immer lÒgoj tinÒj ist.
Im
Hinblick auf das im lÒgoj offenbare Seiende werden die
Wörter
zu einem Wortganzen zusammengesetzt. Aristoteles sah radika-
ler; jeder lÒgoj ist sÚnqesij und dia?resij zugleich, nicht
entweder
das eine – etwa als »positives Urteil« – oder das andere –
als
»negatives Urteil«. Jede Aussage ist vielmehr, ob bejahend
oder
verneinend, ob wahr oder falsch, gleichursprünglich sÚnqesij
und
dia?resij. Die Aufweisung ist Zusammen- und Auseinanderneh-
men. Allerdings hat Aristoteles die analytische Frage nicht
weiter
vorgetrieben zum Problem: welches Phänomen innerhalb der
Struktur des lÒgoj ist es denn, was erlaubt und verlangt,
jede
Aussage als Synthesis und Diairesis zu charakterisieren?
Was mit den formalen Strukturen von »Verbinden« und
»Trennen«, genauer mit der Einheit derselben phänomenal
getroffen werden sollte, ist das Phänomen des »etwas als
etwas«.
Gemäß dieser Struktur wird etwas auf etwas hin verstanden –
in
der Zusammennähme mit ihm, so zwar, daß dieses verstehende
Konfrontieren auslegend artikulierend das Zusammengenom-
mene zugleich auseinandernimmt. Bleibt das Phänomen des
»Als« verdeckt und vor allem in seinem existenzialen
Ursprung
aus dem hermeneutischen »Als« verhüllt, dann zerfällt der
phä-
nomenologische Ansatz des Aristoteles zur Analyse des lÒgoj
in
eine äußerliche »Urteilstheorie«, wonach Urteilen ein
Verbinden
bzw. Trennen von Vorstellungen und Begriffen ist.
Verbinden und Trennen lassen sich dann weiter formalisieren
zu einem »Beziehen«. Logistisch wird das Urteil in ein
System
von »Zuordnungen« aufgelöst, es wird zum Gegenstand eines
»Rechnens«, aber nicht zum Thema ontologischer Interpretation.
Möglichkeit und Unmöglichkeit des analytischen
Verständnisses
von sÚnqesij und dia?resij, von »Beziehung« im Urteil
überhaupt
ist eng mit dem jeweiligen Stande der grundsätzlichen
ontologi-
schen Problematik verknüpft.
Wie weit diese in die Interpretation des lÒgoj und umgekehrt
der Begriff des »Urteils« mit einem merkwürdigen Rückschlag
in
die ontologische Problematik hineinwirkt, zeigt das Phänomen
der Copula. An diesem »Band« kommt zutage, daß zunächst die
Synthesisstruktur 160
als selbstverständlich angesetzt wird und daß sie die
maßgebende
interpretatorische Funktion auch behalten hat. Wenn aber die
formalen Charaktere von »Beziehung« und »Verbindung« phä-
nomenal nichts zur sachhaltigen Strukturanalyse des lÒgoj
bei-
steuern können, dann hat am Ende das mit dem Titel Copula
gemeinte Phänomen nichts mit Band und Verbindung zu tun. Das
»ist« und seine Interpretation, mag es sprachlich eigens
ausge-
drückt oder in der Verbalendung angezeigt sein, rückt aber
dann,
wenn Aussagen und Seinsverständnis existenziale
Seinsmöglich-
keiten des Daseins selbst sind, in den Problemzusammenhang
der
existenzialen Analytik. Die Ausarbeitung der Seinsfrage
(ver-
gleiche I. Teil, 3. Abschnitt) wird denn auch diesem
eigentüm-
lichen Seinsphänomen innerhalb des lÒgoj wieder begegnen.
Vorläufig galt es nur, mit dem Nachweis der Abkünftigkeit
der
Aussage von Auslegung und Verstehen deutlich zu machen, daß
die »Logik« des lÒgoj in der existenzialen Analytik des
Daseins
verwurzelt ist. Die Erkenntnis der ontologisch
unzureichenden
Interpretation des lÒgoj verschärft zugleich die Einsicht in
die
Nichtursprünglichkeit der methodischen Basis, auf der die
antike
Ontologie erwachsen ist. Der lÒgoj wird als Vorhandenes
erfah-
ren, als solches interpretiert, imgleichen hat das Seiende,
das er
aufzeigt, den Sinn von Vorhandenheit. Dieser Sinn von Sein
bleibt selbst indifferent unabgehoben gegen andere
Seinsmöglich-
keiten, so daß sich mit ihm zugleich das Sein im Sinne des
for-
malen Etwas-Seins verschmilzt, ohne daß auch nur eine reine
regionale Scheidung beider gewonnen werden konnte.
§ 34. Da-sein und Rede. Die Sprache
Die fundamentalen Existenzialien, die das Sein des Da, die
Erschlossenheit des In-der-Welt-seins konstituieren, sind
Befind-
lichkeit und Verstehen. Verstehen birgt in sich die
Möglichkeit
der Auslegung, das ist der Zueignung des Verstandenen.
Sofern
die Befindlichkeit mit Verstehen gleichursprünglich ist,
hält sie
sich in einem gewissen Verständnis. Ihr entspricht ebenso
eine
gewisse Auslegbarkeit. Mit der Aussage wurde ein extremes
Derivat der Auslegung sichtbar gemacht. Die Klärung der
dritten
Bedeutung von Aussage als Mitteilung (Heraussage) führte in
den
Begriff des Sagens und Sprechens, der bislang unbeachtet
blieb
und zwar mit Absicht. Daß jetzt erst Sprache Thema wird,
soll
anzeigen, daß dieses Phänomen in der existenzialen
Verfassung
der Erschlossenheit des Daseins seine Wurzeln hat. Das
existen-
zial-ontologische Fundament der Sprache ist die Rede. Von
die- 161
sem Phänomen haben wir in der bisherigen Interpretation der
Befindlichkeit, des Verstehens, der Auslegung und der
Aussage
ständig schon Gebrauch gemacht, es in der thematischen
Analyse
aber gleichsam unterschlagen.
Die Rede ist mit Befindlichkeit und Verstehen existenzial
gleichursprünglich. Verständlichkeit ist auch schon vor der
zueignenden Auslegung immer schon gegliedert. Rede ist die
Artikulation der Verständlichkeit. Sie liegt daher der
Auslegung
und Aussage schon zugrunde. Das in der Auslegung, ursprüng-
licher mithin schon in der Rede Artikulierbare nannten wir
den
Sinn. Das in der redenden Artikulation Gegliederte als
solches
nennen wir das Bedeutungsganze. Dieses kann in Bedeutungen
aufgelöst werden. Bedeutungen sind als das Artikulierte des
Arti-
kulierbaren immer sinnhaft. Wenn die Rede, die Artikulation
der
Verständlichkeit des Da, ursprüngliches Existenzial der
Erschlos-
senheit ist, diese aber primär konstituiert wird durch das
In-der-
Welt-sein, muß auch die Rede wesenhaft eine spezifisch
weltliche
Seinsart haben. Die befindliche Verständlichkeit des
In-der-Welt-
seins spricht sich als Rede aus. Das Bedeutungsganze der
Ver-
ständlichkeit kommt zu Wort. Den Bedeutungen wachsen Worte
zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen.
Die Hinausgesprochenheit der Rede ist die Sprache. Diese
Wortganzheit, als in welcher die Rede ein eigenes
»weltliches«
Sein hat, wird so als innerweltlich Seiendes wie ein
Zuhandenes
vorfindlich. Die Sprache kann zerschlagen werden in
vorhandene
Wörterdinge. Die Rede ist existenzial Sprache, weil das
Seiende,
dessen Erschlossenheit sie bedeutungsmäßig artikuliert, die
Seins-
art des geworfenen, auf die »Welt« angewiesenen In-der-Welt-
seins hat.
Als existenziale Verfassung der Erschlossenheit des Daseins
ist
die Rede konstitutiv für dessen Existenz. Zum redenden
Sprechen
gehören als Möglichkeiten Hören und Schweigen. An diesen
Phänomenen wird die konstitutive Funktion der Rede für die
Existenzialität der Existenz erst völlig deutlich. Zunächst
geht es
um die Herausarbeitung der Struktur der Rede als solcher.
Reden ist das »bedeutende« Gliedern der Verständlichkeit des
In-der-Welt-seins, dem das Mitsein zugehört, und das sich je
in
einer bestimmten Weise des besorgenden Miteinanderseins
hält.
Dieses ist redend als zu- und absagen, auffordern, warnen,
als
Aussprache, Rücksprache, Fürsprache, ferner als »Aussagen
ma-
chen« und als reden in der Weise des »Redenhaltens«. Reden
ist
Rede über... Das Worüber der Rede hat nicht notwendig,
zumeist
sogar nicht den Cha- 162
rakter des Themas einer bestimmenden Aussage. Auch ein
Befehl
ist ergangen über –; der Wunsch hat sein Worüber. Der Für-
sprache fehlt nicht ihr Worüber. Die Rede hat notwendig
dieses
Strukturmoment, weil sie die Erschlossenheit des
In-der-Welt-
seins mitkonstituiert, in ihrer eigenen Struktur durch diese
Grundverfassung des Daseins vorgebildet ist. Das Beredete
der
Rede ist immer in bestimmter Hinsicht und in gewissen
Grenzen
»angeredet«. In jeder Rede liegt ein Geredetes als solches,
das im
jeweiligen Wünschen, Fragen, Sichaussprechen über... Gesagte
als
solches. In diesem teilt sich die Rede mit.
Das Phänomen der Mitteilung muß, wie schon bei der Analyse
angezeigt wurde, in einem ontologisch weiten Sinne
verstanden
werden. Aussagende »Mitteilung«, die Benachrichtigung zum
Beispiel, ist ein Sonderfall der existenzial grundsätzlich
gefaßten
Mitteilung. In dieser konstituiert sich die Artikulation des
verste-
henden Miteinanderseins. Sie vollzieht die »Teilung« der
Mitbe-
findlichkeit und des Verständnisses des Mitseins. Mitteilung
ist
nie so etwas wie ein Transport von Erlebnissen, zum Beispiel
Meinungen und Wünschen aus dem Inneren des einen Subjekts in
das Innere des anderen. Mitdasein ist wesenhaft schon
offenbar
in der Mitbefindlichkeit und im Mitverstehen. Das Mitsein
wird
in der Rede »ausdrücklich« geteilt, das heißt es ist schon,
nur
ungeteilt als nicht ergriffenes und zugeeignetes.
Alle Rede über..., die in ihrem Geredeten mitteilt, hat
zugleich
den Charakter des Sichaussprechens. Redend spricht sich
Dasein
aus, nicht weil es zunächst als »Inneres« gegen ein Draußen
ab-
gekapselt ist, sondern weil es als In-der-Welt-sein
verstehend
schon »draußen« ist. Das Ausgesprochene ist gerade das
Draußensein, das heißt die jeweilige Weise der
Befindlichkeit (der
Stimmung), von der gezeigt wurde, daß sie die volle
Erschlossen-
heit des In-Seins betrifft. Der sprachliche Index der zur
Rede
gehörenden Bekundung des befindlichen In-Seins liegt im
Tonfall,
der Modulation, im Tempo der Rede, »in der Art des
Sprechens«.
Die Mitteilung der existenzialen Möglichkeiten der
Befindlich-
keit, das heißt das Erschließen von Existenz, kann eigenes
Ziel
der »dichtenden« Rede werden.
Die Rede ist die bedeutungsmäßige Gliederung der
befindlichen
Verständlichkeit des In-der-Welt-seins. Als konstitutive
Momente
gehören ihr zu: das Worüber der Rede (das Beredete), das
Gere-
dete als solches, die Mitteilung und die Bekundung. Das sind
keine Eigenschaften, die sich nur empirisch an der Sprache
auf-
raffen lassen, sondern in der Seinsverfassung des Daseins
verwur-
zelte existenziale 163
Charaktere, die so etwas wie Sprache ontologisch erst ermög-
lichen. In der faktischen Sprachgestalt einer bestimmten
Rede
können einzelne dieser Momente fehlen, bzw. unbemerkt
bleiben.
Daß sie oft »wörtlich« nicht zum Ausdruck kommen, ist nur
der
Index einer bestimmten Art der Rede, die, sofern sie ist, je
in der
Ganzheit der genannten Strukturen sein muß.
Die Versuche, das »Wesen der Sprache« zu fassen, haben denn
immer auch die Orientierung an einem einzelnen dieser
Momente
genommen und die Sprache begriffen am Leitfaden der Idee des
»Ausdrucks«, der »symbolischen Form«, der Mitteilung als
»Aussage«, der »Kundgabe« von Erlebnissen oder der »Gestal-
tung« des Lebens. Für eine voll zureichende Definition der
Sprache wäre aber auch nichts gewonnen, wollte man diese
ver-
schiedenen Bestimmungsstücke synkretistisch
zusammenschieben.
Das Entscheidende bleibt, zuvor das ontologisch-existenziale
Ganze der Struktur der Rede auf dem Grunde der Analytik des
Daseins herauszuarbeiten.
Der Zusammenhang der Rede mit Verstehen und Verständlich-
keit wird deutlich aus einer zum Reden selbst gehörenden
exi-
stenzialen Möglichkeit, aus dem Hören. Wir sagen nicht
zufällig,
wenn wir nicht »recht« gehört haben, wir haben nicht
»verstan-
den«. Das Hören ist für das Reden konstitutiv. Und wie die
sprachliche Verlautbarung in der Rede gründet, so das
akustische
Vernehmen im Hören. Das Hören auf... ist das existenziale
Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen. Das Hören
konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des
Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme
des
Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt. Das Dasein hört,
weil
es versteht. Als verstehendes In-der-Welt-sein mit den
Anderen ist
es dem Mitdasein und ihm selbst »hörig« und in dieser
Hörigkeit
zugehörig. Das Aufeinander-hören, in dem sich das Mitsein
aus-
bildet, hat die möglichen Weisen des Folgens, Mitgehens, die
privativen Modi des Nicht-Hörens, des Widersetzens, des
Trotzens, der Abkehr.
Auf dem Grunde dieses existenzial primären Hörenkönnens ist
so etwas möglich wie Horchen, das selbst phänomenal noch ur-
sprünglicher ist als das, was man in der Psychologie
»zunächst«
als Hören bestimmt, das Empfinden von Tönen und das Verneh-
men von Lauten. Auch das Horchen hat die Seinsart des
verste-
henden Hörens. »Zunächst« hören wir nie und nimmer Geräu-
sche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das
Motorrad. Man hört die Kolonne auf dem Marsch, den Nord-
wind, den klopfenden Specht, das knisternde Feuer. 164
Es bedarf schon einer sehr künstlichen und komplizierten
Ein-
stellung, um ein »reines Geräusch« zu »hören«. Daß wir aber
zunächst Motorräder und Wagen hören, ist der phänomenale
Beleg dafür, daß das Dasein als In-der-Welt-sein je schon
beim
innerweltlich Zuhandenen sich aufhält und zunächst gar nicht
bei
»Empfindungen«, deren Gewühl zuerst geformt werden müßte,
um das Sprungbrett abzugeben, von dem das Subjekt abspringt,
um schließlich zu einer »Welt« zu gelangen. Das Dasein ist
als
wesenhaft verstehendes zunächst beim Verstandenen.
Auch im ausdrücklichen Hören der Rede des Anderen verste-
hen wir zunächst das Gesagte, genauer, wir sind im Vorhinein
schon mit dem Anderen bei dem Seienden, worüber die Rede
ist.
Nicht dagegen hören wir zunächst das Ausgesprochene der Ver-
lautbarung. Sogar dort, wo das Sprechen undeutlich oder gar
die
Sprache fremd ist, hören wir zunächst unverständliche Worte
und
nicht eine Mannigfaltigkeit von Tondaten.
Im »natürlichen« Hören des Worüber der Rede können wir
allerdings zugleich auf die Weise des Gesagtseins, die
»Diktion«
hören, aber auch das nur in einem vorgängigen Mitverstehen
des
Geredeten; denn nur so besteht die Möglichkeit, das Wie des
Gesagtseins abzuschätzen in seiner Angemessenheit an das
the-
matische Worüber der Rede.
Imgleichen erfolgt die Gegenrede als Antwort zunächst direkt
aus dem Verstehen des im Mitsein schon »geteilten« Worüber
der
Rede.
Nur wo die existenziale Möglichkeit von Reden und Hören
gegeben ist, kann jemand horchen. Wer »nicht hören kann« und
»fühlen muß«, der vermag vielleicht sehr wohl und gerade
des-
halb zu horchen. Das Nur-herum-hören ist eine Privation des
hörenden Verstehens. Reden und Hören gründen im Verstehen.
Dieses entsteht weder durch vieles Reden noch durch geschäftiges
Herumhören. Nur wer schon versteht, kann zuhören.
Dasselbe existenziale Fundament hat eine andere wesenhafte
Möglichkeit des Redens, das Schweigen. Wer im Miteinanderre-
den schweigt, kann eigentlicher »zu verstehen geben«, das
heißt
das Verständnis ausbilden, als der, dem das Wort nicht
ausgeht.
Mit dem Viel-sprechen über etwas ist nicht im mindesten
gewährleistet, daß dadurch das Verständnis weiter gebracht
wird.
Im Gegenteil: das weitläufige Bereden verdeckt und bringt
das
Verstandene in die Scheinklarheit, das heißt
Unverständlichkeit
der Trivialität. Schweigen heißt aber nicht stumm sein. Der
Stumme hat umgekehrt die Tendenz zum »Sprechen«. Ein Stum-
mer hat nicht nur nicht bewiesen, daß er schwei- 165
gen kann, es fehlt ihm sogar jede Möglichkeit, dergleichen
zu
beweisen. Und so wenig wie der Stumme zeigt einer, der von
Natur gewohnt ist, wenig zu sprechen, daß er schweigt und
schweigen kann. Wer nie etwas sagt, vermag im gegebenen
Augenblick auch nicht zu schweigen. Nur im echten Reden ist
eigentliches Schweigen möglich. Um schweigen zu können, muß
das Dasein etwas zu sagen haben, das heißt über eine
eigentliche
und reiche Erschlossenheit seiner selbst verfügen. Dann
macht
Verschwiegenheit offenbar und schlägt das »Gerede« nieder.
Verschwiegenheit artikuliert als Modus des Redens die
Verständ-
lichkeit des Daseins so ursprünglich, daß ihr das echte
Hören-
können und durchsichtige Miteinandersein entstammt.
Weil für das Sein des Da, das heißt Befindlichkeit und
Verste-
hen, die Rede konstitutiv ist, Dasein aber besagt:
In-der-Welt-
sein, hat das Dasein als redendes In-Sein sich schon ausge-
sprochen. Das Dasein hat Sprache. Ist es Zufall, daß die
Grie-
chen, deren alltägliches Existieren sich vorwiegend in das
Mitein-
anderreden verlegt hatte, und die zugleich »Augen hatten«,
zu
sehen, in der vorphilosophischen sowohl wie in der
philosophi-
schen Daseinsauslegung das Wesen des Menschen bestimmten als
zùon lÒgon /con? Die
spätere Auslegung dieser Definition des
Menschen im Sinne von animal rationale, »vernünftiges
Lebewe-
sen«, ist zwar nicht »falsch«, aber sie verdeckt den
phänomena-
len Boden, dem diese Definition des Daseins entnommen ist.
Der
Mensch zeigt sich als Seiendes, das redet. Das bedeutet
nicht, daß
ihm die Möglichkeit der stimmlichen Verlautbarung eignet,
son-
dern daß dieses Seiende ist in der Weise des Entdeckens der
Welt
und des Daseins selbst. Die Griechen haben kein Wort für
Sprache, sie verstanden dieses Phänomen »zunächst« als Rede.
Weil jedoch für die philosophische Besinnung der lÒgoj
vorwie-
gend als Aussage in den Blick kam, vollzog sich die
Ausarbeitung
der Grundstrukturen der Formen und Bestandstücke der Rede am
Leitfaden dieses Logos. Die Grammatik suchte ihr Fundament
in
der »Logik« dieses Logos. Diese aber gründet in der
Ontologie
des Vorhandenen. Der in die nachkommende Sprachwissenschaft
übergegangene und grundsätzlich heute noch maßgebende
Grundbestand der »Bedeutungskategorien« ist an der Rede als
Aussage orientiert. Nimmt man dagegen dieses Phänomen in der
grundsätzlichen Ursprünglichkeit und Weite eines
Existenzials,
dann ergibt sich die Notwendigkeit einer Umlegung der
Sprach-
wissenschaft auf ontologisch ursprünglichere Fundamente. Die
Aufgabe einer Befreiung der Grammatik von der Logik bedarf
vorgängig eines positiven Verständnisses der apriorischen
Grund-
struktur von Rede überhaupt als Existenzial und kann nicht
nachträglich 166
durch Verbesserungen und Ergänzungen des Überlieferten
durch-
geführt werden. Mit Rücksicht darauf ist zu fragen nach den
Grundformen einer möglichen bedeutungsmäßigen Gliederung
des Verstehbaren überhaupt, nicht nur des in theoretischer
Betrachtung erkannten und in Sätzen ausgedrückten innerwelt-
lichen Seienden. Die Bedeutungslehre ergibt sich nicht von
selbst
durch umfassendes Vergleichen möglichst vieler und
entlegener
Sprachen. Ebensowenig genügt die Übernahme etwa des philoso-
phischen Horizonts, innerhalb dessen W. v. Humboldt die
Sprache zum Problem machte. Die Bedeutungslehre ist in der
Ontologie des Daseins verwurzelt. Ihr Gedeihen und Verderben
hängt am Schicksal dieser1.
Am Ende muß sich die philosophische Forschung einmal ent-
schließen zu fragen, welche Seinsart der Sprache überhaupt
zukommt. Ist sie ein innerweltlich zuhandenes Zeug, oder hat
sie
die Seinsart des Daseins oder keines von beiden? Welcher Art
ist
das Sein der Sprache, daß sie »tot« sein kann? Was besagt
onto-
logisch, eine Sprache wächst und zerfällt? Wir besitzen eine
Sprachwissenschaft, und das Sein des Seienden, das sie zum
Thema hat, ist dunkel; sogar der Horizont ist verhüllt für
die
untersuchende Frage darnach. Ist es Zufall, daß die
Bedeutungen
zunächst und zumeist »weltliche« sind, durch die
Bedeutsamkeit
der Welt vorgezeichnete, ja sogar oft vorwiegend
»räumliche«,
oder ist diese »Tatsache« existenzial-ontologisch notwendig
und
warum? Die philosophische Forschung wird auf »Sprachphiloso-
phie« verzichten müssen, um den »Sachen selbst«
nachzufragen,
und sich in den Stand einer begrifflich geklärten
Problematik
bringen müssen.
Die vorliegende Interpretation der Sprache sollte lediglich
den
ontologischen »Ort« für dieses Phänomen innerhalb der Seinsver-
fassung des Daseins aufzeigen und vor allem die folgende
Analyse
vorbereiten, die am Leitfaden einer fundamentalen Seinsart
der
Rede im Zusammenhang mit anderen Phänomenen die Alltäg-
lichkeit des Daseins ontologisch ursprünglicher in den Blick
zu
bringen versucht.
B. Das alltägliche Sein des Da und das Verfallen des Daseins
Im Rückgang auf die existenzialen Strukturen der
Erschlossen-
heit des In-der-Welt-seins hat die Interpretation in
gewisser Weise
die Alltäglichkeit des Daseins aus dem Auge verloren. Die
Ana-
lyse muß
1 Vgl. zur Bedeutungslehre E. Husserl, Log. Unters. Bd. II,
1. und 4. -
6. Untersuchung. Ferner die radikalere Fassung der
Problematik, Ideen I,
a. a. O. §§
123 ff., S. 255 ff. 167
diesen thematisch angesetzten phänomenalen Horizont wieder
zurückgewinnen. Die Frage erhebt sich jetzt: welches sind
die
existenzialen Charaktere der Erschlossenheit des
In-der-Welt-
seins, sofern dieses sich als alltägliches in der Seinsart
des Man
hält? Eignet diesem eine spezifische Befindlichkeit, ein
besonderes
Verstehen, Reden und Auslegen? Die Beantwortung dieser
Fragen
wird um so dringlicher, wenn wir daran erinnern, daß das
Dasein
zunächst und zumeist im Man aufgeht und von ihm gemeistert
wird. Ist das Dasein als geworfenes In-der-Welt-sein nicht
gerade
zunächst in die Öffentlichkeit des Man geworfen? Und was
bedeutet diese Öffentlichkeit anderes als die spezifische
Erschlos-
senheit des Man?
Wenn das Verstehen primär als das Seinkönnen des Daseins
begriffen werden muß, dann wird einer Analyse des dem Man
zugehörigen Verstehens und Auslegens zu entnehmen sein, wel-
che Möglichkeiten seines Seins das Dasein als Man
erschlossen
und sich zugeeignet hat. Diese Möglichkeiten selbst
offenbaren
dann aber eine wesenhafte Seinstendenz der Alltäglichkeit.
Und
diese muß schließlich, ontologisch zureichend expliziert,
eine
ursprüngliche Seinsart des Daseins enthüllen, so zwar, daß
von
ihr aus das angezeigte Phänomen der Geworfenheit in seiner
existenzialen Konkretion aufweisbar wird.
Zunächst ist gefordert, die Erschlossenheit des Man, das
heißt
die alltägliche Seinsart von Rede, Sicht und Auslegung, an
bestimmten Phänomenen sichtbar zu machen. Mit Bezug auf
diese mag die Bemerkung nicht überflüssig sein, daß die
Interpre-
tation eine rein ontologische Absicht hat und von einer
moralisie-
renden Kritik des alltäglichen Daseins und von
»kulturphiloso-
phischen« Aspirationen weit entfernt ist.
§ 35. Das Gerede
Der Ausdruck »Gerede« soll hier nicht in einer
herabziehenden
Bedeutung gebraucht werden. Er bedeutet terminologisch ein
positives Phänomen, das die Seinsart des Verstehens und
Ausle-
gens des alltäglichen Daseins konstituiert. Die Rede spricht
sich
zumeist aus und hat sich schon immer ausgesprochen. Sie ist
Sprache. Im Ausgesprochenen liegen aber dann je schon Ver-
ständnis und Auslegung. Die Sprache als die
Ausgesprochenheit
birgt eine Ausgelegtheit des Daseinsverständnisses in sich.
Diese
Ausgelegtheit ist so wenig wie die Sprache nur noch
vorhanden,
sondern ihr Sein ist selbst daseinsmäßiges. Ihr ist das
Dasein zu-
nächst und in gewissen Grenzen ständig überantwortet, sie
regelt
und verteilt die Möglichkeiten des durch- 168
schnittlichen Verstehens und der zugehörigen Befindlichkeit.
Die
Ausgesprochenheit verwahrt im Ganzen ihrer gegliederten
Bedeu-
tungszusammenhänge ein Verstehen der erschlossenen Welt und
gleichursprünglich damit ein Verstehen des Mitdaseins
Anderer
und des je eigenen In-Seins. Das so in der Ausgesprochenheit
schon hinterlegte Verständnis betrifft sowohl die jeweils
erreichte
und überkommene Entdecktheit des Seienden als auch das
jewei-
lige Verständnis von Sein und die verfügbaren Möglichkeiten
und
Horizonte für neuansetzende Auslegung und begriffliche
Artiku-
lation. Über einen bloßen Hinweis auf das Faktum dieser
Ausge-
legtheit des Daseins hinaus muß nun aber nach der
existenzialen
Seinsart der ausgesprochenen und sich aussprechenden Rede
gefragt werden. Wenn sie nicht als Vorhandenes begriffen
werden
kann, welches ist ihr Sein, und was sagt dieses
grundsätzlich über
die alltägliche Seinsart des Daseins?
Sichaussprechende Rede ist Mitteilung. Deren Seinstendenz
zielt darauf, den Hörenden in die Teilnahme am erschlossenen
Sein zum Beredeten der Rede zu bringen.
Gemäß der durchschnittlichen Verständlichkeit, die in der
beim
Sichaussprechen gesprochenen Sprache schon liegt, kann die
mitgeteilte Rede weitgehend verstanden werden, ohne daß sich
der Hörende in ein ursprünglich verstehendes Sein zum
Worüber
der Rede bringt. Man versteht nicht so sehr das beredete
Seiende,
sondern man hört schon nur auf das Geredete als solches.
Dieses
wird verstanden, das Worüber nur ungefähr, obenhin; man meint
dasselbe, weil man das Gesagte gemeinsam in derselben Durch-
schnittlichkeit versteht.
Das Hören und Verstehen hat sich vorgängig an das Geredete
als solches geklammert. Die Mitteilung »teilt« nicht den
primären
Seinsbezug zum beredeten Seienden, sondern das
Miteinandersein
bewegt sich im Miteinanderreden und Besorgen des Geredeten.
Ihm liegt daran, daß geredet wird. Das Gesagtsein, das
Diktum,
der Ausspruch stehen jetzt ein für die Echtheit und
Sachgemäß-
heit der Rede und ihres Verständnisses. Und weil das Reden
den
primären Seinsbezug zum beredeten Seienden verloren bzw. nie
gewonnen hat, teilt es sich nicht mit in der Weise der
ursprüng-
lichen Zueignung dieses Seienden, sondern auf dem Wege des
Weiter- und Nachredens. Das Geredete als solches zieht
weitere
Kreise und übernimmt autoritativen Charakter. Die Sache ist
so,
weil man es sagt. In solchem Nach- und Weiterreden, dadurch
sich das schon anfängliche Fehlen der Bodenständigkeit zur
völli-
gen Bodenlosigkeit steigert, konstituiert sich das Gerede.
Und
zwar bleibt dieses nicht eingeschränkt auf das lautliche
Nachre-
den, sondern breitet sich aus im Geschriebenen als das 169
»Geschreibe«. Das Nachreden gründet hier nicht so sehr in
einem
Hörensagen. Es speist sich aus dem Angelesenen. Das durch-
schnittliche Verständnis des Lesers wird nie entscheiden
können,
was ursprünglich geschöpft und errungen und was nachgeredet
ist. Noch mehr, durchschnittliches Verständnis wird ein
solches
Unterscheiden gar nicht wollen, seiner nicht bedürfen, weil
es ja
alles versteht.
Die Bodenlosigkeit des Geredes versperrt ihm nicht den Ein-
gang in die Öffentlichkeit, sondern begünstigt ihn. Das
Gerede ist
die Möglichkeit, alles zu verstehen ohne vorgängige
Zueignung
der Sache. Das Gerede behütet schon vor der Gefahr, bei
einer
solchen Zueignung zu scheitern. Das Gerede, das jeder
aufraffen
kann, entbindet nicht nur von der Aufgabe echten Verstehens,
sondern bildet eine indifferente Verständlichkeit aus, der
nichts
mehr verschlossen ist.
Die Rede, die zur wesenhaften Seinsverfassung des Daseins
gehört und dessen Erschlossenheit mit ausmacht, hat die Mög-
lichkeit, zum Gerede zu werden und als dieses das
In-der-Welt-
sein nicht so sehr in einem gegliederten Verständnis
offenzuhal-
ten, sondern zu verschließen und das innerweltlich Seiende
zu
verdecken. Hierzu bedarf es nicht einer Absicht auf
Täuschung.
Das Gerede hat nicht die Seinsart des bewußten Ausgebens von
etwas als etwas. Das bodenlose Gesagtsein und
Weitergesagtwer-
den reicht hin, daß sich das Erschließen verkehrt zu einem
Ver-
schließen. Denn Gesagtes wird zunächst immer verstanden als
»sagendes«, das ist entdeckendes. Das Gerede ist sonach von
Hause aus, gemäß der ihm eigenen Unterlassung des Rückgangs
auf den Boden des Beredeten, ein Verschließen.
Dieses wird erneut dadurch gesteigert, daß das Gerede, darin
vermeintlich das Verständnis des Beredeten erreicht ist, auf
Grund dieser Vermeintlichkeit jedes neue Fragen und alle
Aus-
einandersetzung hintanhält und in eigentümlicher Weise
nieder-
hält und retardiert.
Im Dasein hat sich je schon diese Ausgelegtheit des Geredes
festgesetzt. Vieles lernen wir zunächst in dieser Weise
kennen,
nicht weniges kommt über ein solches durchschnittliches Ver-
ständnis nie hinaus. Dieser alltäglichen Ausgelegtheit, in
die das
Dasein zunächst hineinwächst, vermag es sich nie zu
entziehen. In
ihr und aus ihr und gegen sie vollzieht sich alles echte
Verstehen,
Auslegen und Mitteilen, Wiederentdecken und neu Zueignen. Es
ist nicht so, daß je ein Dasein unberührt und unverführt
durch
diese Ausgelegtheit vor das freie Land einer »Welt« an sich
gestellt würde, um nur zu schauen, was ihm begegnet. Die
Herr-
schaft der öffentlichen Ausgelegtheit hat sogar schon über
die
Möglichkeiten des Gestimmtseins entschieden, das 170
heißt über die Grundart, in der sich das Dasein von der Welt
angehen läßt. Das Man zeichnet die Befindlichkeit vor, es
bestimmt, was man und wie man »sieht«.
Das Gerede, das in der gekennzeichneten Weise verschließt,
ist
die Seinsart des entwurzelten Daseinsverständnisses. Es
kommt
jedoch nicht als vorhandener Zustand an einem Vorhandenen
vor, sondern existenzial entwurzelt ist es selbst in der
Weise der
ständigen Entwurzelung. Das besagt ontologisch: Das im
Gerede
sich haltende Dasein ist als In-der-Welt-sein von den
primären
und ursprünglich-echten Seinsbezügen zur Welt, zum
Mitdasein,
zum In-Sein selbst abgeschnitten. Es hält sich in einer
Schwebe
und ist in dieser Weise doch immer bei der »Welt«, mit den
Anderen und zu ihm selbst. Nur Seiendes, dessen
Erschlossenheit
durch die befindlich-verstehende Rede konstituiert ist, das
heißt
in dieser ontologischen Verfassung sein Da, das
»In-der-Welt«
ist, hat die Seinsmöglichkeit solcher Entwurzelung, die so
wenig
ein Nichtsein des Daseins ausmacht als vielmehr seine
alltäg-
lichste und hartnäckigste »Realität«.
In der Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit der
durch-
schnittlichen Ausgelegtheit jedoch liegt es, daß unter ihrem
Schutz dem jeweiligen Dasein selbst die Unheimlichkeit der
Schwebe, in der es einer wachsenden Bodenlosigkeit zutreiben
kann, verborgen bleibt.
§ 36. Die Neugier
Bei der Analyse des Verstehens und der Erschlossenheit des
Da
überhaupt wurde auf das lumen naturale hingewiesen und die
Erschlossenheit des In-Seins die Lichtung des Daseins
genannt, in
der erst so etwas wie Sicht möglich wird. Sicht wurde im
Hin-
blick auf die Grundart alles daseinsmäßigen Erschließens,
das
Verstehen, im Sinne der genuinen Zueignung von Seiendem
begriffen, zu dem sich Dasein gemäß seiner wesenhaften
Seins-
möglichkeiten verhalten kann.
Die Grundverfassung der Sicht zeigt sich an einer eigentüm-
lichen Seinstendenz der Alltäglichkeit zum »Sehen«. Wir
bezeich-
nen sie mit dem Terminus Neugier, der
charakteristischerweise
nicht auf das Sehen eingeschränkt ist und die Tendenz zu
einem
eigentümlichen vernehmenden Begegnenlassen der Welt aus-
drückt. Wir interpretieren dieses Phänomen in
grundsätzlicher
existenzial-ontologischer Absicht, nicht in der verengten
Orien-
tierung am Erkennen, das schon früh und in der griechischen
Philosophie nicht zufällig aus der »Lust zu sehen« begriffen
wird.
Die Abhandlung, die in der Sammlung der Abhandlungen des
Aristoteles zur Ontotogie an erster Stelle steht, 171
beginnt mit dem Satze: p£ntej ¥nqrwpoi toà e=d?nai Ñr?gontai
fÚsei1. Im Sein des Menschen liegt wesenhaft die Sorge des
Sehens. Damit wird eine Untersuchung eingeleitet, die den
Ursprung der wissenschaftlichen Erforschung des Seienden und
seines Seins aus der genannten Seinsart des Daseins
aufzudecken
sucht. Diese griechische Interpretation der existenzialen
Genesis
der Wissenschaft ist nicht zufällig. In ihr kommt zum
expliziten
Verständnis, was im Satz des Parmenides vorgezeichnet ist:
tÕ g¦r
aÙtÕ noevn œst?n te kai e=nai. Sein ist, was im reinen
anschauen-
den Vernehmen sich zeigt, und nur dieses Sehen entdeckt das
Sein. Ursprüngliche und echte Wahrheit liegt in der reinen
Anschauung. Diese These bleibt fortan das Fundament der
abendländischen Philosophie. In ihr hat die Hegelsche
Dialektik
das Motiv, und nur auf ihrem Grunde ist sie möglich.
Den merkwürdigen Vorrang des »Sehens« hat vor allem
Augustinus bemerkt im Zusammenhang der Interpretation der
concupiscentia2.
Ad oculos enim videre proprie pertinet, das
Sehen gehört eigentlich den Augen zu. Utimur autem hoc verbo
etiam in ceteris sensibus cum eos ad cognoscendum
intendimus.
Wir gebrauchen aber dieses Wort »sehen« auch für die anderen
Sinne, wenn wir uns in sie legen – um zu erkennen. Neque
enim
dicimus: audi quid rutilet; aut, olfac quam niteat; aut,
gusta
quam splendeat; aut, palpa quam fulgeat: videri enim
dicuntur
haec omnia. Wir sagen nämlich nicht: höre, wie das
schimmert,
oder rieche, wie das glänzt, oder schmecke, wie das
leuchtet, oder
fühle, wie das strahlt; sondern wir sagen bei all dem: sieh,
wir
sagen, daß all das gesehen wird. Dicimus autem non solum, vide
quid luceat, quod soli oculi sentire possunt, wir sagen aber
auch
nicht allein: sieh, wie das leuchtet, was die Augen allein
verneh-
men können, sed
etiam, vide quid sonet; vide quid oleat, vide
quid sapiat, vide
quam durum sit. Wir sagen auch: sieh, wie das
klingt, sieh, wie es duftet, sieh, wie das schmeckt, sieh,
wie hart
das ist. Ideoque generalis experientia sensuum
concupiscentia
sicut dictum est oculorum vocatur, quia videndi officium in
quo
primatum oculi
tenent, etiam ceteri sensus sibi de similitudine
usurpant, cum
aliquid cognitionis explorant. Daher wird die
Erfahrung der Sinne überhaupt als »Augenlust« bezeichnet,
weil
auch die anderen Sinne aus einer gewissen Ähnlichkeit her
sich
die Leistung des Sehens aneignen, wenn es um ein Erkennen
geht,
in welcher Leistung die Augen den Vorrang haben.
1 Metaphysik A I, 980 a 21.
2 Confessiones lib. X, cap. 35. 172
Was ist es um diese Tendenz zum Nur-Vernehmen? Welche
existenziale Verfassung des Daseins wird am Phänomen der
Neu-
gier verständlich?
Das In-der-Welt-sein geht zunächst in der besorgten Welt
auf.
Das Besorgen ist geführt von der Umsicht, die das Zuhandene
entdeckt und in seiner Entdecktheit verwahrt. Die Umsicht
gibt
allem Beibringen, Verrichten die Bahn des Vorgehens, die
Mittel
der Ausführung, die rechte Gelegenheit, den geeigneten
Augen-
blick. Das Besorgen kann zur Ruhe kommen im Sinne der ausru-
henden Unterbrechung des Verrichtens oder als Fertigwerden.
In
der Ruhe verschwindet das Besorgen nicht, wohl aber wird die
Umsicht frei, sie ist nicht mehr an die Werkwelt gebunden.
Im
Ausruhen legt sich die Sorge in die freigewordene Umsicht.
Das
umsichtige Entdecken der Werkwelt hat den Seinscharakter des
Ent-fernens. Die freigewordene Umsicht hat nichts mehr
zuhan-
den, dessen Näherung zu besorgen ist. Als wesenhaft ent-fer-
nende verschafft sie sich neue Möglichkeiten des
Ent-fernens; das
besagt, sie tendiert aus dem nächst Zuhandenen weg in ferne
und
fremde Welt. Die Sorge wird zum Besorgen der Möglichkeiten,
ausruhend verweilend die »Welt« nur in ihrem Aussehen zu
sehen. Das Dasein sucht das Ferne, lediglich um es sich in
seinem
Aussehen nahe zu bringen. Das Dasein läßt sich einzig vom
Aus-
sehen der Welt mitnehmen, eine Seinsart, in der es besorgt,
seiner
selbst als In-der-Welt-seins ledig zu werden, ledig des
Seins beim
nächst alltäglichen Zuhandenen.
Die freigewordene Neugier besorgt aber zu sehen, nicht um
das
Gesehene zu verstehen, das heißt in ein Sein zu ihm zu
kommen,
sondern nur um zu sehen. Sie sucht das Neue nur, um von ihm
erneut zu Neuem abzuspringen. Nicht um zu erfassen und um
wissend in der Wahrheit zu sein, geht es der Sorge dieses
Sehens,
sondern um Möglichkeiten des Sichüberlassens an die Welt.
Daher ist die Neugier durch ein spezifisches Unverweilen
beim
Nächsten charakterisiert. Sie sucht daher auch nicht die
Muße
des betrachtenden Verweilens, sondern Unruhe und Aufregung
durch das immer Neue und den Wechsel des Begegnenden. In
ihrem Unverweilen besorgt die Neugier die ständige
Möglichkeit
der Zerstreuung. Die Neugier hat nichts zu tun mit dem
bewun-
dernden Betrachten des Seienden, dem qaum£zein, ihr liegt
nicht
daran, durch Verwunderung in das Nichtverstehen gebracht zu
werden, sondern sie besorgt ein Wissen, aber lediglich um
gewußt
zu haben. Die beiden für die Neugier konstitutiven Momente
des
Unverweilens in der besorgten Umwelt und der Zerstreuung in
neue Möglichkeiten fundieren den dritten Wesenscharak- 173
ter dieses Phänomens, den wir die Aufenthaltslosigkeit
nennen.
Die Neugier ist überall und nirgends. Dieser Modus des
In-der-
Welt-seins enthüllt eine neue Seinsart des alltäglichen
Daseins, in
der es sich ständig entwurzelt.
Das Gerede regiert auch die Wege der Neugier, es sagt, was
man gelesen und gesehen haben muß. Das Überall-und-nirgends-
sein der Neugier ist dem Gerede überantwortet. Diese beiden
alltäglichen Seinsmodi der Rede und der Sicht sind in ihrer
Ent-
wurzelungstendenz nicht lediglich nebeneinander vorhanden,
sondern eine Weise zu sein reißt die andere mit sich. Die
Neugier,
der nichts verschlossen, das Gerede, dem nichts unverstanden
bleibt, geben sich, das heißt dem so seienden Dasein, die
Bürg-
schaft eines vermeintlich echten »lebendigen Lebens«. Mit
dieser
Vermeintlichkeit aber zeigt sich ein drittes Phänomen, das
die
Erschlossenheit des alltäglichen Daseins charakterisiert.
§ 37. Die Zweideutigkeit
Wenn im alltäglichen Miteinandersein dergleichen begegnet,
was jedem zugänglich ist und worüber jeder jedes sagen kann,
wird bald nicht mehr entscheidbar, was in echtem Verstehen
erschlossen ist und was nicht. Diese Zweideutigkeit
erstreckt sich
nicht allein auf die Welt, sondern ebensosehr auf das
Miteinan-
dersein als solches, sogar auf das Sein des Daseins zu ihm
selbst.
Alles sieht so aus wie echt verstanden, ergriffen und
gesprochen
und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus
und ist
es im Grunde doch. Die Zweideutigkeit betrifft nicht allein
das
Verfügen über und das Schalten mit dem in Gebrauch und Genuß
Zugänglichen, sondern sie hat sich schon im Verstehen als
Sein-
können, in der Art des Entwurfs und der Vorgabe von Möglich-
keiten des Daseins festgesetzt. Nicht nur kennt und
bespricht
jeder, was vorliegt und vorkommt, sondern jeder weiß auch
schon darüber zu reden, was erst geschehen soll, was noch
nicht
vorliegt, aber »eigentlich« gemacht werden müßte. Jeder hat
schon immer im voraus geahnt und gespürt, was andere auch
ahnen und spüren. Dieses Auf-der-Spur-sein, und zwar vom
Hörensagen her – wer in echter Weise einer Sache »auf der
Spur
ist«, spricht nicht darüber –, ist die verfänglichste Weise,
in der
die Zweideutigkeit Möglichkeiten des Daseins vorgibt, um sie
auch schon in ihrer Kraft zu ersticken.
Gesetzt nämlich, das, was man ahnte und spürte, sei eines
Tages wirklich in die Tat umgesetzt, dann hat gerade die
Zwei-
deutigkeit schon dafür gesorgt, daß allsogleich das
Interesse für
die realisierte 174
Sache abstirbt. Dieses Interesse besteht ja nur in der Weise
der
Neugier und des Geredes, so lange als die Möglichkeit des
unver-
bindlichen Nur-mit-ahnens gegeben ist. Das Mit-dabei-sein,
wenn
man und solange man auf der Spur ist, versagt die
Gefolgschaft,
wenn die Durchführung des Geahnten einsetzt. Denn mit dieser
wird das Dasein je auf sich selbst zurückgezwungen. Gerede
und
Neugier verlieren ihre Macht. Und sie rächen sich auch
schon.
Angesichts der Durchführung dessen, was man mit-ahnte, ist
das
Gerede leicht bei der Hand mit der Feststellung: das hätte
man
auch machen können, denn – man hat es ja doch mitgeahnt. Das
Gerede ist am Ende sogar ungehalten, daß das von ihm Geahnte
und ständig Geforderte nun wirklich geschieht. Ist ihm ja
doch
damit die Gelegenheit entrissen, weiter zu ahnen.
Sofern nun aber die Zeit des sich einsetzenden Daseins in
der
Verschwiegenheit der Durchführung und des echten Scheiterns
eine andere ist, öffentlich gesehen eine wesentlich
langsamere, als
die des Geredes, das »schneller lebt«, ist dies Gerede
längst bei
einem anderen, dem jeweilig Neuesten angekommen. Das früher
Geahnte und einmal Durchgeführte kam im Hinblick auf das
Neueste zu spät. Gerede und Neugier sorgen in ihrer
Zweideutig-
keit dafür, daß das echt und neu Geschaffene bei seinem
Hervor-
treten für die Öffentlichkeit veraltet ist. Es vermag erst
dann in
seinen positiven Möglichkeiten frei zu werden, wenn das ver-
deckende Gerede unwirksam geworden und das »gemeine«
Interesse erstorben ist.
Die Zweideutigkeit der öffentlichen Ausgelegtheit gibt das
Vor-
weg-bereden und neugierige Ahnen für das eigentliche
Geschehen
aus und stempelt Durchführen und Handeln zu einem Nachträg-
lichen und Belanglosen. Das Verstehen des Daseins im Man
ver-
sieht sich daher in seinen Entwürfen ständig hinsichtlich
der
echten Seinsmöglichkeiten. Zweideutig ist das Dasein immer
»da«, das heißt in der öffentlichen Erschlossenheit des
Miteinan-
derseins, wo das lauteste Gerede und die findigste Neugier
den
»Betrieb« im Gang halten, da, wo alltäglich alles und im
Grunde
nichts geschieht.
Diese Zweideutigkeit spielt der Neugier immer das zu, was
sie
sucht, und gibt dem Gerede den Schein, als würde in ihm
alles
entschieden.
Diese Seinsart der Erschlossenheit des In-der-Welt-seins
durch-
herrscht aber auch das Miteinandersein als solches. Der
Andere
ist zunächst »da« aus dem her, was man von ihm gehört hat,
was
man über ihn redet und weiß. Zwischen das ursprüngliche Mit-
einandersein schiebt sich zunächst das Gerede. Jeder paßt
zuerst
und zunächst 175
auf den Andern auf, wie er sich verhalten, was er dazu sagen
wird. Das Miteinandersein im Man ist ganz und gar nicht ein
abgeschlossenes, gleichgültiges Nebeneinander, sondern ein
gespanntes, zweideutiges Aufeinander-aufpassen, ein
heimliches
Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske des Füreinander
spielt
ein Gegeneinander.
Dabei ist zu beachten, daß die Zweideutigkeit gar nicht erst
einer ausdrücklichen Absicht auf Verstellung und Verdrehung
entspringt, daß sie nicht vom einzelnen Dasein erst
hervorgerufen
wird. Sie liegt schon im Miteinandersein als dem geworfenen
Miteinandersein in einer Welt. Aber öffentlich ist sie
gerade ver-
borgen, und man wird sich immer dagegen wehren, daß diese
Interpretation der Seinsart der Ausgelegtheit des Man
zutrifft. Es
wäre ein Mißverständnis, wollte die Explikation dieser
Phäno-
mene durch die Zustimmung des Man sich bewähren.
Die Phänomene des Geredes, der Neugier und der Zweideutig-
keit wurden in der Weise herausgestellt, daß sich unter
ihnen
selbst schon ein Seinszusammenhang anzeigt. Die Seinsart
dieses
Zusammenhanges gilt es jetzt existenzial-ontologisch zu
fassen.
Die Grundart des Seins der Alltäglichkeit soll im Horizont
der
bisher gewonnenen Seinsstrukturen des Daseins verstanden
wer-
den.
§ 38. Das Verfallen und die Geworfenheit
Gerede, Neugier und Zweideutigkeit charakterisieren die
Weise, in der das Dasein alltäglich sein »Da«, die
Erschlossenheit
des In-der-Welt-seins ist. Diese Charaktere sind als
existenziale
Bestimmtheiten am Dasein nicht vorhanden, sie machen dessen
Sein mit aus. In ihnen und in ihrem seinsmäßigen Zusammen-
hang enthüllt sich eine Grundart des Seins der
Alltäglichkeit, die
wir das Verfallen des Daseins nennen.
Der Titel, der keine negative Bewertung ausdrückt, soll
bedeu-
ten: das Dasein ist zunächst und zumeist bei der besorgten
»Welt«. Dieses Aufgehen bei ... hat meist den Charakter des
Verlorenseins in die Öffentlichkeit des Man. Das Dasein ist
von
ihm selbst als eigentlichem Selbstseinkönnen zunächst immer
schon abgefallen und an die »Welt« verfallen. Die
Verfallenheit
an die »Welt« meint das Aufgehen im Miteinandersein, sofern
dieses durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit geführt
wird.
Was wir die Uneigentlichkeit des Daseins nannten1, erfährt
jetzt
durch die Interpretation des Verfallens
1 Vgl. § 9, S. 42
ff. 176
eine schärfere Bestimmung. Un- und nichteigentlich bedeutet
aber
keineswegs »eigentlich nicht«, als ginge das Dasein mit
diesem
Seinsmodus überhaupt seines Seins verlustig.
Uneigentlichkeit
meint so wenig dergleichen wie Nicht-mehr-in-der-Welt-sein,
als
sie gerade ein ausgezeichnetes In-der-Welt-sein ausmacht,
das von
der »Welt« und dem Mitdasein Anderer im Man völlig benom-
men ist. Das Nicht-es-selbst-sein fungiert als positive
Möglichkeit
des Seienden, das wesenhaft besorgend in einer Welt aufgeht.
Dieses Nicht-sein muß als die nächste Seinsart des Daseins
begrif-
fen werden, in der es sich zumeist hält.
Die Verfallenheit des Daseins darf daher auch nicht als
»Fall«
aus einem reineren und höheren »Urstand« aufgefaßt werden.
Davon haben wir ontisch nicht nur keine Erfahrung, sondern
auch ontologisch keine Möglichkeiten und Leitfäden der
Inter-
pretation.
Von ihm selbst als faktischem In-der-Welt-sein ist das
Dasein
als verfallendes schon abgefallen; und verfallen ist es
nicht an
etwas Seiendes, darauf es erst im Fortgang seines Seins
stößt oder
auch nicht, sondern an die Welt, die selbst zu seinem Sein
gehört.
Das Verfallen ist eine existenziale Bestimmung des Daseins
selbst
und sagt nichts aus über dieses als Vorhandenes, über
vorhan-
dene Beziehungen zu Seiendem, von dem es »abstammt«, oder zu
Seiendem, mit dem es nachträglich in ein commercium geraten
ist.
Die ontologisch-existenziale Struktur des Verfallens wäre
auch
mißverstanden, wollte man ihr den Sinn einer schlechten und
beklagenswerten ontischen Eigenschaft beilegen, die
vielleicht in
fortgeschrittenen Stadien der Menschheitskultur beseitigt
werden
könnte.
Bei dem ersten Hinweis auf das In-der-Welt-sein als
Grundver-
fassung des Daseins, ebenso bei der Charakteristik seiner
konsti-
tutiven Strukturmomente blieb über der Analyse der
Seinsverfas-
sung die Seinsart dieser phänomenal unbeachtet. Zwar wurden
die möglichen Grundarten des In-Seins, das Besorgen und die
Fürsorge, beschrieben. Die Frage nach der alltäglichen Seinsart
dieser Weisen zu sein, blieb unerörtert. Auch zeigte sich,
daß das
In-Sein alles andere ist als ein nur betrachtendes oder
handelndes
Gegenüberstehen, das heißt Zusammenvorhandensein eines Sub-
jekts und eines Objekts. Trotzdem mußte der Schein bleiben,
das
In-der-Welt-sein fungiere als starres Gerüst, innerhalb
dessen die
möglichen Verhaltungen des Daseins zu seiner Welt ablaufen,
ohne das »Gerüst« selbst seinsmäßig zu berühren. Dieses ver-
mutliche »Gerüst« aber macht selbst die Seinsart des Daseins
mit.
Ein existenzialer Modus des In-der-Welt-seins dokumentiert
sich
im Phänomen des Verfallens. 177
Das Gerede erschließt dem Dasein das verstehende Sein zu
sei-
ner Welt, zu Anderen und zu ihm selbst, doch so, daß dieses
Sein
zu... den Modus eines bodenlosen Schwebens hat. Die Neugier
erschließt alles und jedes, so jedoch, daß das In-Sein
überall und
nirgends ist. Die Zweideutigkeit verbirgt dem
Daseinsverständnis
nichts, aber nur, um das In-der-Welt-sein in dem
entwurzelten
Überall-und-nirgends niederzuhalten.
Mit der ontologischen Verdeutlichung der in diesen Phänome-
nen durchblickenden Seinsart des alltäglichen
In-der-Welt-seins
gewinnen wir erst die existenzial zureichende Bestimmung der
Grundverfassung des Daseins. Welche Struktur zeigt die
»Bewegtheit« des Verfallens?
Das Gerede und die in ihm beschlossene öffentliche
Ausgelegt-
heit konstituiert sich im Miteinandersein. Es ist nicht als
ein ab-
gelöstes Produkt aus diesem und für sich innerhalb der Welt
vor-
handen. Ebensowenig läßt es sich zu einem »Allgemeinen« ver-
flüchtigen, das, weil es wesenhaft dem Niemand zugehört,
»eigentlich« nichts ist und »real« nur im sprechenden
einzelnen
Dasein vorkommt. Das Gerede ist die Seinsart des Miteinan-
derseins selbst und entsteht nicht erst durch gewisse
Umstände,
die auf das Dasein »von außen« einwirken. Wenn aber das
Dasein selbst im Gerede und der öffentlichen Ausgelegtheit
ihm
selbst die Möglichkeit vorgibt, sich im Man zu verlieren,
der
Bodenlosigkeit zu verfallen, dann sagt das: das Dasein
bereitet
ihm selbst die ständige Versuchung zum Verfallen. Das
In-der-
Welt-sein ist an ihm selbst versucherisch.
In dieser Weise sich selbst schon zur Versuchung geworden,
hält die öffentliche Ausgelegtheit das Dasein in seiner
Verfallen-
heit fest. Gerede und Zweideutigkeit, das Alles-gesehen- und
Alles-verstanden-haben bilden die Vermeintlichkeit aus, die
so
verfügbare und herrschende Erschlossenheit des Daseins ver-
möchte ihm die Sicherheit, Echtheit und Fülle aller Möglichkeiten
seines Seins zu verbürgen. Die Selbstgewißheit und
Entschieden-
heit des Man verbreitet eine wachsende Unbedürftigkeit
hinsicht-
lich des eigentlichen befindlichen Verstehens. Die
Vermeintlich-
keit des Man, das volle und echte »Leben« zu nähren und zu
führen, bringt eine Beruhigung in das Dasein, für die alles
»in
bester Ordnung« ist, und der alle Türen offenstehen. Das
verfal-
lende In-der-Welt-sein ist sich selbst versuchend zugleich
beruhi-
gend.
Diese Beruhigung im uneigentlichen Sein verführt jedoch
nicht
zu Stillstand und Tatenlosigkeit, sondern treibt in die Hem-
mungslosigkeit des »Betriebs«. Das Verfallensein an die
»Welt«
kommt jetzt 178
nicht etwa zur Ruhe. Die versucherische Beruhigung steigert
das
Verfallen. In der besonderen Rücksicht auf die
Daseinsauslegung
kann jetzt die Meinung aufkommen, das Verstehen der frem-
desten Kulturen und die »Synthese« dieser mit der eigenen
führe
zur restlosen und erst echten Aufklärung des Daseins über
sich
selbst. Vielgewandte Neugier und ruheloses Alles-kennen täu-
schen ein universales Daseinsverständnis vor. Im Grunde
bleibt
aber unbestimmt und ungefragt, was denn eigentlich zu
verstehen
sei; es bleibt unverstanden, daß Verstehen selbst ein
Seinkönnen
ist, das einzig im eigensten Dasein frei werden muß. In
diesem
beruhigten, alles »verstehenden« Sichvergleichen mit allem
treibt
das Dasein einer Entfremdung zu, in der sich ihm das
eigenste
Seinkönnen verbirgt. Das verfallende In-der-Welt-sein ist
als ver-
suchend-beruhigendes zugleich entfremdend.
Diese Entfremdung wiederum kann aber nicht besagen, das
Dasein werde ihm selbst faktisch entrissen; im Gegenteil,
sie
treibt das Dasein in eine Seinsart, der an der
übertriebensten
»Selbstzergliederung« liegt, die sich in allen
Deutungsmöglichkei-
ten versucht, so daß die von ihr gezeigten
»Charakterologien«
und »Typologien« selbst schon unübersehbar werden. Diese
Ent-
fremdung, die dem Dasein seine Eigentlichkeit und
Möglichkeit,
wenn auch nur als solche eines echten Scheiterns,
verschließt,
liefert es jedoch nicht an Seiendes aus, das es nicht selbst
ist, son-
dern drängt es in seine Uneigentlichkeit, in eine mögliche
Seinsart
seiner selbst. Die versuchend-beruhigende Entfremdung des
Ver-
fallens führt in ihrer eigenen Bewegtheit dazu, daß sich das
Dasein in ihm selbst verfängt.
Die aufgezeigten Phänomene der Versuchung, Beruhigung, der
Entfremdung und des Sichverfangens (das Verfängnis)
charakteri-
sieren die spezifische Seinsart des Verfallens. Wir nennen
diese
»Bewegtheit« des Daseins in seinem eigenen Sein den Absturz.
Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die
Bodenlosig-
keit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit.
Dieser
Sturz aber bleibt ihm durch die öffentliche Ausgelegtheit
verbor-
gen, so zwar, daß er ausgelegt wird als »Aufstieg« und
»konkre-
tes Leben«.
Die Bewegungsart des Absturzes in die und in der Bodenlosig-
keit des uneigentlichen Seins im Man reißt das Verstehen
ständig
los vom Entwerfen eigentlicher Möglichkeiten und reißt es
hinein
in die beruhigte Vermeintlichkeit, alles zu besitzen bzw. zu
er-
reichen. Dieses ständige Losreißen von der Eigentlichkeit
und
doch immer Vortäuschen derselben, in eins mit dem
Hineinreißen
in das Man charakterisiert die Bewegtheit des Verfallens als
Wirbel. 179
Das Verfallen bestimmt nicht nur existenzial das
In-der-Welt-
sein. Der Wirbel offenbart zugleich den Wurf- und
Bewegtheits-
charakter der Geworfenheit, die in der Befindlichkeit des
Daseins
ihm selbst sich aufdrängen kann. Die Geworfenheit ist nicht
nur
nicht eine »fertige Tatsache«, sondern auch nicht ein
abgeschlos-
senes Faktum. Zu dessen Faktizität gehört, daß das Dasein,
solange es ist, was es ist, im Wurf bleibt und in die
Uneigentlich-
keit des Man hineingewirbelt wird. Die Geworfenheit, darin
sich
die Faktizität phänomenal sehen läßt, gehört zum Dasein, dem
es
in seinem Sein um dieses selbst geht. Dasein existiert faktisch.
Aber ist mit diesem Aufweis des Verfallens nicht ein
Phänomen
herausgestellt, das direkt gegen die Bestimmung spricht, mit
der
die formale Idee von Existenz angezeigt wurde? Kann das
Dasein
als Seiendes begriffen werden, in dessen Sein es um das
Seinkön-
nen geht, wenn dieses Seiende gerade in seiner
Alltäglichkeit sich
verloren hat und im Verfallen von sich weg »lebt«? Das
Verfallen
an die Welt ist aber nur dann ein phänomenaler »Beweis«
gegen
die Existenzialität des Daseins, wenn dieses als isoliertes
Ich-sub-
jekt angesetzt wird, als ein Selbstpunkt, von dem es sich
wegbe-
wegt. Dann ist die Welt ein Objekt. Das Verfallen an sie
wird
dann ontologisch uminterpretiert zum Vorhandensein in der
Weise eines innerweltlichen Seienden. Wenn wir jedoch das
Sein
des Daseins in der aufgezeigten Verfassung des
In-der-Welt-seins
festhalten, dann wird offenbar, daß das Verfallen als
Seinsart
dieses In-Seins vielmehr den elementarsten Beweis für die
Exi-
stenzialität des Daseins darstellt. Im Verfallen geht es um
nichts
anderes als um das In-der-Welt-sein-können, wenngleich im
Modus der Uneigentlichkeit. Das Dasein kann nur verfallen,
weil
es ihm um das verstehend-befindliche In-der-Welt-sein geht.
Um-
gekehrt ist die eigentliche Existenz nichts, was über der
verfallen-
den Alltäglichkeit schwebt, sondern existenzial nur ein
modifi-
ziertes Ergreifen dieser.
Das Phänomen des Verfallens gibt auch nicht so etwas wie
eine
»Nachtansicht« des Daseins, eine ontisch vorkommende Eigen-
schaft, die zur Ergänzung des harmlosen Aspekts dieses
Seienden
dienen mag. Das Verfallen enthüllt eine wesenhafte
ontologische
Struktur des Daseins selbst, die so wenig die Nachtseite be-
stimmt, als sie alle seine Tage in ihrer Alltäglichkeit
konstituiert.
Die existenzial-ontologische Interpretation macht daher auch
keine ontische Aussage über die »Verderbnis der menschlichen
Natur«, nicht weil die nötigen Beweismittel fehlen, sondern
weil
ihre Problematik 180
vor jeder Aussage über Verderbnis und Unverdorbenheit liegt.
Das Verfallen ist ein ontologischer Bewegungsbegriff.
Ontisch
wird nicht entschieden, ob der Mensch »in der Sünde
ersoffen«,
im Status corruptionis ist, ob er im Status integritatis
wandelt
oder sich in einem Zwischenstadium, dem Status gratiae,
befin-
det. Glaube und »Weltanschauung« werden aber, sofern sie so
oder so aussagen, und wenn sie über Dasein als
In-der-Welt-sein
aussagen, auf die herausgestellten existenzialen Strukturen
zurückkommen müssen, vorausgesetzt, daß ihre Aussagen
zugleich auf begriffliches Verständnis einen Anspruch
erheben.
Die leitende Frage dieses Kapitels ging nach dem Sein des
Da.
Thema wurde die ontologische Konstitution der zum Dasein
wesentlich gehörenden Erschlossenheit. Ihr Sein konstituiert
sich
in Befindlichkeit, Verstehen und Rede. Die alltägliche
Seinsart der
Erschlossenheit wird charakterisiert durch Gerede, Neugier
und
Zweideutigkeit. Diese selbst zeigen die Bewegtheit des
Verfallens
mit den wesenhaften Charakteren der Versuchung, Beruhigung,
Entfremdung und des Verfängnisses.
Mit dieser Analyse ist aber das Ganze der existenzialen
Verfas-
sung des Daseins in den Hauptzügen freigelegt und der phäno-
menale Boden gewonnen für die »zusammenfassende« Interpreta-
tion des Seins des Daseins als Sorge.
Sechstes Kapitel
Die Sorge als Sein des Daseins
§ 39. Die Frage nach der ursprünglichen Ganzheit des
Strukturganzen des Daseins
Das In-der-Welt-sein ist eine ursprünglich und ständig ganze
Struktur. In den voranstehenden Kapiteln (1. Abschnitt Kap.
2-5)
wurde sie als Ganzes und, immer auf diesem Grunde, in ihren
konstitutiven Momenten phänomenal verdeutlicht. Der zu
Anfang1 gegebene Vorblick auf das Ganze des Phänomens hat
jetzt die Leere der ersten allgemeinen Vorzeichnung
verloren.
Allerdings kann nun die phänomenale Vielfältigkeit der
Verfas-
sung des Strukturganzen und seiner alltäglichen Seinsart den
einheitlichen phänomenologischen Blick auf das Ganze als
sol-
ches leicht verstellen. Dieser muß aber um so freier bleiben
und
um so sicherer bereitgehalten werden, als wir jetzt die
1 Vgl. § 12, S.
52 ff. 181
Frage stellen, der die vorbereitende Fundamentalanalyse des
Daseins überhaupt zustrebt: wie ist existenzial-ontologisch
die
Ganzheit des aufgezeigten Strukturganzen zu bestimmen?
Das Dasein existiert faktisch. Gefragt wird nach der
ontologi-
schen Einheit von Existenzialität und Faktizität, bzw. der
wesen-
haften Zugehörigkeit dieser zu jener. Das Dasein hat auf
Grund
seiner ihm wesenhaft zugehörenden Befindlichkeit eine
Seinsart,
in der es vor es selbst gebracht und ihm in seiner
Geworfenheit
erschlossen wird. Die Geworfenheit aber ist die Seinsart
eines
Seienden, das je seine Möglichkeiten selbst ist, so zwar,
daß es
sich in und aus ihnen versteht (auf sie sich entwirft). Das
In-der-
Welt-sein, zu dem ebenso ursprünglich das Sein bei
Zuhandenem
gehört wie das Mitsein mit Anderen, ist je umwillen seiner
selbst.
Das Selbst aber ist zunächst und zumeist uneigentlich, das
Man-
selbst. Das In-der-Welt-sein ist immer schon verfallen. Die
durch-
schnittliche Alltäglichkeit des Daseins kann demnach
bestimmt
werden als das verfallend-erschlossene, geworfen-entwerfende
In-
der-Welt-sein, dem es in seinem Sein bei der »Welt« und im
Mit-
sein mit Anderen um das eigenste Seinkönnen selbst geht.
Kann es gelingen, dieses Strukturganze der Alltäglichkeit
des
Daseins in seiner Ganzheit zu fassen? Läßt sich das Sein des
Da-
seins einheitlich so herausheben, daß aus ihm die wesenhafte
Gleichursprünglidikeit der aufgezeigten Strukturen
verständlich
wird in eins mit den zugehörigen existenzialen
Modifikations-
möglichkeiten? Gibt es einen Weg, dieses Sein phänomenal auf
dem Boden des jetzigen Ansatzes der existenzialen Analytik
zu
gewinnen?
Negativ steht außer Frage: Die Ganzheit des Strukturganzen
ist
phänomenal nicht zu erreichen durch ein Zusammenbauen der
Elemente. Dieses bedürfte eines Bauplans. Zugänglich wird
uns
das Sein des Daseins, das ontologisch das Strukturganze als
sol-
ches trägt, in einem vollen Durchblick durch dieses Ganze
auf ein
ursprünglich einheitliches Phänomen, das im Ganzen schon
liegt,
so daß es jedes Strukturmoment in seiner strukturalen
Möglich-
keit ontologisch fundiert. Die »zusammenfassende«
Interpreta-
tion kann daher kein aufsammelndes Zusammennehmen des
bisher Gewonnenen sein. Die Frage nach dem existenzialen
Grundcharakter des Daseins ist wesenhaft verschieden von der
Frage nach dem Sein eines Vorhandenen. Das alltägliche
umwelt-
liche Erfahren, das ontisch und ontologisch auf das
innerwelt-
liche Seiende gerichtet bleibt, vermag Dasein nicht ontisch
ur-
sprünglich vorzugeben für die ontologische Analyse.
Imgleichen
mangelt der immanenten Wahrnehmung von Erlebnissen ein
onto- 182
logisch zureichender Leitfaden. Andererseits soll das Sein
des
Daseins nicht aus einer Idee des Menschen deduziert werden.
Kann aus der bisherigen Interpretation des Daseins entnommen
werden, welchen ontisch-ontologischen Zugang zu ihm selbst
es
von sich aus als allein angemessenen fordert?
Zur ontologischen Struktur des Daseins gehört Seinsverständ-
nis. Seiend ist es ihm selbst in seinem Sein erschlossen.
Befind-
lichkeit und Verstehen konstituieren die Seinsart dieser
Erschlos-
senheit. Gibt es eine verstehende Befindlichkeit im Dasein,
in der
es ihm selbst in ausgezeichneter Weise erschlossen ist?
Wenn die existenziale Analytik des Daseins über ihre funda-
mental-ontologische Funktion grundsätzliche Klarheit
behalten
soll, dann muß sie für die Bewältigung ihrer vorläufigen
Aufgabe,
der Herausstellung des Seins des Daseins, eine der
weitgehendsten
und ursprünglichsten Erschließungsmöglichkeiten suchen, die
im
Dasein selbst liegt. Die Weise des Erschließens, in der das
Dasein
sich vor sich selbst bringt, muß so sein, daß in ihr das
Dasein
selbst in gewisser Weise vereinfacht zugänglich wird. Mit dem
in
ihr Erschlossenen muß dann die Strukturganzheit des
gesuchten
Seins elementar ans Licht kommen.
Als eine solchen methodischen Erfordernissen genügende
Befindlichkeit wird das Phänomen der Angst der Analyse
zugrundegelegt. Die Herausarbeitung dieser
Grundbefindlichkeit
und die ontologische Charakteristik des in ihr Erschlossenen
als
solchen nimmt den Ausgang von dem Phänomen des Verfallens
und grenzt die Angst ab gegen das früher analysierte
verwandte
Phänomen der Furcht. Die Angst gibt als Seinsmöglichkeit des
Daseins in eins mit dem in ihr erschlossenen Dasein selbst
den
phänomenalen Boden für die explizite Fassung der ursprüng-
lichen Seinsganzheit des Daseins. Dessen Sein enthüllt sich
als die
Sorge. Die ontologische Ausarbeitung dieses existenzialen
Grundphänomens verlangt die Abgrenzung gegen Phänomene,
die zunächst mit der Sorge identifiziert werden möchten.
Derglei-
chen Phänomene sind Wille, Wunsch, Hang und Drang. Sorge
kann aus ihnen nicht abgeleitet werden, weil sie selbst in ihr
fun-
diert sind.
Die ontologische Interpretation des Daseins als Sorge liegt
wie
jede ontologische Analyse mit dem, was sie gewinnt, fernab
von
dem, was dem vorontologischen Seinsverständnis oder gar der
ontischen Kenntnis von Seiendem zugänglich bleibt. Daß den
gemeinen Verstand das ontologisch Erkannte mit Rücksicht auf
das ihm einzig ontisch Bekannte befremdet, darf nicht
verwun-
dern. Trotzdem möchte auch 183
schon der ontische Ansatz der hier versuchten ontologischen
Interpretation des Daseins qua Sorge als gesucht und
theoretisch
ausgedacht erscheinen; von der Gewaltsamkeit ganz zu schwei-
gen, die man darin erblicken könnte, daß die überlieferte
und
bewährte Definition des Menschen ausgeschaltet bleibt. Daher
bedarf es einer vorontologischen Bewährung der existenzialen
Interpretation des Daseins als Sorge. Sie liegt in dem
Nachweis,
daß sich das Dasein früh schon, so es sich über sich selbst
aus-
sprach, als Sorge (cura), obzwar nur vor-ontologisch,
ausgelegt
hat.
Die Analytik des Daseins, die bis zum Phänomen der Sorge
vordringt, soll die fundamentalontologische Problematik, die
Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, vorbereiten. Um von
dem Gewonnenen aus den Blick ausdrücklich darauf zu lenken,
über die Sonderaufgabe einer existenzial-apriorischen
Anthropo-
logie hinaus, müssen die Phänomene rückblickend noch ein-
dringlicher gefaßt werden, die im engsten Zusammenhang mit
der leitenden Seinsfrage stehen. Das sind einmal die bisher
expli-
zierten Weisen des Seins: die Zuhandenheit, die
Vorhandenheit,
die innerweltlich Seiendes von nicht daseinsmäßigem
Charakter
bestimmen. Weil bislang die ontologische Problematik das
Sein
primär im Sinne von Vorhandenheit (»Realität«, »Welt«-Wirk-
lichkeit) verstand, das Sein des Daseins aber ontologisch
unbe-
stimmt blieb, bedarf es einer Erörterung des ontologischen
Zusammenhangs von Sorge, Weltlichkeit, Zuhandenheit und
Vorhandenheit (Realität). Das führt zu einer schärferen
Bestim-
mung des Begriffes von Realität im Zusammenhang einer
Diskus-
sion der an dieser Idee orientierten erkenntnistheoretischen
Fragestellungen des Realismus und Idealismus.
Seiendes ist unabhängig von Erfahrung, Kenntnis und
Erfassen,
wodurch es erschlossen, entdeckt und bestimmt wird. Sein
aber
»ist« nur im Verstehen des Seienden, zu dessen Sein so etwas
wie
Seinsverständnis gehört. Sein kann daher unbegriffen sein,
aber es
ist nie völlig unverstanden. In der ontologischen Problematik
wurden von altersher Sein und Wahrheit zusammengebracht,
wenn nicht gar identifiziert. Darin dokumentiert sich,
wenngleich
in den ursprünglichen Gründen vielleicht verborgen, der
notwen-
dige Zusammenhang von Sein und Verständnis. Für die zurei-
chende Vorbereitung der Seinsfrage bedarf es daher der
ontologi-
schen Klärung des Phänomens der Wahrheit. Sie vollzieht sich
zunächst auf dem Boden dessen, was die voranstehende
Interpre-
tation mit den Phänomenen der Erschlossenheit und Entdeckt-
heit, Auslegung und Aussage gewonnen hat. 184
Der Abschluß der vorbereitenden Fundamentalanalyse des
Daseins hat demnach zum Thema: Die Grundbefindlichkeit der
Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins (§
40),
das Sein des Daseins als Sorge (§ 41), die Bewährung der
existen-
zialen Interpretation des Daseins als Sorge aus der
vorontologi-
schen Selbstauslegung des Daseins (§ 42), Dasein,
Weltlichkeit
und Realität (§ 43), Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit (§
44).
§ 40. Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine
ausgezeichnete
Erschlossenheit des Daseins
Eine Seinsmöglichkeit des Daseins soll ontischen »Aufschluß«
geben über es selbst als Seiendes. Aufschluß ist nur möglich
in der
zum Dasein gehörenden Erschlossenheit, die in Befindlichkeit
und
Verstehen gründet. Inwiefern ist die Angst eine
ausgezeichnete
Befindlichkeit? Wie wird in ihr das Dasein durch sein
eigenes Sein
vor es selbst gebracht, so daß phänomenologisch das in der
Angst
erschlossene Seiende als solches in seinem Sein bestimmt,
bzw.
diese Bestimmung zureichend vorbereitet werden kann?
In der Absicht, zum Sein der Ganzheit des Strukturganzen
vor-
zudringen, nehmen wir den Ausgang bei den zuletzt
durchgeführ-
ten konkreten Analysen des Verfallens. Das Aufgehen im Man
und bei der besorgten »Welt« offenbart so etwas wie eine
Flucht
des Daseins vor ihm selbst als eigentlichem
Selbst-sein-können.
Dieses Phänomen der Flucht des Daseins vor ihm selbst und
sei-
ner Eigentlichkeit scheint aber doch am wenigsten die
Eignung zu
haben, als phänomenaler Boden für die folgende Untersuchung
zu dienen. In dieser Flucht bringt sich das Dasein doch
gerade
nicht vor es selbst. Die Abkehr führt entsprechend dem
eigensten
Zug des Verfallens weg vom Dasein. Allein bei dergleichen
Phä-
nomenen muß die Untersuchung sich hüten, die
ontisch-existen-
zielle Charakteristik mit der ontologisch-existenzialen
Interpreta-
tion zusammenzuwerfen, bzw. die in jener liegenden positiven
phänomenalen Grundlagen für diese zu übersehen.
Existenziell ist zwar im Verfallen die Eigentlichkeit des
Selbst-
seins verschlossen und abgedrängt, aber diese
Verschlossenheit ist
nur die Privation einer Erschlossenheit, die sich phänomenal
darin offenbart, daß die Flucht des Daseins Flucht vor ihm
selbst
ist. Im Wovor der Flucht kommt das Dasein gerade »hinter«
ihm
her. Nur sofern Dasein ontologisch wesenhaft durch die ihm
zugehörende Erschlossenheit überhaupt vor es selbst gebracht
ist,
kann es vor ihm fliehen. 185
In dieser verfallenden Abkehr ist freilich das Wovor der
Flucht
nicht erfaßt, ja sogar auch nicht in einer Hinkehr erfahren.
Wohl
aber ist es in der Abkehr von ihm erschlossen »da«. Die
existen-
ziell-ontische Abkehr gibt auf Grund ihres
Erschlossenheitscha-
rakters phänomenal die Möglichkeit, existenzial-ontologisch
das
Wovor der Flucht als solches zu fassen. Innerhalb des
ontischen
»weg von«, das in der Abkehr liegt, kann in phänomenologisch
interpretierender »Hinkehr« das Wovor der Flucht verstanden
und zu Begriff gebracht werden.
Sonach ist die Orientierung der Analyse am Phänomen des Ver-
fallens grundsätzlich nicht zur Aussichtslosigkeit
verurteilt,
ontologisch etwas über das in ihm erschlossene Dasein zu
erfah-
ren. Im Gegenteil – die Interpretation wird gerade hier am
wenigsten einer künstlichen Selbsterfassung des Daseins
ausgelie-
fert. Sie vollzieht nur die Explikation dessen, was das
Dasein
selbst ontisch erschließt. Die Möglichkeit, im
interpretierenden
Mit- und Nachgehen innerhalb eines befindlichen Verstehens
zum Sein des Daseins vorzudringen, erhöht sich, je
ursprünglicher
das Phänomen ist, das methodisch als erschließende
Befindlich-
keit fungiert. Daß die Angst dergleichen leistet, ist
zunächst eine
Behauptung.
Für die Analyse der Angst sind wir nicht ganz unvorbereitet.
Zwar bleibt noch dunkel, wie sie ontologisch mit der Furcht
zusammenhängt. Offensichtlich besteht eine phänomenale Ver-
wandtschaft. Das Anzeichen dafür ist die Tatsache, daß beide
Phänomene meist ungeschieden bleiben und als Angst
bezeichnet
wird, was Furcht ist, und Furcht genannt wird, was den
Charak-
ter der Angst hat. Wir versuchen, schrittweise zum Phänomen
der
Angst vorzudringen.
Das Verfallen des Daseins an das Man und die besorgte »Welt«
nannten wir eine »Flucht« vor ihm selbst. Aber nicht jedes
Zu-
rückweichen vor..., nicht jede Abkehr von... ist notwendig
Flucht.
Das in der Furcht fundierte Zurückweichen vor dem, was
Furcht
erschließt, vor dem Bedrohlichen, hat den Charakter der
Flucht.
Die Interpretation der Furcht als Befindlichkeit zeigte: das
Wovor
der Furcht ist je ein innerweltliches, aus bestimmter
Gegend, in
der Nähe sich näherndes, abträgliches Seiendes, das ausbleiben
kann. Im Verfallen kehrt sich das Dasein von ihm selbst ab.
Das
Wovor dieses Zurückweichens muß überhaupt den Charakter des
Bedrohens haben; es ist jedoch Seiendes von der Seinsart des
zurückweichenden Seienden, es ist das Dasein selbst. Das
Wovor
dieses Zurückweichens kann nicht als »Furchtbares« gefaßt
wer-
den, weil dergleichen immer als innerweltliches Seiendes
begeg-
net. Die Bedrohung, die einzig »furcht- 186
bar« sein kann und die in der Furcht entdeckt wird, kommt
im-
mer von innerweltlichem Seienden her.
Die Abkehr des Verfallens ist deshalb auch kein Fliehen, das
durch eine Furcht vor innerweltlichem Seienden fundiert
wird.
Ein so gegründeter Fluchtcharakter kommt der Abkehr um so
weniger zu, als sie sich gerade hinkehrt zum innerweltlichen
Sei-
enden als Aufgehen in ihm. Die Abkehr des Verfallens gründet
vielmehr in der Angst, die ihrerseits Furcht erst möglich
macht.
Für das Verständnis der Rede von der verfallenden Flucht des
Daseins vor ihm selbst muß das In-der-Welt-sein als
Grundver-
fassung dieses Seienden in Erinnerung gebracht werden. Das
Wovor der Angst ist das In-der-Welt-sein als solches. Wie
unter-
scheidet sich phänomenal das, wovor die Angst sich ängstet,
von
dem, wovor die Furcht sich fürchtet? Das Wovor der Angst ist
kein innerweltliches Seiendes. Daher kann es damit wesenhaft
keine Bewandtnis haben. Die Bedrohung hat nicht den
Charakter
einer bestimmten Abträglichkeit, die das Bedrohte in der
bestimmten Hinsicht auf ein besonderes faktisches Seinkönnen
trifft. Das Wovor der Angst ist völlig unbestimmt. Diese
Unbe-
stimmtheit läßt nicht nur faktisch unentschieden, welches
inner-
weltliche Seiende droht, sondern besagt, daß überhaupt das
innerweltliche Seiende nicht »relevant« ist. Nichts von dem,
was
innerhalb der Welt zuhanden und vorhanden ist, fungiert als
das,
wovor die Angst sich ängstet. Die innerweltlich entdeckte
Bewandtnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen ist als
solche überhaupt ohne Belang. Sie sinkt in sich zusammen.
Die
Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit. In der
Angst
begegnet nicht dieses oder jenes, mit dem es als
Bedrohlichem
eine Bewandtnis haben könnte.
Daher »sieht« die Angst auch nicht ein bestimmtes »Hier« und
»Dort«, aus dem her sich das Bedrohliche nähert. Daß das
Bedrohende nirgends ist, charakterisiert das Wovor der
Angst.
Diese »weiß nicht«, was es ist, davor sie sich ängstet.
»Nirgends«
aber bedeutet nicht nichts, sondern darin liegt Gegend
überhaupt,
Erschlossenheit von Welt überhaupt für das wesenhaft
räumliche
In-Sein. Das Drohende kann sich deshalb auch nicht aus einer
bestimmten Richtung her innerhalb der Nähe nähern, es ist
schon
»da« – und doch nirgends, es ist so nah, daß es beengt und
einem
den Atem verschlägt -und doch nirgends.
Im Wovor der Angst wird das »Nichts ist es und nirgends«
offenbar. Die Aufsässigkeit des innerweltlichen Nichts und
Nirgends be- 187
sagt phänomenal: das Wovor der Angst ist die Welt als
solche.
Die völlige Unbedeutsamkeit, die sich im Nichts und Nirgends
bekundet, bedeutet nicht Weltabwesenheit, sondern besagt,
daß
das innerweltlich Seiende an ihm selbst so völlig belanglos
ist,
daß auf dem Grunde dieser Unbedeutsamkeit des
Innerweltlichen
die Welt in ihrer Weltlichkeit sich einzig noch aufdrängt.
Was beengt, ist nicht dieses oder jenes, aber auch nicht
alles
Vorhandene zusammen als Summe, sondern die Möglichkeit von
Zuhandenem überhaupt, das heißt die Welt selbst. Wenn die
Angst sich gelegt hat, dann pflegt die alltägliche Rede zu
sagen:
»es war eigentlich nichts«. Diese Rede trifft in der Tat
ontisch
das, was es war. Die alltägliche Rede geht auf ein Besorgen
und
Bereden des Zuhandenen. Wovor die Angst sich ängstet, ist
nichts von dem innerweltlichen Zuhandenen. Allein dieses
Nichts
von Zuhandenem, das die alltägliche umsichtige Rede einzig
ver-
steht, ist kein totales Nichts. Das Nichts von Zuhandenheit
grün-
det im ursprünglichsten »Etwas«, in der Welt. Diese jedoch
gehört ontologisch wesenhaft zum Sein des Daseins als
In-der-
Welt-sein. Wenn sich demnach als das Wovor der Angst das
Nichts, das heißt die Welt als solche herausstellt, dann
besagt
das: wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-sein
selbst.
Das Sichängsten erschließt ursprünglich und direkt die Welt
als
Welt. Nicht wird etwa zunächst durch Überlegung von inner-
weltlich Seiendem abgesehen und nur noch die Welt gedacht,
vor
der dann die Angst entsteht, sondern die Angst erschließt
als
Modus der Befindlichkeit allererst die Welt als Welt. Das
bedeu-
tet jedoch nicht, daß in der Angst die Weltlichkeit der Welt
begriffen wird.
Die Angst ist nicht nur Angst vor..., sondern als
Befindlichkeit
zugleich Angst um... Worum die Angst sich abängstet, ist
nicht
eine bestimmte Seinsart und Möglichkeit des Daseins. Die
Bedro-
hung ist ja selbst unbestimmt und vermag daher nicht auf
dieses
oder jenes faktisch konkrete Seinkönnen bedrohend einzudrin-
gen. Worum sich die Angst ängstet, ist das In-der-Welt-sein
selbst. In der Angst versinkt das umweltlich Zuhandene,
über-
haupt das innerweltlich Seiende. Die »Welt« vermag nichts
mehr
zu bieten, ebensowenig das Mitdasein Anderer. Die Angst be-
nimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der
»Welt« und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie
wirft
das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein
eigent-
liches In-der-Welt-sein-können. Die Angst vereinzelt das
Dasein
auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, das als verstehendes
wesen-
haft auf Möglichkeiten sich entwirft. Mit dem Worum des
Sich- 188
ängstens erschließt daher die Angst das Dasein als
Möglichsein
und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als
vereinzeltes
in der Vereinzelung sein kann.
Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Sein-
können, das heißt das Freisein für die Freiheit des
Sich-selbst-
wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor
sein
Freisein für... (propensio in...) die Eigentlichkeit seines
Seins als
Möglichkeit, die es immer schon ist. Dieses Sein aber ist es
zugleich, dem das Dasein als In-der-Welt-sein überantwortet
ist.
Das, worum die Angst sich ängstet, enthüllt sich als das,
wovor
sie sich ängstet: das In-der-Welt-sein. Die Selbigkeit des
Wovor
der Angst und ihres Worum erstreckt sich sogar auf das
Sichängsten selbst. Denn dieses ist als Befindlichkeit eine
Grund-
art des In-der-Welt-seins. Die existenziale Selbigkeit des
Er-
schließens mit dem Erschlossenen, so zwar, daß in diesem die
Welt als Welt, das In-Sein als vereinzeltes, reines,
geworfenes
Seinkönnen erschlossen ist, macht deutlich, daß mit dem
Phäno-
men der Angst eine ausgezeichnete Befindlichkeit Thema der
Interpretation geworden ist. Die Angst vereinzelt und
erschließt
so das Dasein als »solus ipse«. Dieser existenziale
»Solipsismus«
versetzt aber so wenig ein isoliertes Subjektding in die
harmlose
Leere eines weltlosen Vorkommens, daß er das Dasein gerade
in
einem extremen Sinne vor seine Welt als Welt und damit es
selbst
vor sich selbst als In-der-Welt-sein bringt.
Daß die Angst als Grundbefindlichkeit in solcher Weise er-
schließt, dafür ist wieder die alltägliche Daseinsauslegung
und
Rede der unvoreingenommenste Beleg. Befindlichkeit, so wurde
früher gesagt, macht offenbar, »wie einem ist«. In der Angst
ist
einem »unheimlich«. Darin kommt zunächst die eigentümliche
Unbestimmtheit dessen, wobei sich das Dasein in der Angst
be-
findet, zum Ausdruck: das Nichts und Nirgends.
Unheimlichkeit
meint aber dabei zugleich das Nicht-zuhause-sein. Bei der
ersten
phänomenalen Anzeige der Grundverfassung des Daseins und der
Klärung des existenzialen Sinnes von In-Sein im Unterschied
von
der kategorialen Bedeutung der »Inwendigkeit« wurde das In-
Sein bestimmt als Wohnen bei..., Vertrautsein mit...1 Dieser
Cha-
rakter des In-Seins wurde dann konkreter sichtbar gemacht
durch
die alltägliche Öffentlichkeit des Man. das die beruhigte
Selbst-
sicherheit, das selbstverständliche »Zuhause-sein« in die
1 Vgl. § 12, S.
53 ff. 189
durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins bringt.1 Die
Angst
dagegen holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in
der
»Welt« zurück. Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich
zusammen. Das Dasein ist vereinzelt, das jedoch als
In-der-Welt-
sein. Das In-sein kommt in den existenzialen »Modus« des Un-
zuhause. Nichts anderes meint die Rede von der »Unheimlich-
keit«.
Nunmehr wird phänomenal sichtbar, wovor das Verfallen als
Flucht flieht. Nicht vor innerweltlichem Seienden, sondern
gerade
zu diesem als dem Seienden, dabei das Besorgen, verloren in
das
Man, in beruhigter Vertrautheit sich aufhalten kann. Die
verfal-
lende Flucht in das Zuhause der Öffentlichkeit ist Flucht
vor dem
Unzuhause, das heißt der Unheimlichkeit, die im Dasein als
geworfenen, ihm selbst in seinem Sein überantworteten
In-der-
Welt-sein liegt. Diese Unheimlichkeit setzt dem Dasein
ständig
nach und bedroht, wenngleich unausdrücklich, seine
alltägliche
Verlorenheit in das Man. Diese Bedrohung kann faktisch
zusammengehen mit einer völligen Sicherheit und Unbedürftig-
keit des alltäglichen Besorgens. Die Angst kann in den
harmloses-
ten Situationen aufsteigen. Es bedarf auch nicht der
Dunkelheit,
in der es einem gemeinhin leichter unheimlich wird. Im
Dunkeln
ist in einer betonten Weise »nichts« zu sehen, obzwar gerade
die
Welt noch und aufdringlicher »da« ist.
Wenn wir existenzial-ontologisch die Unheimlichkeit des Da-
seins als die Bedrohung interpretieren, die das Dasein
selbst von
ihm selbst her trifft, dann wird damit nicht behauptet, die
Un-
heimlichkeit sei in der faktischen Angst auch immer schon in
diesem Sinne verstanden. Die alltägliche Art, in der das
Dasein
die Unheimlichkeit versteht, ist die verfallende, das
Un-zuhause
»abblendende« Abkehr. Die Alltäglichkeit dieses Fliehens
zeigt
jedoch phänomenal: zur wesenhaften Daseinsverfassung des In-
der-Welt-seins, die als existenziale nie vorhanden, sondern
selbst
immer in einem Modus des faktischen Daseins, das heißt einer
Befindlichkeit ist, gehört die Angst als
Grundbefindlichkeit. Das
beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der
Unheim-
lichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muß
existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen
begrif-
fen werden.
Und nur weil die Angst latent das In-der-Welt-sein immer
schon bestimmt, kann dieses als besorgend-befindliches Sein
bei
der »Welt« sich fürchten. Furcht ist an die »Welt«
verfallene,
uneigentliche und ihr selbst als solche verborgene Angst.
1 Vgl. § 27, S.
126 ff. 190
Faktisch bleibt denn auch die Stimmung der Unheimlichkeit
meist existenziell unverstanden. »Eigentliche« Angst ist
überdies
bei der Vorherrschaft des Verfallens und der Öffentlichkeit
sel-
ten. Oft ist die Angst »physiologisch« bedingt. Dieses
Faktum ist
in seiner Faktizität ein ontologisches Problem, nicht nur
hinsicht-
lich seiner ontischen Verursachung und Verlaufsform.
Physiologi-
sche Auslösung von Angst wird nur möglich, weil das Dasein
im
Grunde seines Seins sich ängstet.
Noch seltener als das existenzielle Faktum der eigentlichen
Angst sind die Versuche, dieses Phänomen in seiner
grundsätz-
lichen existenzial-ontologischen Konstitution und Funktion
zu
interpretieren. Die Gründe hierfür liegen zum Teil in der
Ver-
nachlässigung der existenzialen Analytik des Daseins
überhaupt,
im besonderen aber im Verkennen des Phänomens der Befind-
lichkeit.1 Die faktische Seltenheit des Angstphänomens
vermag
ihm jedoch nicht die Eignung zu entziehen, für die
existenziale
Analytik eine grundsätzliche methodische Funktion zu
überneh-
men. Im Gegenteil – die Seltenheit des Phänomens ist ein
Index
dafür, daß das Dasein, das ihm selbst zumeist durch die
öffent-
liche Ausgelegtheit des Man in seiner Eigentlichkeit
verdeckt
bleibt, in dieser Grundbefindlichkeit in einem
ursprünglichen
Sinne erschließbar wird.
Zwar gehört zum Wesen jeder Befindlichkeit, je das volle In-
der-Welt-sein nach allen seinen konstitutiven Momenten
(Welt,
In-Sein, Selbst) zu erschließen. Allein in der Angst liegt
die Mög-
lichkeit eines
1 Es ist kein Zufall, daß die Phänomene von Angst und
Furcht, die
durchgängig ungeschieden bleiben, ontisch und auch, obzwar
in sehr
engen Grenzen, ontologisch in den Gesichtskreis der
christlichen
Theologie kamen. Das geschah immer dann, wenn das
anthropologische
Problem des Seins des Menschen zu Gott einen Vorrang gewann
und
Phänomene wie Glaube, Sünde, Liebe, Reue die Fragestellung
leiteten.
Vgl. Augustins Lehre vom timor castus und servilis, die in
seinen
exegetischen Schriften und in den Briefen vielfach
besprochen wird. Über
Furcht überhaupt vgl. De diversis quaestionibus octoginta
tribus qu. 33:
de metu, qu. 34: utrum non aliud amandum sit, quam metu
carere, qu.
35: quid amandum
sit. (Migne P. L. VII, 23
sqq.)
Luther hat das Furchtproblem außer in dem überlieferten
Zusammenhang einer Interpretation von poenitentia und
contritio in
seinem Genesiskommentar behandelt, hier freilich am
wenigsten
begrifflich, erbaulich aber um so eindringlicher; vgl.
Enarrationes in
genesin cap. 3,
WW. (Erl. Ausg.) Exegetica opera latina, tom. I, 177 sqq.
Am weitesten ist S. Kierkegaard vorgedrungen in der Analyse
des
Angstphänomens und zwar wiederum im theologischen
Zusammenhang
einer »psychologischen« Exposition des Problems der
Erbsünde. Vgl.
Der Begriff der Angst, 1844. Ges. Werke (Diederichs), Bd. 5.
191
ausgezeichneten Erschließens, weil sie vereinzelt. Diese
Vereinze-
lung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht
ihm
Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines
Seins
offenbar. Diese Grundmöglichkeiten des Daseins, das je
meines
ist, zeigen sich in der Angst wie an ihnen selbst,
unverstellt durch
innerweltliches Seiendes, daran sich das Dasein zunächst und
zumeist klammert.
Inwiefern ist mit dieser existenzialen Interpretation der
Angst
ein phänomenaler Boden gewonnen für die Beantwortung der
leitenden Frage nach dem Sein der Ganzheit des
Strukturganzen
des Daseins?
§ 41. Das Sein des Daseins als Sorge
In der Absicht, die Ganzheit des Struktur ganzen ontologisch
zu fassen, müssen wir zunächst fragen: Vermag das Phänomen
der Angst und das in ihr Erschlossene das Ganze des Daseins
phänomenal gleichursprünglich so zu geben, daß sich der
suchende Blick auf die Ganzheit an dieser Gegebenheit
erfüllen
kann? Der Gesamtbestand dessen, was in ihr liegt, läßt sich
in
formaler Aufzählung registrieren: Das Sichängsten ist als
Befind-
lichkeit eine Weise des In-der-Weltseins; das Wovor der
Angst ist
das geworfene In-der-Welt-sein; das Worum der Angst ist das
In-
der-Welt-sein-können. Das volle Phänomen der Angst demnach
zeigt das Dasein als faktisch existierendes
In-der-Welt-sein. Die
fundamentalen ontologischen Charaktere dieses Seienden sind
Existenzialität, Faktizität und Verfallensein. Diese
existenzialen
Bestimmungen gehören nicht als Stücke zu einem Kompositum,
daran zuweilen eines fehlen könnte, sondern in ihnen webt
ein
ursprünglicher Zusammenhang, der die gesuchte Ganzheit des
Strukturganzen ausmacht. In der Einheit der genannten
Seinsbe-
stimmungen des Daseins wird dessen Sein als solches
ontologisch
faßbar. Wie ist diese Einheit selbst zu charakterisieren?
Das Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses
selbst
geht. Das »es geht um...« hat sich verdeutlicht in der
Seinsverfas-
sung des Verstehens als des sichentwerfenden Seins zum
eigensten
Seinkönnen. Dieses ist es, worumwillen das Dasein je ist,
wie es
ist. Das Dasein hat sich in seinem Sein je schon
zusammengestellt
mit einer Möglichkeit seiner selbst. Das Freisein für das
eigenste
Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit
und
Uneigentlichkeit zeigt sich in einer ursprünglichen, elementaren
Konkretion in der Angst. Das Sein zum eigensten Sein können
besagt aber ontologisch: das Dasein ist ihm selbst in seinem
Sein
je schon vorweg. 192
Dasein ist immer schon »über sich hinaus«, nicht als
Verhalten
zu anderem Seienden, das es nicht ist, sondern als Sein zum
Sein-
können, das es selbst ist. Diese Seinsstruktur des
wesenhaften »es
geht um...« fassen wir als das Sich-vorweg-sein des Daseins.
Diese Struktur betrifft aber das Ganze der
Daseinsverfassung.
Das Sich-vorweg-sein bedeutet nicht so etwas wie eine
isolierte
Tendenz in einem weltlosen »Subjekt«, sondern
charakterisiert
das In-der-Welt-sein. Zu diesem gehört aber, daß es ihm
selbst
überantwortet, je schon in eine Welt geworfen ist. Die
Überlas-
senheit des Daseins an es selbst zeigt sich ursprünglich
konkret in
der Angst. Das Sich-vorweg-sein besagt voller gefaßt:
Sich-vor-
weg-im-schon-sein-in-einer-Welt. Sobald diese wesenhaft
einheit-
liche Struktur phänomenal gesehen ist, verdeutlicht sich auch
das,
was früher bei der Analyse der Weltlichkeit herausgestellt
wurde.
Dort ergab sich: das Verweisungsganze der Bedeutsamkeit, als
welche die Weltlichkeit konstituiert, ist »festgemacht« in
einem
Worum-willen. Die Verklammerung des Verweisungsganzen, der
mannigfaltigen Bezüge des »Um-zu«, mit dem, worum es dem
Dasein geht, bedeutet kein Zusammenschweißen einer vorhande-
nen »Welt« von Objekten mit einem Subjekt. Sie ist vielmehr
der
phänomenale Ausdruck der ursprünglich ganzen Verfassung des
Daseins, dessen Ganzheit jetzt explizit abgehoben ist als
Sich-
vorweg-im-schon-sein-in ... Anders gewendet: Existieren ist
immer faktisches. Existenzialität ist wesenhaft durch
Faktizität
bestimmt.
Und wiederum: faktisches Existieren des Daseins ist nicht
nur
überhaupt und indifferent ein geworfenes
In-der-Welt-sein-kön-
nen, sondern ist immer auch schon in der besorgten Welt
aufge-
gangen. In diesem verfallenden Sein bei... meldet sich
ausdrück-
lich oder nicht, verstanden oder nicht das Fliehen vor der
Un-
heimlichkeit, die zumeist mit der latenten Angst verdeckt
bleibt,
weil die Öffentlichkeit des Man alle Unvertrautheit
niederhält. Im
Sich-vorweg-schon-sein-in-einer-Welt liegt wesenhaft mitbe-
schlossen das verfallende Sein beim besorgten
innerweltlichen
Zuhandenen.
Die formal existenziale Ganzheit des ontologischen Struktur-
ganzen des Daseins muß daher in folgender Struktur gefaßt
wer-
den: Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-
Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden).
Dieses
Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge, der rein
ontologisch-
existenzial gebraucht wird. Ausgeschlossen bleibt aus der
Bedeu-
tung jede ontisch gemeinte Seinstendenz wie Besorgnis, bzw.
Sorglosigkeit. 193
Weil das In-der-Welt-sein wesenhaft Sorge ist, deshalb
konnte
in den voranstehenden Analysen das Sein bei dem Zuhandenen
als Besorgen, das Sein mit dem innerweltlich begegnenden
Mitda-
sein Anderer als Fürsorge gefaßt werden. Das Sein-bei... ist
Besorgen, weil es als Weise des In-Seins durch dessen Grund-
struktur, die Sorge, bestimmt wird. Die Sorge
charakterisiert
nicht etwa nur Existenzialität, abgelöst von Faktizität und
Ver-
fallen, sondern umgreift die Einheit dieser
Seinsbestimmungen.
Sorge meint daher auch nicht primär und ausschließlich ein
iso-
liertes Verhalten des Ich zu ihm selbst. Der Ausdruck
»Selbst-
sorge« nach der Analogie von Besorgen und Fürsorge wäre eine
Tautologie. Sorge kann nicht ein besonderes Verhalten zum
Selbst meinen, weil dieses ontologisch schon durch das
Sich-vor-
weg-sein charakterisiert ist; in dieser Bestimmung sind aber
auch
die beiden anderen strukturalen Momente der Sorge, das
Schon-
sein-in ... und das Sein-bei... mitgesetzt.
Im Sich-vorweg-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt
die
existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des
Freiseins
für eigentliche existenzielle Möglichkeiten. Das Seinkönnen
ist es,
worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist. Sofern
nun
aber dieses Sein zum Seinkönnen selbst durch die Freiheit
bestimmt wird, kann sich das Dasein zu seinen Möglichkeiten
auch unwillentlich verhalten, es kann uneigentlich sein und
ist
faktisch zunächst und zumeist in dieser Weise. Das
eigentliche
Worumwillen bleibt unergriffen, der Entwurf des Seinkönnens
seiner selbst ist der Verfügung des Man überlassen. Im
Sich-vor-
weg-sein meint daher das »Sich« jeweils das Selbst im Sinne
des
Man-selbst. Auch in der Uneigentlichkeit bleibt das Dasein
wesenhaft Sich-vorweg, ebenso wie das verfallende Fliehen
des
Daseins vor ihm selbst noch die Seinsverfassung zeigt, daß
es
diesem Seienden um sein Sein geht.
Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit
existenzial-
apriorisch »vor« jeder, das heißt immer schon in jeder
faktischen
»Verhaltung« und »Lage« des Daseins. Das Phänomen drückt
daher keineswegs einen Vorrang des »praktischen« Verhaltens
vor dem theoretischen aus. Das nur anschauende Bestimmen
eines Vorhandenen hat nicht weniger den Charakter der Sorge
als
eine »politische Aktion« oder das ausruhende Sichvergnügen.
»Theorie« und »Praxis« sind Seinsmöglichkeiten eines
Seienden,
dessen Sein als Sorge bestimmt werden muß.
Daher mißlingt auch der Versuch, das Phänomen der Sorge in
seiner wesenhaft unzerreißbaren Ganzheit auf besondere Akte
oder 194
Triebe wie Wollen und Wünschen oder Drang und Hang zurück-
zuleiten, bzw. aus ihnen zusammenzubauen.
Wollen und Wünschen sind ontologisch notwendig im Dasein
als Sorge verwurzelt und nicht einfach ontologisch
indifferente, in
einem seinem Seinssinne nach völlig unbestimmten »Strom«
vor-
kommende Erlebnisse. Das gilt nicht minder von Hang und
Drang. Auch sie gründen, sofern sie im Dasein überhaupt rein
aufweisbar sind, in der Sorge. Das schließt nicht aus, daß
Drang
und Hang ontologisch auch Seiendes konstituieren, das nur
»lebt«. Die ontologische Grundverfassung von »leben« ist
jedoch
ein eigenes Problem und nur auf dem Wege reduktiver
Privation
aus der Ontologie des Daseins aufzurollen.
Die Sorge ist ontologisch »früher« als die genannten Phäno-
mene, die freilich immer in gewissen Grenzen angemessen
»beschrieben« werden können, ohne daß der volle ontologische
Horizont sichtbar oder überhaupt auch nur bekannt zu sein
braucht. Für die vorliegende fundamentalontologische Unter-
suchung, die weder eine thematisch vollständige Ontologie
des
Daseins anstrebt, noch gar eine konkrete Anthropologie, muß
ein
Hinweis darauf genügen, wie diese Phänomene existenzial in
der
Sorge gegründet sind.
Das Seinkönnen, worumwillen das Dasein ist, hat selbst die
Seinsart des In-der-Welt-seins. In ihm liegt demnach
ontologisch
der Bezug auf innerweltliches Seiendes. Sorge ist immer,
wenn
auch nur privativ, Besorgen und Fürsorge. Im Wollen wird ein
verstandenes, das heißt auf seine Möglichkeit entworfenes
Seien-
des als zu besorgendes bzw. als durch Fürsorge in sein Sein
zu
bringendes ergriffen. Deshalb gehört zum Wollen je ein
Gewolles,
das sich schon bestimmt hat aus einem Worum-willen. Für die
ontologische Möglichkeit von Wollen ist konstitutiv: die
vorgän-
gige Erschlossenheit des Worumwillen überhaupt (Sich-vorweg-
sein), die Erschlossenheit von Besorgbarem (Welt als das
Worin
des Schon-seins) und das verstehende Sichentwerfen des
Daseins
auf ein Seinkönnen zu einer Möglichkeit des »gewollten«
Seien-
den. Im Phänomen des Wollens blickt die zugrundeliegende
Ganzheit der Sorge durch.
Das verstehende Sichentwerfen des Daseins ist als faktisches
je
schon bei einer entdeckten Welt. Aus dieser nimmt es – und
zunächst gemäß der Ausgelegtheit des Man – seine Möglichkei-
ten. Diese Auslegung hat im vorhinein die wahlfreien
Möglichkei-
ten auf den Umkreis des Bekannten, Erreichbaren, Tragbaren,
dessen, was sich gehört und schickt, eingeschränkt. Diese
Nivel-
lierung der Daseinsmöglichkeiten auf das alltäglich zunächst
Verfügbare vollzieht zugleich 195
eine Abblendung des Möglichen als solchen. Die durchschnitt-
liche Alltäglichkeit des Besorgens wird möglichkeitsblind
und
beruhigt sich bei dem nur »Wirklichen«. Diese Beruhigung
schließt eine ausgedehnte Betriebsamkeit des Besorgens nicht
aus,
sondern weckt sie. Gewollt sind dann nicht positive neue
Mög-
lichkeiten, sondern das Verfügbare wird »taktisch« in der
Weise
geändert, daß der Schein entsteht, es geschehe etwas.
Das beruhigte »Wollen« unter Führung des Man bedeutet
gleichwohl nicht ein Auslöschen des Seins zum Seinkönnen,
son-
dern nur eine Modifikation. Das Sein zu den Möglichkeiten
zeigt
sich dann zumeist als bloßes Wünschen. Im Wunsch entwirft
das
Dasein sein Sein auf Möglichkeiten, die im Besorgen nicht
nur
unergriffen bleiben, sondern deren Erfüllung nicht einmal
bedacht und erwartet wird. Im Gegenteil: die Vorherrschaft
des
Sich-vorweg-seins im Modus des bloßen Wünschens bringt ein
Unverständnis der faktischen Möglichkeiten mit sich. Das
In-der-
Welt-sein, dessen Welt primär als Wunsch-weit entworfen ist,
hat
sich haltlos an das Verfügbare verloren, so jedoch, daß
dieses als
das einzig Zuhandene im Lichte des Gewünschten doch nie
genügt. Das Wünschen ist eine existenziale Modifikation des
verstehenden Sichentwerfens, das, der Geworfenheit
verfallen,
den Möglichkeiten lediglich noch nachhängt. Solches Nachhän-
gen verschließt die Möglichkeiten; was im wünschenden Nach-
hängen »da« ist, wird zur »wirklichen Welt«. Wünschen setzt
ontologisch Sorge voraus.
Im Nachhängen hat das Schon-sein-bei... den Vorrang. Das
Sich-vorweg-im-schon-sein-in... ist entsprechend
modifiziert. Das
verfallende Nachhängen offenbart den Hang des Daseins, von
der
Welt, in der es je ist, »gelebt« zu werden. Der Hang zeigt
den
Charakter des Ausseins auf... Das Sich-vorweg-sein hat sich
ver-
loren in ein »Nur-immer-schon-bei...«. Das »Hin-zu« des
Hanges
ist ein Sichziehenlassen von solchem, dem der Hang
nachhängt.
Wenn das Dasein in einem Hang gleichsam versinkt, dann ist
nicht lediglich noch ein Hang vorhanden, sondern die volle
Struktur der Sorge ist modifiziert. Blind geworden, macht es
alle
Möglichkeiten dem Hang dienstbar.
Dagegen ist der Drang »zu leben« ein »Hin-zu«, das von ihm
selbst her den Antrieb mitbringt. Es ist »Hin-zu um jeden
Preis«.
Der Drang sucht andere Möglichkeiten zu verdrängen. Auch
hier
ist das Sich-vorweg-sein ein uneigentliches, wenn auch das
Über-
fallensein vom Drang aus dem Drängenden selbst kommt. Der
Drang kann die jeweilige Befindlichkeit und das Verstehen
über-
rennen. Das Da- 196
sein ist aber dann nicht und nie »bloßer Drang«, zu dem
biswei-
len andere Verhaltungen des Beherrschens und des Leitens
hinzu-
kommen, sondern es ist als Modifikation des vollen
In-der-Welt-
seins immer schon Sorge.
Im puren Drang ist die Sorge noch nicht frei geworden,
obzwar
sie erst das Bedrängtsein des Daseins aus ihm selbst her
ontolo-
gisch möglich macht. Im Hang dagegen ist die Sorge immer
schon
gebunden. Hang und Drang sind Möglichkeiten, die in der
Geworfenheit des Daseins wurzeln. Der Drang »zu leben« ist
nicht zu vernichten, der Hang, von der Welt »gelebt« zu
werden,
ist nicht auszurotten. Beide aber sind, weil sie und nur
weil sie
ontologisch in der Sorge gründen, durch diese als
eigentliche
ontisch existenziell zu modifizieren.
Der Ausdruck »Sorge« meint ein existenzial-ontologisches
Grundphänomen, das gleichwohl in seiner Struktur nicht
einfach
ist. Die ontologisch elementare Ganzheit der Sorgestruktur
kann
nicht auf ein ontisches »Urelement« zurückgeführt werden, so
gewiß das Sein nicht aus Seiendem »erklärt« werden kann. Am
Ende wird sich zeigen, daß die Idee von Sein überhaupt
ebenso-
wenig »einfach« ist wie das Sein des Daseins. Die Bestimmung
der Sorge als Sich-vorweg-sein – im-schon-sein-in... – als
Sein-
bei... macht deutlich, daß auch dieses Phänomen in sich noch
struktural gegliedert ist. Ist das aber nicht das
phänomenale
Anzeichen dafür, daß die ontologische Frage noch weiter
vorge-
trieben werden muß zur Herausstellung eines noch ursprüng-
licheren Phänomens, das die Einheit und Ganzheit der
Struktur-
mannigfaltigkeit der Sorge ontologisch trägt? Bevor die
Unter-
suchung dieser Frage nachgeht, bedarf es einer
rückblickenden
und verschärften Zueignung des bislang Interpretierten in
der
Absicht auf die fundamentalontologische Frage nach dem Sinn
von Sein überhaupt. Vordem aber ist zu zeigen, daß das
ontolo-
gisch »Neue« dieser Interpretation ontisch recht alt ist.
Die
Explikation des Seins des Daseins als Sorge zwängt dieses
nicht
unter eine erdachte Idee, sondern bringt uns existenzial zu
Begriff, was ontisch-existenziell schon erschlossen ist.
§ 42, Die Bewährung der existenzialen Interpretation des
Daseins als Sorge aus der vorontologischen Selbstauslegung
des
Daseins
In den vorstehenden Interpretationen, die schließlich zur
Her-
ausstellung der Sorge als Sein des Daseins führten, lag
alles
daran, für das Seiende, das wir je selbst sind und das wir
»Mensch« nennen, die 197
angemessenen ontologischen Fundamente zu gewinnen. Dazu
mußte die Analyse von vornherein aus der Richtung auf den
überlieferten, aber ontologisch ungeklärten und
grundsätzlich
fragwürdigen Ansatz herausgedreht werden, wie er durch die
traditionelle Definition des Menschen vorgegeben ist. An
dieser
gemessen, mag die existenzial-ontologische Interpretation
befremden, besonders dann, wenn »Sorge« lediglich ontisch
als
»Besorgnis« und »Bekümmernis« verstanden wird. Deshalb soll
jetzt ein vorontologisches Zeugnis angeführt werden, dessen
Beweiskraft zwar »nur geschichtlich« ist.
Bedenken wir jedoch: in dem Zeugnis spricht sich das Dasein
über sich selbst aus, »ursprünglich«, nicht bestimmt durch
theo-
retische Interpretationen und ohne Absicht auf solche.
Beachten
wir ferner: das Sein des Daseins ist durch Geschichtlichkeit
cha-
rakterisiert, was allerdings erst ontologisch nachgewiesen
werden
muß. Wenn das Dasein im Grunde seines Seins »geschichtlich«
ist, dann erhält eine Aussage, die aus seiner Geschichte
kommt
und in sie zurückgeht und überdies vor aller Wissenschaft
liegt,
ein besonderes, freilich nie rein ontologisches Gewicht. Das
im
Dasein selbst liegende Seinsverständnis spricht sich
vorontolo-
gisch aus. Das im folgenden angeführte Zeugnis soll deutlich
machen, daß die existenziale Interpretation keine Erfindung
ist,
sondern als ontologische »Konstruktion« ihren Boden und mit
diesem ihre elementaren Vorzeichnungen hat.
Die folgende Selbstauslegung des Daseins als »Sorge« ist in
einer alten Fabel niedergelegt:1
Cura cum fluvium
transiret, videt cretosum lutum
sustulitque
cogitabunda atque coepit fingere.
dum deliberat
quid iam fecisset, Jovis intervenit.
rogat eum Cura ut
det illi spiritum, et facile impetrat.
cui cum vellet
Cura nomen ex sese ipsa imponere,
Jovis prohibuit
suumque nomen ei dandum esse dictitat.
dum Cura et Jovis
disceptant, Tellus surrexit simul
suumque nomen esse volt cui corpus praebuerit suum.
1 Der Verf. stieß auf den folgenden vorontologischen Beleg
für die
existenzial-ontologische Interpretation des Daseins als
Sorge durch den
Aufsatz von K. Burdach, Faust und die Sorge. Deutsche
Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte I
(1923), S. 1 ff. B. zeigt, daß Goethe die Cura-Fabel, die
als 220. der
Fabeln des Hyginus überliefert ist, von Herder übernahm und
für den
zweiten Teil seines »Faust« bearbeitete. Vgl. besonders S.
40 ff. – Der
obige Text ist zitiert nach F. Bücheler, Rheinisches Museum
Bd. 41
(1886) S. 5, die Übersetzung nach Burdach, a. a. O. S. 41 f.
198
sumpserunt
Saturnum iudicem, is sic aecus iudicat:
›tu Jovis quia
spiritum dedisti, in morte spiritum,
tuque Tellus, quia
dedisti corpus, corpus recipito,
Cura enim quia
prima finxit, teneat quamdiu vixerit.
sed quae nunc de
nomine eius vobis controversia est,
homo vocetur,
quia videtur esse factus ex humo.‹
»Als einst die »Sorge« über einen Fluß ging, sah sie tonhal-
tiges Erdreich: sinnend nahm sie davon ein Stück und begann
es zu formen. Während sie bei sich darüber nachdenkt, was
sie
geschaffen, tritt Jupiter hinzu. Ihn bittet die »Sorge«, daß
er
dem geformten Stück Ton Geist verleihe. Das gewährt ihr
Jupi-
ter gern. Als sie aber ihrem Gebilde nun ihren Namen
beilegen
wollte, verbot das Jupiter und verlangte, daß ihm sein Name
gegeben werden müsse. Während über den Namen die »Sorge«
und Jupiter stritten, erhob sich auch die Erde (Tellus) und
begehrte, daß dem Gebilde ihr Name beigelegt werde, da sie
ja
doch ihm ein Stück ihres Leibes dargeboten habe. Die
Streiten-
den nahmen Saturn zum Richter. Und ihnen erteilte Saturn
fol-
gende anscheinend gerechte Entscheidung: »Du, Jupiter, weil
du den Geist gegeben hast, sollst bei seinem Tode den Geist,
du, Erde, weil du den Körper geschenkt hast, sollst den
Körper
empfangen. Weil aber die »Sorge« dieses Wesen zuerst
gebildet,
so möge, solange es lebt, die »Sorge« es besitzen. Weil aber
über den Namen Streit besteht, so möge es »homo« heißen, da
es aus humus (Erde) gemacht ist.«
Dieses vorontologische Zeugnis gewinnt dadurch eine beson-
dere Bedeutung, daß es nicht nur überhaupt die »Sorge« als
das
sieht, dem das menschliche Dasein »zeitlebens« gehört,
sondern
daß dieser Vorrang der »Sorge« im Zusammenhang mit der
bekannten Auffassung des Menschen als des Kompositums aus
Leib (Erde) und Geist heraustritt. Cura prima finxit: Dieses
Sei-
ende hat den »Ursprung« seines Seins in der Sorge. Cura
teneat,
quamdiu vixerit: Das Seiende wird von diesem Ursprung nicht
entlassen, sondern festgehalten, von ihm durchherrscht,
solange
dieses Seiende »in der Welt ist«. Das »In-der-Welt-sein« hat
die
seinsmäßige Prägung der »Sorge«. Den Namen (homo) erhält
dieses Seiende nicht mit Rücksicht auf sein Sein, sondern in
bezug
darauf, woraus es besteht (humus). Worin das »ursprüngliche«
Sein dieses Gebildes zu sehen sei, darüber steht die
Entscheidung
bei Saturnus, der »Zeit«.1 Die in der Fabel ausgedrückte
1 Vgl. Herders Gedicht: Das Kind der Sorge (Suphan XXIX,
75). 199
vorontologische Wesensbestimmung des Menschen hat sonach im
vorhinein die Seinsart in den Blick genommen, die seinen
zeit-
lichen Wandel in der Welt durchherrscht.
Die Bedeutungsgeschichte des ontischen Begriffes »cura« läßt
sogar noch weitere Grundstrukturen des Daseins durckblicken.
Burdach1 macht auf einen Doppelsinn des Terminus »cura« auf-
merksam, wonach er nicht nur »ängstliche Bemühung« bedeutet,
sondern auch »Sorgfalt«, »Hingabe«. So schreibt Seneca in
sei-
nem letzten Brief (ep. 124): »Unter den vier existierenden
Naturen (Baum, Tier, Mensch, Gott) unterscheiden sich die
bei-
den letzten, die allein mit Vernunft begabt sind, dadurch,
daß
Gott unsterblich, der Mensch sterblich ist. Bei ihnen nun
vollen-
det das Gute des Einen, nämlich Gottes, seine Natur, bei dem
andern, dem Menschen, die Sorge (cura): unius bonum natura
perficit, dei
scilicet, alterius cura, hominis.«
Die perfectio des Menschen, das Werden zu dem, was er in
sei-
nem Freisein für seine eigensten Möglichkeiten (dem Entwurf)
sein kann, ist eine »Leistung« der »Sorge«.
Gleichursprünglich
bestimmt sie aber die Grundart dieses Seienden, gemäß der es
an
die besorgte Welt ausgeliefert ist (Geworfenheit). Der
»Doppel-
sinn« von »cura« meint eine Grundverfassung in ihrer
wesenhaft
zweifachen Struktur des geworfenen Entwurfs.
Die existenzial-ontologische Interpretation ist der
ontischen
Auslegung gegenüber nicht etwa nur eine theoretisch-ontische
Verallgemeinerung. Das würde lediglich besagen: ontisch sind
alle Verhaltungen des Menschen »sorgenvoll« und geführt
durch
eine »Hingabe« an etwas. Die »Verallgemeinerung« ist eine
apri-
orisch-ontologische. Sie meint nicht ständig auftretende
ontische
Eigenschaften, sondern eine je schon zugrunde liegende
Seinsver-
fassung. Diese macht erst ontologisch möglich, daß dieses
Seiende
ontisch als cura angesprochen werden kann. Die existenziale
Bedingung der Möglichkeit von »Lebenssorge« und »Hingabe«
muß in einem ursprünglichen, das heißt ontologischen Sinne
als
Sorge begriffen werden.
Die transzendentale »Allgemeinheit« des Phänomens der Sorge
und aller fundamentalen Existenzialien hat andererseits jene
Weite, durch
1 a. a. O. S. 49. Schon in der Stoa war m?rimna ein fester
Terminus und
kehrt im N. T. wieder, in der Vulgata als sollicitudo. – Die
in der
vorstehenden existenzialen Analytik des Daseins befolgte
Blickrichtung
auf die »Sorge« erwuchs dem Verf. im Zusammenhang der
Versuche
einer Interpretation der augustinischen – das heißt
griechisch-christlichen
– Anthropologie mit Rücksicht auf die grundsätzlichen
Fundamente, die
in der Ontologie des Aristoteles erreicht wurden. 200
die der Boden vorgegeben wird, auf dem sich jede
ontisch-welt-
anschauliche Daseinsauslegung bewegt, mag sie das Dasein als
»Lebenssorge« und Not oder gegenteilig verstehen.
Die ontisch sich aufdrängende »Leere« und »Allgemeinheit«
der existenzialen Strukturen hat ihre eigene ontologische
Bestimmtheit und Fülle. Das Ganze der Daseinsverfassung
selbst
ist daher in seiner Einheit nicht einfach, sondern zeigt
eine struk-
turale Gliederung, die im existenzialen Begriff der Sorge
zum
Ausdruck kommt.
Die ontologische Interpretation des Daseins hat die
vorontolo-
gische Selbstauslegung dieses Seienden als »Sorge« auf den
exi-
stenzialen Begriff der Sorge gebracht. Die Analytik des
Daseins
zielt jedoch nicht auf eine ontologische Grundlegung der
Anthro-
pologie, sie hat fundamentalontologische Abzweckung. Diese
bestimmte zwar unausgesprochen den Gang der bisherigen
Betrachtungen, die Auswahl der Phänomene und die Grenzen des
Vordringens der Analyse. Im Hinblick auf die leitende Frage
nach
dem Sinn von Sein und ihre Ausarbeitung muß sich jetzt aber
die
Untersuchung ausdrücklich des bisher Gewonnenen versichern.
Dergleichen läßt sich aber durch äußerliche Zusammenfassung
des Erörterten nicht erreichen. Vielmehr muß, was zu Beginn
der
existenzialen Analytik nur roh angezeigt werden konnte, mit
Hilfe des Gewonnenen auf ein eindringlicheres
Problemverständ-
nis zugespitzt werden.
§ 43. Dasein, Weltlichkeit und Realität
Die Frage nach dem Sinn von Sein wird überhaupt nur mög-
lich, wenn so etwas wie Seinsverständnis ist. Zur Seinsart
des
Seienden, das wir Dasein nennen, gehört Seinsverständnis. Je
angemessener und ursprünglicher die Explikation dieses
Seienden
gelingen konnte, um so sicherer wird der weitere Gang der
Aus-
arbeitung des fundamental-ontologischen Problems ans Ziel
kommen.
Im Verfolg der Aufgaben einer vorbereitenden existenzialen
Analytik des Daseins erwuchs die Interpretation von
Verstehen,
Sinn und Auslegung. Die Analyse der Erschlossenheit des
Daseins
zeigte ferner, daß mit dieser das Dasein gemäß seiner
Grundver-
fassung des In-der-Welt-seins gleichursprünglich
hinsichtlich der
Welt, des In-seins und des Selbst enthüllt ist. In der
faktischen
Erschlossenheit von Welt ist ferner innerweltliches Seiendes
mit-
entdeckt. Darin liegt: Das Sein dieses Seienden wird in
gewisser
Weise immer schon verstanden, wenngleich nicht angemessen
ontologisch begriffen. Das vor- 201
ontologische Seinsverständnis umgreift zwar alles Seiende,
das im
Dasein wesenhaft erschlossen ist, das Seinsverständnis
selbst hat
sich aber noch nicht entsprechend den verschiedenen
Seinsmodi
artikuliert.
Die Interpretation des Verstehens zeigte zugleich, daß sich
die-
ses zunächst und zumeist schon in das Verstehen von »Welt«
verlegt hat gemäß der Seinsart des Verfallens. Auch wo es
nicht
nur um ontische Erfahrung, sondern um ontologisches
Verständ-
nis geht, nimmt die Seinsauslegung zunächst ihre
Orientierung
am Sein des innerweltlichen Seienden. Dabei wird das Sein
des
zunächst Zuhandenen übersprungen und zuerst das Seiende als
vorhandener Dingzusammenhang (res) begriffen. Das Sein
erhält
den Sinn von Realität1. Die Grundbestimmtheit des Seins wird
die Substanzialität. Dieser Verlegung des
Seinsverständnisses
entsprechend, rückt auch das ontologische Verstehen des
Daseins
in den Horizont dieses Seinsbegriffes. Dasein ist auch wie
anderes
Seiendes real vorhanden. So erhält denn das Sein überhaupt
den
Sinn von Realität. Der Begriff der Realität hat demnach in
der
ontologischen Problematik einen eigentümlichen Vorrang.
Dieser
verlegt den Weg zu einer genuinen existenzialen Analytik des
Daseins, ja sogar schon den Blick auf das Sein des
innerweltlich
zunächst Zuhandenen. Er drängt schließlich die
Seinsproblematik
überhaupt in eine abwegige Richtung. Die übrigen Seinsmodi
werden negativ und privativ mit Rücksicht auf Realität
bestimmt.
Deshalb muß nicht nur die Analytik des Daseins, sondern die
Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt aus
der einseitigen Orientierung am Sein im Sinne von Realität
her-
ausgedreht werden. Es bedarf des Nachweises: Realität ist
nicht
allein eine Seinsart unter andern, sondern steht ontologisch
in
einem bestimmten Fundierungszusammenhang mit Dasein, Welt
und Zuhandenheit. Dieser Nachweis erfordert eine grundsätz-
liche Erörterung des Realitätsproblems, seiner Bedingungen
und
Grenzen.
Unter dem Titel »Realitätsproblem« vermengen sich verschie-
dene Fragen: 1. ob das vermeintlich
»bewußtseinstranszendente«
Seiende überhaupt sei; 2. ob diese Realität der »Außenwelt«
zureichend bewiesen werden könne; 3. inwieweit dieses
Seiende,
wenn es real ist, in seinem An-sich-sein zu erkennen sei; 4.
was
der Sinn dieses Seienden, Realität, überhaupt bedeute. Die
fol-
gende Erörterung des Realitätsproblems behandelt mit
Rücksicht
auf die fundamentalonto-
1 Vgl. oben S. 89 ff. und S. 100. 202
logische Frage ein Dreifaches: a) Realität als Problem des
Seins
und der Beweisbarkeit der »Außenwelt«, b) Realität als
ontolo-
gisches Problem, c) Realität und Sorge.
a) Realität als Problem des Seins und der Beweisbarkeit der
»Außenwelt«
In der Ordnung der aufgezählten Fragen nach der Realität ist
die ontologische, was Realität überhaupt bedeute, die erste.
Solange jedoch eine reine ontologische Problematik und
Metho-
dik fehlte, mußte sich diese Frage, wenn sie überhaupt
ausdrück-
lich gestellt wurde, mit der Erörterung des
»Außenweltproblems«
verschlingen; denn die Analyse von Realität ist nur möglich
auf
dem Grunde des angemessenen Zugangs zum Realen. Als Erfas-
sungsart des Realen aber galt von jeher das anschauende
Erken-
nen. Dieses »ist« als Verhaltung der Seele, des Bewußtseins.
Sofern zu Realität der Charakter des An-sich und der
Unabhän-
gigkeit gehört, verknüpft sich mit der Frage nach dem Sinn
von
Realität die nach der möglichen Unabhängigkeit des Realen
»vom Bewußtsein«, bzw. nach der möglichen Transzendenz des
Bewußtseins in die »Sphäre« des Realen. Die Möglichkeit der
zureichenden ontologischen Analyse der Realität hängt daran,
wie weit das, wovon Unabhängigkeit bestehen soll, was trans-
zendiert werden soll, selbst hinsichtlich seines Seins
geklärt ist.
Nur so wird auch die Seinsart des Transzendierens
ontologisch
faßbar. Und schließlich muß die primäre Zugangsart zum
Realen
gesichert sein im Sinne einer Entscheidung der Frage, ob
über-
haupt das Erkennen diese Funktion übernehmen kann.
Diese einer möglichen ontologischen Frage nach der Realität
vorausliegenden Untersuchungen sind in der vorstehenden exi-
stenzialen Analytik durchgeführt. Erkennen ist danach ein
fun-
dierter Modus des Zugangs zum Realen. Dieses ist wesenhaft
nur
als innerweltliches Seiendes zugänglich. Aller Zugang zu
solchem
Seienden ist ontologisch fundiert in der Grundverfassung des
Daseins, dem In-der-Welt-sein. Dieses hat die
ursprünglichere
Seinsverfassung der Sorge (Sich vorweg – schon sein in einer
Welt
– als Sein bei innerweltlichem Seienden).
Die Frage, ob überhaupt eine Welt sei und ob deren Sein
bewiesen werden könne, ist als Frage, die das Dasein als
In-der-
Welt-sein stellt – und wer anders sollte sie stellen? – ohne
Sinn.
Überdies bleibt sie mit einer Doppeldeutigkeit behaftet.
Welt als
das Worin des In-Seins und »Welt« als innerweltliches
Seiendes,
das Wobei des besorgenden 203
Aufgehens, sind zusammengeworfen, bzw. gar nicht erst unter-
schieden. Welt aber ist mit dem Sein des Daseins wesenhaft
erschlossen; »Welt« ist mit der Erschlossenheit von Welt je
auch
schon entdeckt. Allerdings kann gerade das innerweltliche
Sei-
ende im Sinne des Realen, nur Vorhandenen noch verdeckt
blei-
ben. Entdeckbar jedoch ist auch Reales nur auf dem Grunde
einer
schon erschlossenen Welt. Und nur auf diesem Grunde kann
Reales noch verborgen bleiben. Man stellt die Frage nach der
»Realität« der »Außenwelt« ohne vorgängige Klärung des Welt-
phänomens als solchen. Faktisch orientiert sich das
»Außenwelt-
problem« ständig am innerweltlichen Seienden (den Dingen und
Objekten). So treiben diese Erörterungen in eine ontologisch
fast
unentwirrbare Problematik.
Die Verwicklung der Fragen, die Vermengung dessen, was
bewiesen werden will, mit dem, was bewiesen wird, und mit
dem,
womit der Beweis geführt wird, zeigt sich in Kants
»Widerlegung
des Idealismus«1. Kant nennt es »einen Skandal der
Philosophie
und allgemeinen Menschenvernunft«2, daß der zwingende und
jede Skepsis niederschlagende Beweis für das »Dasein der
Dinge
außer uns« immer noch fehle. Er selbst legt einen solchen
Beweis
vor und zwar als Begründung des »Lehrsatzes«: »Das bloße,
aber
empirisch bestimmte Bewußtsein meines eigenen Daseins beweist
das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir«3.
Zunächst ist ausdrücklich zu bemerken, daß Kant den Termi-
nus »Dasein« zur Bezeichnung der Seinsart gebraucht, die in
der
vorliegenden Untersuchung »Vorhandenheit« genannt wird.
»Bewußtsein meines Daseins« besagt für Kant: Bewußtsein mei-
nes Vorhandenseins im Sinne von Descartes. Der Terminus
»Dasein« meint sowohl das Vorhandensein des Bewußtseins wie
das Vorhandensein der Dinge.
Der Beweis für das »Dasein der Dinge außer mir« stützt sich
darauf, daß zum Wesen der Zeit gleichursprünglich Wechsel
und
Beharrlichkeit gehören. Mein Vorhandensein, das heißt das im
inneren Sinn gegebene Vorhandensein einer Mannigfaltigkeit
von
Vorstellungen, ist vorhandener Wechsel. Zeitbestimmtheit
aber
setzt etwas beharrlich Vorhandenes voraus. Dieses aber kann
nicht »in uns« sein, »weil eben mein Dasein in der Zeit
durch
dieses Beharrliche allererst bestimmt werden kann«4. Mit dem
empirisch gesetzten vorhandenen
1 Vgl. Kr. d. r. V., 2. A. [B] S. 274 ff., ferner die
verbessernden
Zusätze in der Vorrede zur 2. Aufl. S. XXXIX, Anmerkung;
ebenso:
Von den Paralogismen der reinen Vernunft, a. a. O. S. 399
ff., bes. S.
412.
2 a. a. O. Vorrede, Anm.
3 a. a. O. S. 275.
4 a. a. O. S. 275. 204
Wechsel »in mir« ist daher notwendig empirisch mitgesetzt
ein
vorhandenes Beharrliches »außer mir«. Dieses Beharrliche ist
die
Bedingung der Möglichkeit des Vorhandenseins von Wechsel »in
mir«. Die Erfahrung des in-der-Zeit-Seins von Vorstellungen
setzt
gleichursprünglich Wechselndes »in mir« und Beharrliches
»außer mir«.
Der Beweis ist allerdings kein Kausalschluß und demnach
nicht
mit dessen Unzuträglichkeiten behaftet. Kant gibt gleichsam
einen »ontologischen Beweis« aus der Idee eines zeitlich
Seien-
den. Zunächst scheint es, als habe Kant den cartesischen
Ansatz
eines isoliert vorfindlichen Subjekts aufgegeben. Aber das
ist nur
Schein. Daß Kant überhaupt einen Beweis für das »Dasein der
Dinge außer mir« fordert; zeigt schon, daß er den Fußpunkt
der
Problematik im Subjekt, bei dem »in mir«, nimmt. Der Beweis
selbst wird denn auch im Ausgang vom empirisch gegebenen
Wechsel »in mir« durchgeführt. Denn nur »in mir« ist die
»Zeit«, die den Beweis trägt, erfahren. Sie gibt den Boden
für den
beweisenden Absprung in das »außer mir«. Überdies betont
Kant: »Der problematische [Idealismus], der... nur das
Unvermö-
gen, ein Dasein außer dem unsrigen durch unmittelbare Erfah-
rung zu beweisen, vorgibt, ist vernünftig und einer
gründlichen
philosophischen Denkungsart gemäß; nämlich, bevor ein
hinrei-
chender Beweis gefunden worden, kein entscheidendes Urteil
zu
erlauben«1.
Aber selbst wenn der ontische Vorrang des isolierten
Subjekts
und der inneren Erfahrung aufgegeben wäre, bliebe
ontologisch
doch die Position Descartes’ erhalten. Was Kant beweist –
die
Rechtmäßigkeit des Beweises und seiner Basis überhaupt
einmal
zugestanden –, ist das notwendige Zusammenvorhandensein von
wechselndem und beharrlichem Seienden. Diese Gleichordnung
zweier Vorhandener besagt aber noch nicht einmal das Zusam-
menvorhandensein von Subjekt und Objekt. Und selbst wenn das
bewiesen wäre, bliebe noch immer das ontologisch
Entscheidende
verdeckt: die Grundverfassung des »Subjektes«, des Daseins,
als
In-der-Welt-sein. Das Zusammenvorhandensein von Physischem
und Psychischem ist ontisch und ontologisch völlig
verschieden
vom Phänomen des In-der-Welt-seins.
Den Unterschied und Zusammenhang des »in mir« und »außer
mir« setzt Kant – faktisch mit Recht, im Sinne seiner
Beweisten-
denz aber zu Unrecht – voraus. Desgleichen ist nicht
erwiesen,
daß, was über das Zusammenvorhandensein von Wechselndem
und Beharr-
1 a. a. O. S. 275. 205
lichem am Leitfaden der Zeit ausgemacht wird, auch für den
Zusammenhang des »in mir« und »außer mir« zutrifft. Wäre
aber das im Beweis vorausgesetzte Ganze des Unterschieds und
Zusammenhangs des »Innen« und »Außen« gesehen, wäre
ontologisch begriffen, was mit dieser Voraussetzung
vorausge-
setzt ist, dann fiele die Möglichkeit in sich zusammen, den
Beweis
für das »Dasein der Dinge außer mir« für noch ausstehend und
notwendig zu halten.
Der »Skandal der Philosophie« besteht nicht darin, daß
dieser
Beweis bislang noch aussteht, sondern darin, daß solche
Beweise
immer wieder erwartet und versucht werden. Dergleichen
Erwar-
tungen, Absichten und Forderungen erwachsen einer
ontologisch
unzureichenden Ansetzung dessen, davon unabhängig und
»außerhalb« eine »Welt« als vorhandene bewiesen werden soll.
Nicht die Beweise sind unzureichend, sondern die Seinsart
des
beweisenden und beweisheischenden Seienden ist unter
bestimmt.
Daher kann der Schein entstehen, es sei mit dem Nachweis des
notwendigen Zusammenvorhandenseins zweier Vorhandener
über das Dasein als In-der-Welt-sein etwas erwiesen oder
auch
nur beweisbar. Das recht verstandene Dasein widersetzt sich
solchen Beweisen, weil es in seinem Sein je schon ist, was
nach-
kommende Beweise ihm erst anzudemonstrieren für notwendig
halten.
Wollte man aus der Unmöglichkeit von Beweisen für das Vor-
handensein der Dinge außer uns schließen, dieses sei daher
»bloß
auf Glauben anzunehmen«1, dann wäre die Verkehrung des
Problems nicht überwunden. Die Vormeinung bliebe bestehen,
im
Grunde und idealerweise müßte ein Beweis geführt werden kön-
nen. Mit der Beschränkung auf einen »Glauben an die Realität
der Außenwelt« ist der unangemessene Problemansatz auch dann
bejaht, wenn diesem Glauben ausdrücklich sein eigenes
»Recht«
zurückgegeben wird. Man macht grundsätzlich die Forderung
eines Beweises mit, wenngleich versucht wird, ihr auf
anderem
Wege als dem eines stringenten Beweises zu genügen2.
1 a. a. O. Vorrede, Anm.
2 Vgl. W. Dilthey, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung
unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem
Recht
(1890). Ges. Sehr. V, 1, S. 90 ff.
Dilthey sagt gleich zu Beginn dieser Abhandlung
unmißverständlich:
»Denn soll es für den Menschen eine allgemeingültige
Wahrheit geben,
so muß, nach der zuerst von Descartes angegebenen Methode,
das
Denken sich einen Weg von den Tatsachen des Bewußtseins
entgegen der
äußeren Wirklichkeit bahnen«, a. a. O. S. 90. 206
Selbst wenn man sich darauf berufen wollte, das Subjekt
müsse
voraussetzen und setze unbewußt auch schon immer voraus, daß
die »Außenwelt« vorhanden sei, bliebe die konstruktive
Anset-
zung eines isolierten Subjekts doch noch im Spiel. Das
Phänomen
des In-der-Welt-seins wäre damit ebensowenig getroffen wie
mit
dem Nachweis eines Zusammenvorhandenseins von Physischem
und Psychischem. Das Dasein kommt mit dergleichen Vorausset-
zungen immer schon »zu spät«, weil es, sofern es als
Seiendes
diese Voraussetzung vollzieht – und anders ist sie nicht
möglich –
, als Seiendes je schon in einer Welt ist. »Früher« als jede
daseinsmäßige Voraussetzung und Verhaltung ist das »Apriori«
der Seinsverfassung in der Seinsart der Sorge.
Glauben an die Realität der »Außenwelt«, ob mit Recht oder
Unrecht, beweisen dieser Realität, ob genügend oder ungenü-
gend, sie voraussetzen, ob ausdrücklich oder nicht,
dergleichen
Versuche setzen, ihres eigenen Bodens nicht in voller
Durchsich-
tigkeit mächtig, ein zunächst weltloses bzw. seiner Welt
nicht
sicheres Subjekt voraus, das sich im Grunde erst einer Welt
ver-
sichern muß. Das In-einer-Weltsein wird dabei von Anfang an
auf ein Auffassen, Vermeinen, Gewißsein und Glauben
gestellt,
eine Verhaltung, die selbst immer schon ein fundierter Modus
des
In-der-Welt-seins ist.
Das »Realitätsproblem« im Sinne der Frage, ob eine Außenwelt
vorhanden und ob sie beweisbar sei, erweist sich als ein
unmög-
liches, nicht weil es in der Konsequenz zu unaustragbaren
Apo-
rien führt, sondern weil das Seiende selbst, das in diesem
Problem
im Thema steht, eine solche Fragestellung gleichsam ablehnt.
Zu
beweisen ist nicht, daß und wie eine »Außenwelt« vorhanden
ist,
sondern aufzuweisen ist, warum das Dasein als
In-der-Welt-sein
die Tendenz hat, die »Außenwelt« zunächst »erkenntnistheore-
tisch« in Nichtigkeit zu begraben, um sie dann erst zu
beweisen.
Der Grund dafür liegt im Verfallen des Daseins und der darin
motivierten Verlegung des primären Seinsverständnisses auf
das
Sein als Vorhandenheit. Wenn die Fragestellung in dieser
ontolo-
gischen Orientierung »kritisch« ist, dann findet sie als
zunächst
und einzig gewiß Vorhandenes ein bloßes »Inneres«. Nach der
Zertrümmerung des ursprünglichen Phänomens des In-der-Welt-
seins wird auf dem Grunde des verbleibenden Restes, des
isolier-
ten Subjekts, die Zusammenfügung mit einer »Welt« durchge-
führt.
Die Vielfältigkeit der Lösungsversuche des »Realitätsprob-
lems«, die durch die Spielarten des Realismus und Idealismus
und
deren Vermittlungen ausgebildet wurden, können in der
vorlie-
genden Untersuchung nicht weitläufig besprochen werden. So
gewiß in allen ein 207
Kern echten Fragens zu finden sein wird, so verkehrt wäre
es,
wollte man die haltbare Lösung des Problems durch die
Verrech-
nung des jeweils Richtigen gewinnen. Es bedarf vielmehr der
grundsätzlichen Einsicht, daß die verschiedenen
erkenntnistheore-
tischen Richtungen nicht so sehr als erkenntnistheoretische
fehl-
gehen, sondern auf Grund des Versäumnisses der existenzialen
Analytik des Daseins überhaupt gar nicht erst den Boden für
eine
phänomenal gesicherte Problematik gewinnen. Dieser Boden ist
auch nicht zu gewinnen durch nachträgliche phänomenologische
Verbesserungen des Subjekts- und Bewußtseinsbegriffes.
Dadurch
ist nicht gewährleistet, daß die unangemessene Fragestellung
nicht doch bestehen bleibt.
Mit dem Dasein als In-der-Welt-sein ist innerweltliches
Seien-
des je schon erschlossen. Diese existenzial-ontologische
Aussage
scheint mit der These des Realismus übereinzukommen, daß die
Außenwelt real vorhanden sei. Sofern in der existenzialen
Aus-
sage das Vorhandensein von innerweltlichem Seienden nicht
geleugnet wird, stimmt sie im Resultat – gleichsam
doxographisch – mit der These des Realismus überein. Sie
unter-
scheidet sich aber grundsätzlich von jedem Realismus
dadurch,
daß dieser die Realität der »Welt« für beweisbedürftig, aber
zugleich auch für beweisbar hält. Beides ist in der
existenzialen
Aussage gerade negiert. Was diese aber völlig vom Realismus
trennt, ist dessen ontologisches Unverständnis. Versucht er
doch
Realität ontisch durch reale Wirkungszusammenhänge zwischen
Realem zu erklären.
Gegenüber dem Realismus hat der Idealismus, mag er im
Resultat noch so entgegengesetzt und unhaltbar sein, einen
grundsätzlichen Vorrang, falls er nicht als
»psychologischer«
Idealismus sich selbst mißversteht. Wenn der Idealismus
betont,
Sein und Realität sei nur »im Bewußtsein«, so kommt hier das
Verständnis davon zum Ausdruck, daß Sein nicht durch
Seiendes
erklärt werden kann. Sofern nun aber ungeklärt bleibt, was
dieses
Seinsverständnis selbst ontologisch besagt, wie es möglich
ist,
und daß es zur Seinsverfassung des Daseins gehört, baut er die
Interpretation der Realität ins Leere. Daß Sein nicht durch
Seien-
des erklärbar, und Realität nur im Seinsverständnis möglich
ist,
entbindet doch nicht davon, nach dem Sein des Bewußtseins,
der
res cogitans selbst zu fragen. In der Konsequenz der idealistischen
These liegt die ontologische Analyse des Bewußtseins selbst
als
unumgängliche Voraufgabe vorgezeichnet. Nur weil Sein »im
Bewußtsein« ist, das heißt verstehbar im Dasein, deshalb
kann
das Dasein auch Seinscharaktere wie Unabhängigkeit, »An-sich«,
überhaupt Realität verstehen und zu Begriff bringen. Nur
des- 208
halb ist »unabhängiges« Seiendes als innerweltlich
Begegnendes
umsichtig zugänglich.
Besagt der Titel Idealismus soviel wie Verständnis dessen,
daß
Sein nie durch Seiendes erklärbar, sondern für jedes Seiende
je
schon das »Transzendentale« ist, dann liegt im Idealismus
die
einzige und rechte Möglichkeit philosophischer Problematik.
Dann war Aristoteles nicht weniger Idealist als Kant.
Bedeutet
Idealismus die Rückführung alles Seienden auf ein Subjekt
oder
Bewußtsein, die sich nur dadurch auszeichnen, daß sie in
ihrem
Sein unbestimmt bleiben und höchstens negativ als
»undinglich«
charakterisiert werden, dann ist dieser Idealismus
methodisch
nicht weniger naiv als der grobschlächtigste Realismus.
Es bleibt noch die Möglichkeit, daß man die Realitätsproble-
matik vor jede »standpunktliche« Orientierung legt mit der
These: jedes Subjekt ist, was es ist, nur für ein Objekt und
umge-
kehrt. In diesem formalen Ansatz bleiben aber die Glieder
der
Korrelation ebenso wie diese selbst ontologisch unbestimmt.
Im
Grunde aber wird doch das Ganze der Korrelation notwendig
als
»irgendwie« seiend, also im Hinblick auf eine bestimmte Idee
von
Sein gedacht. Ist freilich zuvor der
existenzial-ontologische Boden
gesichert, mit dem Aufweis des In-der-Welt-seins, dann läßt
sich
nachträglich die genannte Korrelation als formalisierte,
ontolo-
gisch indifferente Beziehung erkennen.
Die Diskussion der unausgesprochenen Voraussetzungen der
nur »erkenntnistheoretischen« Lösungsversuche des Realitäts-
problems zeigt, daß es in die existenziale Analytik des
Daseins als
ontologisches Problem zurückgenommen werden muß1.
1 Neuerdings hat Nicolai Hartmann nach dem Vorgang von
Scheler
die These vom Erkennen als »Seinsverhältnis« seiner
ontologisch
orientierten Erkenntnistheorie zugrundegelegt. Vgl.
Grundzüge einer
Metaphysik der Erkenntnis. 2. ergänzte Aufl. 1925. – Scheler
wie
Hartmann verkennen aber in gleicher Weise bei aller
Verschiedenheit
ihrer phänomenologischen Ausgangsbasis, daß die »Ontologie«
in ihrer
überlieferten Grundorientierung gegenüber dem Dasein
versagt, und daß
gerade das im Erkennen beschlossene »Seinsverhältnis« (vgl.
oben S. 59
ff.) zu ihrer grundsätzlichen Revision und nicht nur
kritischen
Ausbesserung zwingt. Die Unterschätzung der
unausgesprochenen
Auswirkungsweite einer ontologisch ungeklärten Ansetzung des
Seinsverhältnisses drängt Hartmann in einen »kritischen
Realismus«, der
im Grunde dem Niveau der von ihm exponierten Problematik
völlig
fremd ist. Zu Hartmanns Auffassung der Ontologie vgl. »Wie
ist
kritische Ontologie überhaupt möglich?« in der Festschrift
für Paul
Natorp
1924. S. 124 ff. 209
b) Realität als ontologisches Problem
Wenn der Titel Realität das Sein des innerweltlich
vorhandenen
Seienden (res) meint – und nichts anderes wird darunter
verstan-
den –, dann bedeutet das für die Analyse dieses Seinsmodus:
innerweltliches Seiendes ist ontologisch nur zu begreifen,
wenn
das Phänomen der Innerweltlichkeit geklärt ist. Diese aber
grün-
det im Phänomen der Welt, die ihrerseits als wesenhaftes
Struk-
turmoment des In-der-Welt-seins zur Grundverfassung des
Daseins gehört. Das In-der-Welt-sein wiederum ist ontologisch
verklammert in der Strukturganzheit des Seins des Daseins,
als
welche die Sorge charakterisiert wurde. Damit aber sind die
Fun-
damente und Horizonte gekennzeichnet, deren Klärung erst die
Analyse von Realität ermöglicht. In diesem Zusammenhang wird
auch erst der Charakter des An-sich ontologisch
verständlich.
Aus der Orientierung an diesem Problemzusammenhang wurde
in den früheren Analysen das Sein des innerweltlichen
Seienden
interpretiert1.
Zwar kann in gewissen Grenzen schon eine phänomenologi-
sche Charakteristik der Realität des Realen gegeben werden
ohne
die ausdrückliche existenzial-ontologische Basis. Das hat
Dtlthey
in der oben genannten Abhandlung versucht. Reales wird in
Impuls und Wille erfahren. Realität ist Widerstand, genauer
Widerständigkeit. Die analytische Herausarbeitung des Wider-
standsphänomens ist das Positive in der genannten Abhandlung
und die beste konkrete Bewährung der Idee einer
»beschreiben-
den und zergliedernden Psychologie«. Die rechte Auswirkung
der
Analyse des Widerstandsphänomens wird aber hintangehalten
durch die erkenntnistheoretische Realitätsproblematik. Der
»Satz
von der Phänomenalität« läßt Dilthey nicht zu einer
ontologi-
schen Interpretation des Seins des Bewußtseins kommen. »Der
Wille und seine Hemmung treten innerhalb desselben Bewußt-
seins auf«2. Die Seinsart des »Auftretens«, der Seinssinn
des
»innerhalb«, der Seinsbezug des Bewußtseins zum Realen
selbst,
all das bedarf der ontologischen Bestimmung. Daß sie
ausbleibt,
liegt letztlich daran, daß Dilthey das »Leben«, »hinter« das
frei-
lich nicht zurückzugehen ist, in ontologischer Indifferenz
stehen
ließ. Ontologische Interpretation des Daseins bedeutet
jedoch
nicht ontisches Zurückgehen auf
1 Vgl. vor allem § 16, S. 72 ff.: Die am innerweltlichen
Seienden sich
meldende Weltmäßigkeit der Umwelt; § 18, S. 83 ff.:
Bewandtnis und
Bedeutsamkeit. Die Weltlichkeit der Welt; § 29, S. 134 ff.:
Dasein als
Befindlichkeit – Über das An-sich-sein des innerweltlichen
Seienden vgl.
S. 75 f.
2 Vgl. Beiträge
a. a. O. S. 134. 210
ein anderes Seiendes. Daß Dilthey erkenntnistheoretisch
wider-
legt wurde, kann nicht davon abhalten, das Positive seiner
Analy-
sen, was bei diesen Widerlegungen gerade unverstanden blieb,
fruchtbar zu machen.
So hat denn neuerdings Scheler die Realitätsinterpretation
Diltheys aufgenommen1. Er vertritt eine »voluntative
Daseinstheorie«. Dasein wird hierbei im Kantischen Sinne als
Vorhandensein verstanden. Das »Sein der Gegenstände ist nur
in
der Trieb- und Willensbezogenheit unmittelbar gegeben«.
Scheler
betont nicht nur wie Dilthey, daß Realität nie primär im
Denken
und Erfassen gegeben wird, er weist vor allem auch darauf hin,
daß Erkennen selbst wiederum nicht Urteilen und daß das
Wissen
ein »Seinsverhältnis« ist.
Grundsätzlich gilt auch von dieser Theorie, was schon über
die
ontologische Unbestimmtheit der Fundamente bei Dilthey
gesagt
werden mußte. Die ontologische Fundamentalanalyse des
»Lebens« kann auch nicht nachträglich als Unterbau
eingescho-
ben werden. Sie trägt und bedingt die Analyse der Realität,
die
volle Explikation der Widerständigkeit und ihrer
phänomenalen
Voraussetzungen. Widerstand begegnet in einem Nicht-durch-
kommen, als Behinderung eines Durch-kommen-wollens. Mit
diesem aber ist schon etwas erschlossen, worauf Trieb und
Wille
aus sind. Die ontische Unbestimmtheit dieses Woraufhin darf
aber ontologisch nicht übersehen oder gar als Nichts gefaßt
wer-
den. Das Aussein auf..., das auf Widerstand stößt und einzig
»stoßen« kann, ist selbst schon bei einer
Bewandtnisganzheit.
Deren Entdecktheit aber gründet in der Erschlossenheit des
Ver-
weisungsganzen der Bedeutsamkeit. Widerstandserfahrung, das
heißt strebensmäßiges Entdecken von Widerständigem, ist
onto-
logisch nur möglich auf dem Grunde der Erschlossenheit von
Welt. Widerständigkeit charakterisiert das Sein des
innerweltlich
Seienden. Widerstandserfahrungen bestimmen faktisch nur die
Weite und Richtung des Entdeckens des innerweltlich
begegnen-
den Seienden. Ihre Summierung leitet nicht erst die
Erschließung
von Welt ein, sondern setzt sie voraus. Das »Wider« und
»Gegen« sind in ihrer ontologischen Möglichkeit durch das
erschlossene In-der-Welt-sein getragen.
1 Vgl. Die Formen des Wissens und die Bildung. Vortrag 1925.
Anm.
24 und 25. Anmerkung bei der Korrektur: Scheler hat jetzt in
der soeben
erschienenen Sammlung von Abhandlungen »Die Wissensformen
und
die Gesellschaft« 1926, seine längst angekündigte
Untersuchung über
»Erkenntnis und Arbeit« (S. 233 ff.) veröffentlicht.
Abschnitt VI dieser
Abhandlung (S. 455) bringt eine ausführlichere Darlegung der
»voluntativen Daseinstheorie« im Zusammenhang mit einer
Würdigung
und Kritik Diltheys. 211
Widerstand wird auch nicht erfahren in einem für sich
»auftre-
tenden« Trieb oder Willen. Diese erweisen sich als
Modifikatio-
nen der Sorge. Nur Seiendes dieser Seinsart vermag auf
Wider-
ständiges als Innerweltliches zu stoßen. Wenn sonach die
Realität
durch Widerständigkeit bestimmt wird, dann bleibt ein
Doppeltes
zu beachten: einmal ist damit nur ein Realitätscharakter
unter
anderen getroffen, sodann ist für Widerständigkeit notwendig
schon erschlossene Welt vorausgesetzt. Widerstand
charakteri-
siert die »Außenwelt« im Sinne des innerweltlichen Seienden,
aber nie im Sinne der Welt. »Realitätsbewußtsein« ist selbst
eine
Weise des In-der-Welt-seins. Auf dieses existenziale
Grundphä-
nomen kommt notwendig alle »Außenweltsproblematik« zurück.
Sollte das »cogito sum« als Ausgang der existenzialen
Analytik
des Daseins dienen, dann bedarf es nicht nur der Umkehrung,
sondern einer neuen ontologisch-phänomenalen Bewährung sei-
nes Gehalts. Die erste Aussage ist dann: »sum« und zwar in
dem
Sinne: ich-bin-in-einer-Welt. Als so Seiendes »bin ich« in
der
Seinsmöglichkeit zu verschiedenen Verhaltungen
(cogitationes)
als Weisen des Seins bei innerweltlichem Seienden. Descartes
dagegen sagt: cogitationes sind vorhanden, darin ist ein ego
mit
vorhanden als weltlose res cogitans.
c) Realität und Sorge
Realität ist als ontologischer Titel auf innerweltliches
Seiendes
bezogen. Dient er zur Bezeichnung dieser Seinsart überhaupt,
dann fungieren Zuhandenheit und Vorhandenheit als Modi der
Realität. Läßt man aber diesem Wort seine überlieferte
Bedeu-
tung, dann meint es das Sein im Sinne der puren
Dingvorhanden-
heit. Aber nicht jede Vorhandenheit ist Dingvorhandenheit.
Die
»Natur«, die uns »umfängt«, ist zwar innerweltliches
Seiendes,
zeigt aber weder die Seinsart des Zuhandenen noch des
Vorhan-
denen in der Weise der »Naturdinglichkeit«. Wie immer dieses
Sein der »Natur« interpretiert werden mag, alle Seinsmodi
des
innerweltlichen Seienden sind ontologisch in der
Weltlichkeit der
Welt und damit im Phänomen des In-der-Welt-seins fundiert.
Daraus entspringt die Einsicht: Realität hat weder innerhalb
der
Seinsmodi des innerweltlichen Seienden einen Vorrang, noch
kann gar diese Seinsart so etwas wie Welt und Dasein ontolo-
gisch angemessen charakterisieren.
Realität ist in der Ordnung der ontologischen Fundierungszu-
sammenhänge und der möglichen kategorialen und existenzialen
Ausweisung auf das Phänomen der Sorge zurückverwiesen. Daß
Realität 212
ontologisch im Sein des Daseins gründet, kann nicht
bedeuten,
daß Reales nur sein könnte als das, was es an ihm selbst
ist, wenn
und solange Dasein existiert.
Allerdings nur solange Dasein ist, das heißt die ontische
Mög-
lichkeit von Seinsverständnis, »gibt es« Sein. Wenn Dasein
nicht
existiert, dann »ist« auch nicht »Unabhängigkeit« und »ist«
auch
nicht »An-sich«. Dergleichen ist dann weder verstehbar noch
unverstehbar. Dann ist auch innerweltliches Seiendes weder
ent-
deckbar, noch kann es in Verborgenheit liegen. Dann kann
weder
gesagt werden, daß Seiendes sei, noch daß es nicht sei. Es
kann
jetzt wohl, solange Seinsverständnis ist und damit
Verständnis
von Vorhandenheit, gesagt werden, daß dann Seiendes noch
wei-
terhin sein wird.
Die gekennzeichnete Abhängigkeit des Seins, nicht des Seien-
den, von Seinsverständnis, das heißt die Abhängigkeit der
Reali-
tät, nicht des Realen, von der Sorge, sichert die weitere
Analytik
des Daseins vor einer unkritischen, aber immer wieder sich
ein-
drängenden Interpretation des Daseins am Leitfaden der Idee
von
Realität. Erst die Orientierung an der ontologisch positiv
inter-
pretierten Existenzialität gibt die Gewähr, daß nicht doch im
faktischen Gang der Analyse des »Bewußtseins«, des »Lebens«
irgendein wenngleich indifferenter Sinn von Realität
zugrunde-
gelegt wird.
Daß Seiendes von der Seinsart des Daseins nicht aus Realität
und Substanzialität begriffen werden kann, haben wir durch
die
These ausgedrückt: die Substanz des Menschen ist die
Existenz.
Die Interpretation der Existenzialität als Sorge und die
Abgren-
zung dieser gegen Realität bedeuten jedoch nicht das Ende
der
existenzialen Analytik, sondern lassen nur die
Problemverschlin-
gungen in der Frage nach dem Sein und seinen möglichen Modi
und nach dem Sinn solcher Modifikationen schärfer
heraustreten:
nur wenn Seinsverständnis ist, wird Seiendes als Seiendes
zugänglich; nur wenn Seiendes ist von der Seinsart des
Daseins,
ist Seinsverständnis als Seiendes möglich.
§ 44. Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit
Die Philosophie hat von altersher Wahrheit mit Sein zusam-
mengestellt. Die erste Entdeckung des Seins des Seienden
durch
Parmenides »identifiziert« das Sein mit dem vernehmenden
Ver-
stehen von Sein: tÕ g¦r aÙtÕ noevn œst?n te kap eƒnai1.
Aristoteles
betont in seinem Aufriß der Entdeckungsgeschichte der
¢rca?2,
die Philosophen vor
1 Diels, Fragm. 5
2 Met. A. 213
ihm seien, durch »die Sachen selbst« geführt, zum
Weiterfragen
gezwungen worden: aÝtÕ tÕ pr©gma ædopo?hsen aÙtovj kap
sunh£gkade zhtevn1. Dieselbe Tatsache kennzeichnet er auch
durch die Worte: ¡nagkazÒmenoj d' ¢kolouqevn tovj fainom?noij2,
er (Parmenides) war gezwungen, dem zu folgen, was sich an
ihm
selbst zeigte. An anderer Stelle wird gesagt: Øp' aÙtÁj tÁj
¢lhqe?aj
¢nagkazÒmenoi3, von der »Wahrheit« selbst gezwungen,
forschten
sie. Aristoteles bezeichnet dieses Forschen als filosofevn
perp tÁj
¢lhqe?aj4, »philosophieren« über die »Wahrheit«, oder auch
¢pofa?nesqai perp tÁj ¢lhqe?aj5, aufweisendes Sehenlassen
mit
Rücksicht auf und im Umkreis der »Wahrheit«. Philosophie
selbst wird bestimmt als œpist?mh tij tÁj ¢lhqe?aj6,
Wissenschaft
von der »Wahrheit«. Zugleich aber ist sie charakterisiert
als eine
œpist?mh, ¿qewrev tÕ Ôn Î Ôn7, als Wissenschaft, die das
Seiende
betrachtet als Seiendes, das heißt hinsichtlich seines
Seins.
Was bedeutet hier »forschen über die ›Wahrheit‹«, Wissen-
schaft von der »Wahrheit«? Wird in diesem Forschen die
»Wahrheit« zum Thema gemacht im Sinne einer Erkenntnis- oder
Urteilstheorie? Offenbar nicht, denn »Wahrheit« bedeutet
das-
selbe wie »Sache«, »Sichselbstzeigendes«. Was bedeutet dann
aber der Ausdruck »Wahrheit«, wenn er terminologisch als
»Sei-
endes« und »Sein« gebraucht werden kann?
Wenn Wahrheit aber mit Recht in einem ursprünglichen
Zusammenhang mit Sein steht, dann rückt das Wahrheitsphäno-
men in den Umkreis der fundamentalontologischen Problematik.
Muß dann aber dieses Phänomen nicht auch schon innerhalb der
vorbereitenden Fundamentalanalyse, der Analytik des Daseins,
begegnen? In welchem ontisch-ontologischen Zusammenhang
steht »Wahrheit« mit dem Dasein und dessen ontischer
Bestimmtheit, die wir Seinsverständnis nennen? Läßt sich aus
diesem der Grund aufzeigen, warum Sein notwendig mit Wahr-
heit und diese mit jenem zusammengeht?
Diesen Fragen ist nicht auszuweisen. Weil Sein in der Tat
mit
Wahrheit »zusammengeht«, hat das Wahrheitsphänomen denn
auch schon im Thema der früheren Analysen gestanden, wenn-
gleich nicht ausdrücklich unter diesem Titel. Nunmehr gilt
es, mit
Rücksicht auf die Zuspitzung des Seinsproblems das
Wahrheits-
phänomen ausdrücklich zu umgrenzen und die darin beschlosse-
nen Probleme zu fixieren.
1 a. a. O. 984a
18 sq.
2 a. a. O.
986b 31.
3 a. a. O.
984b 10.
4 a. a. O.
983 b 2, vgl. 988 a 20.
5 a. a. O.
a 1, 993 b 17.
6 a. a. O.
993 b 20.
7 a. a. O.
G 1, 1003 a 21. 214
Hierbei soll das früher Auseinandergelegte nicht lediglich
zusammengefaßt werden. Die Untersuchung nimmt einen neuen
Ansatz.
Die Analyse geht vom traditionellen Wahrheitshegriff aus und
versucht dessen ontologische Fundamente freizulegen (a). Aus
diesen Fundamenten her wird das ursprüngliche Phänomen der
Wahrheit sichtbar. Von ihm aus läßt sich die Abkünftigkeit
des
traditionellen Wahrheitsbegriffes aufzeigen (b). Die Untersuchung
macht deutlich, daß zur Frage nach dem »Wesen« der Wahrheit
notwendig mitgehört die nach der Seinsart der Wahrheit. In
eins
damit geht die Aufklärung des ontologischen Sinnes der Rede,
daß »es Wahrheit gibt«, und der Art der Notwendigkeit, mit
der
»wir voraussetzen müssen«, daß es Wahrheit »gibt« (c).
a) Der traditionelle Wahrheitsbegriff und seine
ontologischen
Fundamente
Drei Thesen charakterisieren die traditionelle Auffassung
des
Wesens der Wahrheit und die Meinung über ihre erstmalige
Definition: 1. Der »Ort« der Wahrheit ist die Aussage (das
Urteil). 2. Das Wesen der Wahrheit liegt in der
Ȇbereinstim-
mung« des Urteils mit seinem Gegenstand. 3. Aristoteles, der
Vater der Logik, hat sowohl die Wahrheit dem Urteil als
ihrem
ursprünglichen Ort zugewiesen, er hat auch die Definition
der
Wahrheit als »Übereinstimmung« in Gang gebracht.
Eine Geschichte des Wahrheitsbegriffes, die nur auf dem
Boden
einer Geschichte der Ontologie dargestellt werden könnte,
ist hier
nicht beabsichtigt. Einige charakteristische Hinweise auf
Bekann-
tes sollen die analytischen Erörterungen einleiten.
Aristoteles sagt: paq?mata tÁj yucÁj tùn pragm£twn
Ðmièmata1,
die »Erlebnisse« der Seele, die no?mata (»Vorstellungen«),
sind
Angleichungen an die Dinge. Diese Aussage, die keineswegs
als
ausdrückliche Wesensdefinition der Wahrheit vorgelegt ist,
wurde mit die Veranlassung für die Ausbildung der späteren
Formulierung des Wesens der Wahrheit als adaequatio
intellectus
et rei. Thomas v. Aquin2, der für die Definition auf
Avicenna
verweist, der sie seinerseits aus Isaak Israelis »Buch der
Definiti-
onen« (10. Jahrhundert) übernommen hat, gebraucht für adae-
quatio (Angleichung) auch die Termini correspondentia (Ent-
sprechung) und convenientia (Übereinkunft).
1 de interpr. 1,
16 a 6.
2 Vgl. Quaest.
disp. de veritate qu. I, art 1. 215
Die neukantianische Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts
hat diese Wahrheitsdefinition vielfach als Ausdruck eines
metho-
disch zurückgebliebenen naiven Realismus gekennzeichnet und
sie für unvereinbar erklärt mit einer Fragestellung, die
durch die
»kopernikanische Wendung« Kants hindurchgegangen sei. Man
übersieht dabei, worauf Brentano schon aufmerksam gemacht
hat, daß auch Kant an diesem Wahrheitsbegriff festhält, so
sehr,
daß er ihn gar nicht erst zur Erörterung stellt: »Die alte
und
berühmte Frage, womit man die Logiker in die Enge zu treiben
vermeinte..., ist diese: Was ist Wahrheit? Die
Namenerklärung
der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der
Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt,
und
vorausgesetzt...«1
»Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit
ihrem Gegenstande besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand
von anderen unterschieden werden; denn eine Erkenntnis ist
falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen
wird,
nicht übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl
von
anderen Gegenständen gelten könnte.«2 Und in der Einleitung
zur transzendentalen Dialektik sagt Kant: »Wahrheit oder
Schein
sind nicht im Gegenstande, sofern er angeschaut wird,
sondern
im Urteile über denselben, sofern er gedacht wird.«3
Die Charakteristik der Wahrheit als »Übereinstimmung«,
adaequatio, Ðmo?wsij ist zwar sehr allgemein und leer. Sie
wird
aber doch irgendein Recht haben, wenn sie, unbeschadet der
verschiedenartigsten Interpretationen der Erkenntnis, die
doch
dieses auszeichnende Prädikat trägt, sich durchhält. Wir
fragen
jetzt nach den Fundamenten dieser »Beziehung«. Was ist in
dem
Beziehungsganzen – adaequatio intellectus et rei –
unausdrück-
lich mitgesetzt? Welchen ontologischen Charakter hat das
Mitge-
setzte selbst?
Was meint überhaupt der Terminus »Übereinstimmung«?
Übereinstimmung von etwas mit etwas hat den formalen Charak-
ter der Beziehung von etwas zu etwas. Jede Übereinstimmung
und somit auch »Wahrheit« ist eine Beziehung. Aber nicht
jede
Beziehung ist Übereinstimmung. Ein Zeichen zeigt auf das
Gezeigte. Das Zeigen ist eine Beziehung, aber keine Überein-
stimmung von Zeichen und Gezeigtem. Offenbar meint jedoch
auch nicht jede Übereinstimmung so etwas wie die in der
Wahr-
heitsdefinition fixierte convenientia. Die Zahl 6 stimmt
überein
mit 16 - 10. Die Zahlen stimmen überein, sie
1 Kritik d. r. V. 2.A. (B) S. 82.
2 a. a. O S. 83.
3 a. a. O. S.
350. 216
sind gleich im Hinblick auf das Wieviel. Gleichheit ist eine
Weise
der Übereinstimmung. Zu dieser gehört strukturmäßig so etwas
wie ein »Hinblick auf«. Was ist das, im Hinblick worauf das
in
der adaequatio Bezogene übereinstimmt? Bei der Klärung der
»Wahrheitsbeziehung« muß die Eigentümlichkeit der Bezie-
hungsglieder mitbeachtet werden. Im Hinblick worauf stimmen
intellectus und res überein? Geben sie ihrer Seinsart und
ihrem
Wesensgehalt nach überhaupt etwas her, im Hinblick darauf
sie
übereinstimmen können? Wenn Gleichheit auf Grund der fehlen-
den Gleichartigkeit beider unmöglich ist, sind beide
(intellectus
und res) dann vielleicht ähnlich? Aber Erkenntnis soll doch
die
Sache so »geben«, wie sie ist. Die »Übereinstimmung« hat den
Relationscharakter: »So – Wie«. In welcher Weise ist diese
Bezie-
hung als Beziehung zwischen intellectus und res möglich? Aus
diesen Fragen wird deutlich: für die Aufklärung der
Wahrheits-
struktur genügt es nicht, dieses Beziehungsganze einfach
voraus-
zusetzen, sondern es muß in den Seinszusammenhang zurückge-
fragt werden, der dieses Ganze als solches trägt.
Bedarf es jedoch hierzu der Aufrollung der
»erkenntnistheoreti-
schen« Problematik hinsichtlich der
Subjekt-Objekt-Beziehung,
oder kann sich die Analyse auf die Interpretation des
»immanen-
ten Wahrheitsbewußtseins« beschränken, also »innerhalb der
Sphäre« des Subjekts bleiben? Wahr ist nach der allgemeinen
Meinung die Erkenntnis. Erkenntnis aber ist Urteilen. Am
Urteil
muß unterschieden werden: das Urteilen als realer
psychischer
Vorgang und das Geurteilte als idealer Gehalt. Von diesem
wird
gesagt, es sei »wahr«. Der reale psychische Vorgang dagegen
ist
vorhanden oder nicht. Der ideale Urteilsgehalt steht demnach
in
der Übereinstimmungsbeziehung. Diese betrifft sonach einen
Zusammenhang zwischen idealem Urteilsgehalt und dem realen
Ding als dem, worüber geurteilt wird. Ist das Übereinstimmen
seiner Seinsart nach real oder ideal oder keines von beiden?
Wie
soll die Beziehung zwischen ideal Seiendem und real
Vorhande-
nem ontologisch gefaßt werden? Sie besteht doch und besteht
in
faktischen Urteilen nicht nur zwischen Urteilsgehalt und
realem
Objekt, sondern zugleich zwischen idealem Gehalt und realem
Urteilsvollzug; und hier offenbar noch »inniger«?
Oder darf nach dem ontologischen Sinn der Beziehung zwi-
schen Realem und Idealem (der m?qexij) nicht gefragt werden?
Die Beziehung soll doch bestehen. Was besagt ontologisch
Bestand?
Was soll die Rechtmäßigkeit dieser Frage verwehren? Ist es
Zufall, daß dieses Problem seit mehr denn zwei Jahrtausenden
nicht von der 217
Stelle kommt? Liegt die Verkehrung der Frage schon im
Ansatz,
in der ontologisch ungeklärten Trennung des Realen und
Idealen?
Und ist mit Rücksicht auf das »wirkliche« Urteilen des Geur-
teilten die Trennung von realem Vollzug und idealem Gehalt
überhaupt unberechtigt? Wird die Wirklichkeit des Erkennens
und Urteilens nicht in zwei Seinsweisen und »Schichten«
ausei-
nandergebrochen, deren Zusammenstückung die Seinsart des
Erkennens nie trifft? Hat der Psychologismus darin nicht
recht,
daß er sich gegen diese Trennung sperrt, wenngleich er
selbst die
Seinsart des Denkens des Gedachten ontologisch weder
aufklärt,
noch auch nur als Problem kennt?
In der Frage nach der Seinsart der adaequatio bringt der
Rück-
gang auf die Scheidung von Urteilsvollzug und Urteilsgehalt
die
Erörterung nicht vorwärts, sondern macht nur deutlich, daß
die
Aufklärung der Seinsart des Erkennens selbst unumgänglich
wird.
Die hierzu notwendige Analyse muß versuchen, zugleich das
Phänomen der Wahrheit, das die Erkenntnis charakterisiert,
in
den Blick zu bringen. Wann wird im Erkennen selbst die Wahr-
heit phänomenal ausdrücklich? Dann, wenn sich das Erkennen
als wahres ausweist. Die Selbstausweisung sichert ihm seine
Wahrheit. Im phänomenalen Zusammenhang der Ausweisung
muß demnach die Übereinstimmungsbeziehung sichtbar werden.
Es vollziehe Jemand mit dem Rücken gegen die Wand gekehrt
die wahre Aussage: »Das Bild an der Wand hängt schief.« Diese
Aussage weist sich dadurch aus, daß der Aussagende sich um-
wendend das schiefhängende Bild an der Wand wahrnimmt. Was
wird in dieser Ausweisung ausgewiesen? Welches ist der Sinn
der
Bewährung der Aussage? Wird etwa eine Übereinstimmung der
»Erkenntnis« bzw. des »Erkannten« mit dem Ding an der Wand
festgestellt? Ja und nein, je nachdem phänomenal angemessen
interpretiert wird, was der Ausdruck »das Erkannte« besagt.
Worauf ist der Aussagende, wenn er – das Bild nicht wahrneh-
mend sondern »nur vorstellend« – urteilt, bezogen? Etwa auf
»Vorstellungen«? Gewiß nicht, wenn Vorstellung hier bedeuten
soll: Vorstellen als psychischer Vorgang. Er ist auch nicht
auf
Vorstellungen bezogen im Sinn des Vorgestellten, sofern
damit
gemeint wird ein »Bild« von dem realen Ding an der Wand.
Vielmehr ist das »nur vorstellende« Aussagen seinem
eigensten
Sinne nach bezogen auf das reale Bild an der Wand. Dieses
ist
gemeint und nichts anderes. Jede Interpretation, die hier
irgend
etwas anderes einschiebt, das im nur vorstellenden Aussagen
soll
gemeint 218
sein, verfälscht den phänomenalen Tatbestand dessen, worüber
ausgesagt wird. Das Aussagen ist ein Sein zum seienden Ding
selbst. Und was wird durch die Wahrnehmung ausgewiesen?
Nichts anderes als daß es das Seiende selbst ist, das in der
Aus-
sage gemeint war. Zur Bewährung kommt, daß das aussagende
Sein zum Ausgesagten ein Aufzeigen des Seienden ist, daß es
das
Seiende, zu dem es ist, entdeckt. Ausgewiesen wird das Ent-
deckend-sein der Aussage. Dabei bleibt das Erkennen im
Auswei-
sungsvollzug einzig auf das Seiende selbst bezogen. An
diesem
selbst spielt sich gleichsam die Bewährung ab. Das gemeinte
Sei-
ende selbst zeigt sich so, wie es an ihm selbst ist, das
heißt, daß es
in Selbigkeit so ist, als wie seiend es in der Aussage
aufgezeigt,
entdeckt wird. Es werden nicht Vorstellungen verglichen,
weder
unter sich, noch in Beziehung auf das reale Ding. Zur
Auswei-
sung steht nicht eine Übereinstimmung von Erkennen und
Gegenstand oder gar von Psychischem und Physischem, aber
auch nicht eine solche zwischen »Bewußtseinsinhalten« unter
sich. Zur Ausweisung steht einzig das Entdeckt-sein des
Seienden
selbst, es im Wie seiner Entdecktheit. Diese bewährt sich
darin,
daß sich das Ausgesagte, das ist das Seiende selbst, als
dasselbe
zeigt. Bewährung bedeutet: sich zeigen des Seienden in
Selbig-
keit1. Die Bewährung vollzieht sich auf dem Grunde eines
Sichzeigens des Seienden. Das ist nur so möglich, daß das
aussa-
gende und sich bewährende Erkennen seinem ontologischen
Sinne nach ein entdeckendes Sein zum realen Seienden selbst
ist.
Die Aussage ist wahr, bedeutet: sie entdeckt das Seiende an
ihm
selbst. Sie sagt aus, sie zeigt auf, sie »läßt sehen«
(¢pÒfansij) das
Seiende in seiner Entdecktheit. Wahrsein (Wahrheit) der
Aussage
muß verstanden werden als entdeckend-sein. Wahrheit hat also
gar nicht die Struktur einer Übereinstimmung zwischen
Erkennen
und Gegen-
1 Zur Idee der Ausweisung als »Identifizierung« vgl.
Husserl, Log.
Unters. 2. A. Bd. II, 2. Teil, VI. Untersuchung. Über »Evidenz und
Wahrheit« ebd. § 36-39, S. 115 ff. Die üblichen
Darstellungen der
phänomenologischen Wahrheitstheorie beschränken sich auf
das, was in
den kritischen Prolegomena (Bd. 1) gesagt ist und vermerken
den
Zusammenhang mit der Satzlehre Bolzanos. Die positiven
phänomenologischen Interpretationen dagegen, die von
Bolzanos
Theorie grundverschieden sind, läßt man auf sich beruhen.
Der Einzige,
der außerhalb der phänomenologischen Forschung die genannten
Untersuchungen positiv aufnahm, war E. Lask, dessen »Logik
der
Philosophie« (1911) ebenso stark von der VI. Unters. (Über
sinnliche
und kategoriale Anschauungen S. 128 ff.) bestimmt ist, wie seine
»Lehre
vom Urteil« (1912) durch die genannten Abschnitte über
Evidenz und
Wahrheit. 219
stand im Sinne einer Angleichung eines Seienden (Subjekt) an
ein
anderes (Objekt).
Das Wahrsein als Entdeckend-sein ist wiederum ontologisch
nur möglich auf dem Grunde des In-der-Welt-seins. Dieses
Phä-
nomen, in dem wir eine Grundverfassung des Daseins
erkannten,
ist das Fundament des ursprünglichen Phänomens der Wahrheit.
Dieses soll jetzt noch eindringlicher verfolgt werden.
b) Das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit und die
Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffes
Wahrsein (Wahrheit) besagt entdeckend-sein. Ist das aber
nicht
eine höchst willkürliche Definition der Wahrheit? Mit so
gewalt-
samen Begriffsbestimmungen mag es gelingen, die Idee der
Über-
einstimmung aus dem Wahrheitsbegriff auszuschalten. Muß die-
ser zweifelhafte Gewinn nicht damit bezahlt werden, daß die
alte
»gute« Tradition in die Nichtigkeit gestoßen ist? Allein die
scheinbar willkürliche Definition enthält nur die notwendige
Interpretation dessen, was die älteste Tradition der antiken
Philo-
sophie ursprünglich ahnte und vor-phänomenologisch auch
verstand. Das Wahrsein des lÒgoj als ¢pÒfansij ist das
¢l?qeÚein
in der Weise des ¢pofa?nesqai: Seiendes – aus der
Verborgenheit
herausnehmend – in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit)
sehen
lassen. Die ¢l?qeia, die von Aristoteles nach den oben
angeführ-
ten Stellen mit pr©gma, fainÒmena gleichgesetzt wird,
bedeutet die
»Sachen selbst«, das, was sich zeigt, das Seiende im Wie
seiner
Entdecktheit. Und ist es Zufall, daß in einem der Fragmente
des
Heraklit1, den ältesten philosophischen Lehrstücken, die
ausdrücklich vom lÒgoj handeln, das herausgestellte Phänomen
der Wahrheit im Sinne der Entdecktheit (Unverborgenheit)
durchblickt? Dem lÒgoj und dem, der ihn sagt und versteht,
wer-
den die Unverständigen entgegengestellt. Der lÒgoj ist
fr£zwn
Ðkwj /cei, er sagt, wie das Seiende sich verhält. Den
Unverständi-
gen dagegen lanq£nei, bleibt in Verborgenheit, was sie tun;
œpilanq£nontai, sie vergessen, das heißt, es sinkt ihnen
wieder in
die Verborgenheit zurück. Also gehört zum lÒgoj die
Unverbor-
genheit, ¢-l?qeia. Die Übersetzung durch das Wort »Wahrheit«
und erst recht die theoretischen Begriffsbestimmungen dieses
Ausdrucks verdecken den Sinn dessen, was die Griechen als
vor-
philosophisches Verständnis dem terminologischen Gebrauch
von
¢l?qeia »selbstverständlich« zugrunde legten.
1 Vgl. Diels, Fragmente der Vorsokratiker, Heraklit Fr. 1.
220
Die Beiziehung solcher Belege muß sich vor hemmungsloser
Wortmystik hüten; gleichwohl ist es am Ende das Geschäft der
Philosophie, die Kraft der elementarsten Worte, in denen
sich das
Dasein ausspricht, davor zu bewahren, daß sie durch den
gemei-
nen Verstand zur Unverständlichkeit nivelliert werden, die
ihrer-
seits als Quelle für Scheinprobleme fungiert.
Was früher1 gleichsam in dogmatischer Interpretation über
lÒgoj und ¢l?qeia dargelegt wurde, hat jetzt seine
phänomenale
Ausweisung erhalten. Die vorgelegte »Definition« der
Wahrheit
ist kein Abschütteln der Tradition, sondern die
ursprüngliche
Aneignung: das um so mehr dann, wenn der Nachweis gelingt,
daß und wie die Theorie auf dem Grunde des ursprünglichen
Wahrheitsphänomens zur Idee der Übereinstimmung kommen
mußte.
Die »Definition« der Wahrheit als Entdecktheit und Entdeck-
endsein ist auch keine bloße Worterklärung, sondern sie
erwächst
aus der Analyse der Verhaltungen des Daseins, die wir
zunächst
»wahre« zu nennen pflegen.
Wahrsein als entdeckend-sein ist eine Seinsweise des
Daseins.
Was dieses Entdecken selbst möglich macht, muß notwendig in
einem noch ursprünglicheren Sinne »wahr« genannt werden. Die
existenzial-ontologischen Fundamente des Entdeckern selbst
zeigen erst das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit.
Das Entdecken ist eine Seinsweise des In-der-Welt-seins. Das
umsichtige oder auch das verweilend hinsehende Besorgen ent-
decken innerweltliches Seiendes. Dieses wird das Entdeckte.
Es ist
»wahr« in einem zweiten Sinne. Primär »wahr«, das heißt ent-
deckend ist das Dasein. Wahrheit im zweiten Sinne besagt
nicht
entdeckend-sein (Entdeckung), sondern entdeckt-sein
(Entdeckt-
heit).
Durch die frühere Analyse der Weltlichkeit der Welt und des
innerweltlichen Seienden wurde aber gezeigt: die
Entdecktheit des
innerweltlichen Seienden gründet in der Erschlossenheit der
Welt.
Erschlossenheit aber ist die Grundart des Daseins, gemäß der
es
sein Da ist. Erschlossenheit wird durch Befindlichkeit,
Verstehen
und Rede konstituiert und betrifft gleichursprünglich die
Welt,
das In-Sein und das Selbst. Die Struktur der Sorge als
Sichvorweg
– schon sein in einer Welt – als Sein bei innerweltlichem
Seienden
birgt in sich Erschlossenheit des Daseins. Mit und durch sie
ist
Entdecktheit, daher wird erst mit der Erschlossenheit des
Daseins
das ursprünglichste Phä-
1 Vgl. S. 32 ff.
221
nomen der Wahrheit erreicht. Was früher hinsichtlich der
exi-
stenzialen Konstitution des Da1 und bezüglich des
alltäglichen
Seins des Da2
aufgezeigt wurde, betraf nichts anderes als das
ursprünglichste Phänomen der Wahrheit. Sofern das Dasein
wesenhaft seine Erschlossenheit ist, als erschlossenes
erschließt
und entdeckt, ist es wesenhaft »wahr«. Dasein ist »in der
Wahr-
heit«. Diese Aussage hat ontologischen Sinn. Sie meint
nicht, daß
das Dasein ontisch immer oder auch nur je »in alle Wahrheit«
eingeführt sei, sondern daß zu seiner existenzialen
Verfassung
Erschlossenheit seines eigensten Seins gehört.
Unter Aufnahme des früher Gewonnenen kann der volle exi-
stenziale Sinn des Satzes »Dasein ist in der Wahrheit« durch
fol-
gende Bestimmungen wiedergegeben werden:
1. Zur Seinsverfassung des Daseins gehört wesenhaft
Erschlos-
senheit überhaupt. Sie umgreift das Ganze der Seinsstruktur,
die
durch das Phänomen der Sorge explizit geworden ist. Zu
dieser
gehört nicht nur In-der-Welt-sein, sondern Sein bei
innerwelt-
lichem Seienden. Mit dem Sein des Daseins und seiner
Erschlos-
senheit ist gleichursprünglich Entdecktheit des
innerweltlichen
Seienden.
2. Zur Seinsverfassung des Daseins und zwar als
Konstitutivum
seiner Erschlossenheit gehört die Geworfenheit. In ihr
enthüllt
sich, daß Dasein je schon als meines und dieses in einer
bestimm-
ten Welt und bei einem bestimmten Umkreis von bestimmten
innerweltlichen Seienden ist. Die Erschlossenheit ist
wesenhaft
faktische.
3. Zur Seinsverfassung des Daseins gehört der Entwurf: das
erschließende Sein zu seinem Seinkönnen. Dasein kann sich
als
verstehendes aus der »Welt« und den Anderen her verstehen
oder
aus seinem eigensten Seinkönnen. Die letztgenannte Möglichkeit
besagt: das Dasein erschließt sich ihm selbst im eigensten
und als
eigenstes Seinkönnen. Diese eigentliche Erschlossenheit
zeigt das
Phänomen der ursprünglichsten Wahrheit im Modus der Eigent-
lichkeit. Die ursprünglichste und zwar eigentlichste Erschlossen-
heit, in der das Dasein als Seinkönnen sein kann, ist die
Wahrheit
der Existenz. Sie erhält erst im Zusammenhang einer Analyse
der
Eigentlichkeit des Daseins ihre existenzial-ontologische
Bestimmtheit.
4. Zur Seinsverfassung des Daseins gehört das Verfallen.
Zunächst und zumeist ist das Dasein an seine »Welt«
verloren.
Das Ver-
1 Vgl. S. 134 ff.
2 Vgl. S. 166 ff.
222
stehen, als Entwurf auf die Seinsmöglichkeiten, hat sich
dahin
verlegt. Das Aufgehen im Man bedeutet die Herrschaft der
öffentlichen Ausgelegtheit. Das Entdeckte und Erschlossene
steht
im Modus der Verstelltheit und Verschlossenheit durch das
Gerede, die Neugier und die Zweideutigkeit. Das Sein zum
Seien-
den ist nicht ausgelöscht, aber entwurzelt. Das Seiende ist
nicht
völlig verborgen, sondern gerade entdeckt, aber zugleich
verstellt;
es zeigt sich – aber im Modus des Scheins. Imgleichen sinkt
das
vordem Entdeckte wieder in die Verstelltheit und
Verborgenheit
zurück. Das Dasein ist, weil wesenhaft verfallend, seiner
Seins-
verfassung nach in der »Unwahrheit«. Dieser Titel ist hier
ebenso
wie der Ausdruck »Verfallen« ontologisch gebraucht. Jede
ontisch negative »Wertung« ist bei seinem
existenzial-analyti-
schen Gebrauch fernzuhalten. Zur Faktizität des Daseins
gehören
Verschlossenheit und Verdecktheit. Der volle
existenzial-ontolo-
gische Sinn des Satzes: »Dasein ist in der Wahrheit« sagt
gleich-
ursprünglich mit: »Dasein ist in der Unwahrheit«. Aber nur
sofern Dasein erschlossen ist, ist es auch verschlossen; und
sofern
mit dem Dasein je schon innerweltliches Seiendes entdeckt
ist, ist
dergleichen Seiendes als mögliches innerweltlich Begegnendes
verdeckt (verborgen) oder verstellt.
Daher muß das Dasein wesenhaft das auch schon Entdeckte
gegen den Schein und die Verstellung sich ausdrücklich
zueignen
und sich der Entdecktheit immer wieder versichern. Erst
recht
vollzieht sich alle Neuentdeckung nicht auf der Basis
völliger
Verborgenheit, sondern im Ausgang von der Entdecktheit im
Modus des Scheins. Seiendes sieht so aus wie..., das heißt,
es ist
in gewisser Weise schon entdeckt und doch noch verstellt.
Die Wahrheit (Entdecktheit) muß dem Seienden immer erst ab-
gerungen werden. Das Seiende wird der Verborgenheit
entrissen.
Die jeweilige faktische Entdecktheit ist gleichsam immer ein
Raub. Ist es Zufall, daß die Griechen sich über das Wesen
der
Wahrheit in einem privativen Ausdruck (¢-l?qeia)
aussprechen?
Kündigt sich in solchem Sichaussprechen des Daseins nicht
ein
ursprüngliches Seinsverständnis seiner selbst an, das
wenngleich
nur vorontologische Verstehen dessen, daß In-der-Unwahrheit-
sein eine wesenhafte Bestimmung des In-der-Welt-seins aus-
macht?
Daß die Göttin der Wahrheit, die den Parmenides führt, ihn
vor beide Wege stellt, den des Entdeckens und den des
Verber-
gens, bedeutet nichts anderes als: das Dasein ist je schon
in der
Wahrheit und Unwahrheit. Der Weg des Entdeckens wird nur
gewonnen im kr?nein 223
lÒgw, im verstehenden Unterscheiden beider und
Sichentscheiden
für den einen1.
Die existenzial-ontologische Bedingung dafür, daß das
In-der-
Welt-sein durch »Wahrheit« und »Unwahrheit« bestimmt ist,
liegt in der Seinsverfassung des Daseins, die wir als den
geworfe-
nen Entwurf kennzeichneten. Sie ist ein Konstitutivum der
Struk-
tur der Sorge.
Die existenzial-ontologische Interpretation des Phänomens
der
Wahrheit hat ergeben: 1. Wahrheit im ursprünglichsten Sinne
ist
die Erschlossenheit des Daseins, zu der die Entdecktheit des
in-
nerweltlichen Seienden gehört. 2. Das Dasein ist
gleichursprüng-
lich in der Wahrheit und Unwahrheit.
Diese Sätze können innerhalb des Horizontes der
traditionellen
Interpretation des Wahrheitsphänomens erst dann voll
einsichtig
werden, wenn sich zeigen läßt: 1. Wahrheit, als
Übereinstimmung
verstanden, hat ihre Herkunft aus der Erschlossenheit und
das
auf dem Wege einer bestimmten Modifizierung. 2. Die Seinsart
der Erschlossenheit selbst führt dazu, daß zunächst ihre
abkünf-
tige Modifikation in den Blick kommt und die theoretische
Explikation der Wahrheitsstruktur leitet.
Die Aussage und ihre Struktur, das apophantische Als, sind
in
der Auslegung und deren Struktur, dem hermeneutischen Als,
und weiterhin im Verstehen, der Erschlossenheit des Daseins,
fundiert. Wahrheit aber gilt als auszeichnende Bestimmung
der so
abkünftigen Aussage. Demnach reichen die Wurzeln der Aussa-
gewahrheit in die Erschlossenheit des Verstehens zurück2.
Über
diese Anzeige der Herkunft der Aussagewahrheit hinaus muß
nun
aber das Phänomen der Übereinstimmung ausdrücklich in seiner
Abkünftigkeit aufgezeigt werden.
Das Sein bei innerweltlichem Seienden, das Besorgen, ist
ent-
deckend. Zur Erschlossenheit des Daseins aber gehört
wesenhaft
die Rede3. Dasein spricht sich aus; sich – als entdeckendes
Sein zu
Seien-
1 K. Reinhardt hat, vgl. Parmenides und die Geschichte der
griechischen Philosophie (1916), zum erstenmal das vielverhandelte
Problem des Zusammenhangs der beiden Teile des
parmenideischen
Lehrgedichts begriffen und gelöst, obwohl er das
ontologische
Fundament für den Zusammenhang von ¢l?qeia und dÒxa und
seine
Notwendigkeit nicht ausdrücklich aufweist.
2 Vgl. oben § 33, S. 154 ff. Die Aussage als abkünftiger
Modus der
Auslegung.
3 Vgl. § 34, S. 160 ff. 224
dem. Und es spricht sich als solches über entdecktes
Seiendes aus
in der Aussage. Die Aussage teilt das Seiende im Wie seiner
Ent-
decktheit mit. Das die Mitteilung vernehmende Dasein bringt
sich
selbst im Vernehmen in das entdeckende Sein zum besprochenen
Seienden. Die ausgesprochene Aussage enthält in ihrem
Worüber
die Entdecktheit des Seienden. Diese ist im Ausgesprochenen
verwahrt. Das Ausgesprochene wird gleichsam zu einem inner-
weltlich Zuhandenen, das aufgenommen und weitergesprochen
werden kann. Auf Grund der Verwahrung der Entdecktheit hat
das zuhandene Ausgesprochene an ihm selbst einen Bezug zum
Seienden, worüber das Ausgesprochene jeweils Aussage ist.
Ent-
decktheit ist je Entdecktheit von... Auch im Nachsprechen
kommt das nachsprechende Dasein in ein Sein zum besprochenen
Seienden selbst. Es ist aber und hält sich für enthoben
einem
ursprünglichen Nachvollzug des Entdeckens.
Das Dasein braucht sich nicht in »originärer« Erfahrung vor
das Seiende selbst zu bringen und bleibt doch entsprechend
in
einem Sein zu diesem. Entdecktheit wird in weitem Ausmaße
nicht durch je eigenes Entdecken, sondern durch Hörensagen des
Gesagten zugeeignet. Das Aufgehen im Gesagten gehört zur
Seinsart des Man. Das Ausgesprochene als solches übernimmt
das Sein zu dem in der Aussage entdeckten Seienden. Soll
dieses
aber ausdrücklich hinsichtlich seiner Entdecktheit
zugeeignet
werden, dann besagt das: die Aussage soll als entdeckende
aus-
gewiesen werden. Die ausgesprochene Aussage aber ist ein
Zuhandenes, so zwar, daß es, als Entdecktheit verwahrendes,
an
ihm selbst einen Bezug hat zum entdeckten Seienden.
Ausweisung
ihres Entdeckend-seins besagt jetzt: Ausweisung des Bezugs
der
die Entdecktheit verwahrenden Aussage zum Seienden. Die Aus-
sage ist ein Zuhandenes. Das Seiende, zu dem sie als
entdeckende
Bezug hat, ist innerweltlich Zuhandenes, bzw. Vorhandenes.
Der
Bezug selbst gibt sich so als vorhandener. Der Bezug aber
liegt
darin, daß die in der Aussage verwahrte Entdecktheit je Ent-
decktheit von ... ist. Das Urteil »enthält etwas, was von
den
Gegenständen gilt« (Kant). Der Bezug erhält aber durch die
Um-
schaltung seiner auf eine Beziehung zwischen Vorhandenen
jetzt
selbst Vorhandenheitscharakter. Entdecktheit von ... wird
zur
vorhandenen Gemäßheit eines Vorhandenen, der ausgesproche-
nen Aussage, zu Vorhandenem, dem besprochenen Seienden. Und
wird die Gemäßheit nur mehr noch als Beziehung zwischen Vor-
handenem gesehen, das heißt wird die Seinsart der
Beziehungs-
glieder unterschiedslos als nur Vorhandenes verstanden, dann
zeigt sich der Bezug als vorhandenes Übereinstimmen zweier
Vorhandener. 225
Die Entdecktheit des Seienden rückt mit der
Ausgesprochenheit
der Aussage in die Seinsart des innerweltlich Zuhandenen.
Sofern
sich nun aber in ihr a l s E n t d e c k t h e i t v o n . .
. ein Bezug
zu Vorhandenem durchhält, wird die Entdecktheit (Wahrheit)
ihrerseits zu einer vorhandenen Beziehung zwischen Vorhande-
nen (intellectus und res).
Das in der Erschlossenheit des Daseins fundierte
existenziale
Phänomen der Entdecktheit wird zur vorhandenen, noch Bezugs-
charakter in sich bergenden Eigenschaft und als diese in
eine
vorhandene Beziehung auseinandergebrochen. Wahrheit als
Erschlossenheit und entdeckendes Sein zu entdecktem Seienden
ist zur Wahrheit als Übereinstimmung zwischen innerweltlich
Vorhandenem geworden. Damit ist die ontologische Abkünftig-
keit des traditionellen Wahrheitsbegriffes aufgezeigt.
Was jedoch in der Ordnung der existenzial-ontologischen Fun-
dierungszusammenhänge das Letzte ist, gilt ontisch-faktisch
als
das Erste und Nächste. Dieses Faktum aber gründet
hinsichtlich
seiner Notwendigkeit wiederum in der Seinsart des Daseins
selbst. Im besorgenden Aufgehen versteht sich das Dasein aus
dem innerweltlich Begegnenden. Die dem Entdecken zugehörige
Entdecktheit wird zunächst innerweltlich im Ausgesprochenen
vorgefunden. Aber nicht nur die Wahrheit begegnet als
Vorhan-
denes, sondern das Seinsverständnis überhaupt versteht
zunächst
alles Seiende als Vorhandenes. Die nächste ontologische
Besin-
nung auf die zunächst ontisch begegnende »Wahrheit« versteht
den lÒgoj (Aussage) als lÒgoj tinÒj (Aussage über...,
Entdecktheit
von...), interpretiert aber das Phänomen als Vorhandenes auf
seine mögliche Vorhandenheit. Weil diese aber dem Sinne von
Sein überhaupt gleichgesetzt ist, kann die Frage, ob diese
Seinsart
der Wahrheit und ihre nächst begegnende Struktur
ursprünglich
sind oder nicht, überhaupt nicht lebendig werden. Das
zunächst
herrschende und noch heute nicht g r undsätzlich und a u s -
d r ü c k l i c h überwundene Seinsverständnis des Daseins
ver-
deckt selbst das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit.
Zugleich darf aber nicht übersehen werden, daß bei den Grie-
chen, die dieses nächste Seinsverständnis zuerst
wissenschaftlich
ausbildeten und zur Herrschaft brachten, zugleich das
ursprüng-
liche, wenngleich vorontologische Verständnis der Wahrheit
lebendig war und sich sogar gegen die in ihrer Ontologie
liegende
Verdeckung – mindestens bei Aristoteles – behauptete1.
1 Vgl. Eth. Nie. Z. und Met. Q 10. 226
Aristoteles hat nie die These verfochten, der ursprüngliche
»Ort« der Wahrheit sei das Urteil. Er sagt vielmehr, der
lÒgoj ist
die Seinsweise des Daseins, die entdeckend oder verdeckend
sein
kann. Diese doppelte Möglichkeit ist das Auszeichnende am
Wahrsein des lÒgoj, er ist die Verhaltung, die auch
verdecken
kann. Und weil Aristoteles die genannte These nie
behauptete,
kam er auch nie in die Lage, den Wahrheitsbegriff vom lÒgoj
auf
das reine noevn zu »erweitern«. Die »Wahrheit« der a?sqhsij
und
des Sehens der »Ideen« ist das ursprüngliche Entdecken. Und
nur
weil nÒhsij primär entdeckt, kann auch der lÒgoj als
dianoevn
Entdeckungsfunktion haben.
Die These, der genuine »Ort« der Wahrheit sei das Urteil,
beruft sich nicht nur zu Unrecht auf Aristoteles, sie ist
auch ihrem
Gehalt nach eine Verkennung der Wahrheitsstruktur. Nicht die
Aussage ist der primäre »Ort« der Wahrheit, sondern
umgekehrt,
die Aussage als Aneignungsmodus der Entdecktheit und als
Weise
des In-der-Weltseins gründet im Entdecken, bzw. der
Erschlos-
senheit des Daseins. Die ursprünglichste »Wahrheit« ist der
»Ort« der Aussage und die ontologische Bedingung der
Möglich-
keit dafür, daß Aussagen wahr oder falsch (entdeckend oder
verdeckend) sein können.
Wahrheit, im ursprünglichsten Sinne verstanden, gehört zur
Grundverfassung des Daseins. Der Titel bedeutet ein
Existenzial.
Damit ist aber schon die Antwort vorgezeichnet auf die Frage
nach der Seinsart von Wahrheit und nach dem Sinne der Not-
wendigkeit der Voraussetzung, daß »es Wahrheit gibt«.
c) Die Seinsart der Wahrheit und die Wahrheitsvoraussetzung
Das Dasein ist als konstituiert durch die Erschlossenheit
wesenhaft in der Wahrheit. Die Erschlossenheit ist eine
wesen-
hafte Seinsart des Daseins. Wahrheit »gibt es« nur, sofern
und
solange Dasein ist. Seiendes ist nur dann entdeckt und nur
solange erschlossen, als überhaupt Dasein ist. Die Gesetze
New-
tons, der Satz vom Widerspruch, jede Wahrheit überhaupt sind
nur solange wahr, als Dasein ist. Vordem Dasein überhaupt
nicht
war, und nachdem Dasein überhaupt nicht mehr sein wird, war
keine Wahrheit und wird keine sein, weil sie als
Erschlossenheit,
Entdeckung und Entdecktheit dann nicht sein kann. Bevor die
Gesetze Newtons entdeckt wurden, waren sie nicht »wahr«;
dar-
aus folgt nicht, daß sie falsch waren, noch gar, daß sie,
wenn
ontisch keine Entdecktheit mehr möglich ist, falsch würden.
227
Ebensowenig liegt in dieser »Beschränkung« eine Herabminde-
rung des Wahrseins der »Wahrheiten«.
Die Gesetze Newtons waren vor ihm weder wahr noch falsch,
kann nicht bedeuten, das Seiende, das sie entdeckend
aufzeigen,
sei vordem nicht gewesen. Die Gesetze wurden durch Newton
wahr, mit ihnen wurde für das Dasein Seiendes an ihm selbst
zugänglich. Mit der Entdecktheit des Seienden zeigt sich
dieses
gerade als das Seiende, das vordem schon war. So zu
entdecken,
ist die Seinsart der »Wahrheit«.
Daß es »ewige Wahrheiten« gibt, wird erst dann zureichend
bewiesen sein, wenn der Nachweis gelungen ist, daß in alle
Ewig-
keit Dasein war und sein wird. Solange dieser Beweis
aussteht,
bleibt der Satz eine phantastische Behauptung, die dadurch
nicht
an Rechtmäßigkeit gewinnt, daß sie von den Philosophen ge-
meinhin »geglaubt« wird.
Alle Wahrheit ist gemäß deren wesenhafter daseinsmäßiger
Seinsart relativ auf das Sein des Daseins. Bedeutet diese
Relativi-
tät soviel wie: alle Wahrheit ist »subjektiv«? Wenn man
»subjek-
tiv« interpretiert als »in das Belieben des Subjekts
gestellt«, dann
gewiß nicht. Denn das Entdecken entzieht seinem eigensten
Sinne
nach das Aussagen dem »subjektiven« Belieben und bringt das
entdeckende Dasein vor das Seiende selbst. Und nur weil
»Wahr-
heit« als Entdecken eine Seinsart des Daseins ist, kann sie
dessen
Belieben entzogen werden. Auch die »Allgemeingültigkeit« der
Wahrheit ist lediglich darin verwurzelt, daß das Dasein
Seiendes
an ihm selbst entdecken und freigeben kann. Nur so vermag
die-
ses Seiende an ihm selbst jede mögliche Aussage, das heißt
Auf-
zeigung seiner, zu binden. Wird die rechtverstandene
Wahrheit
dadurch im mindesten angetastet, daß sie ontisch nur im
»Sub-
jekt« möglich ist und mit dessen Sein steht und fällt?
Aus der existenzial begriffenen Seinsart der Wahrheit wird
nun
auch der Sinn der Wahrheitsvoraussetzung verständlich. Warum
müssen wir voraussetzen, daß es Wahrheit gibt? Was heißt
»vor-
aussetzen«? Was meint das »müssen« und »wir«? Was besagt:
»es gibt Wahrheit«? Wahrheit setzen »wir« voraus, weil
»wir«,
seiend in der Seinsart des Daseins, »in der Wahrheit« sind.
Wir
setzen sie nicht voraus als etwas »außer« und »über« uns, zu
dem
wir uns neben anderen »Werten« auch verhalten. Nicht wir
setzen die »Wahrheit« voraus, sondern sie ist es, die ontologisch
überhaupt möglich macht, daß wir so sein kön- 228
nen, daß wir etwas »voraussetzen«. Wahrheit ermöglicht erst
so
etwas wie Voraussetzung.
Was besagt »voraussetzen«? Etwas verstehen als den Grund
des Seins eines anderen Seienden. Dergleichen Verstehen von
Seiendem in seinen Seinszusammenhängen ist nur möglich auf
dem Grunde der Erschlossenheit, das heißt des
Entdeckendseins
des Daseins. »Wahrheit« voraussetzen meint dann, sie
verstehen
als etwas, worumwillen das Dasein ist. Dasein aber – das
liegt in
der Seinsverfassung als Sorge – ist sich je schon vorweg. Es
ist
Seiendes, dem es in seinem Sein um das eigenste Seinkönnen
geht.
Zum Sein und Seinkönnen des Daseins als In-der-Welt-sein
gehört wesenhaft die Erschlossenheit und das Entdecken. Dem
Dasein geht es um sein In-der-Welt-sein-können und darin um
das umsichtig entdeckende Besorgen des innerweltlich
Seienden.
In der Seinsverfassung des Daseins als Sorge, im
Sichvorwegsein,
liegt das ursprünglichste »Voraussetzen«. Weil zum Sein des
Daseins dieses Sichvoraussetzen gehört, müssen »wir« auch
»uns«, als durch Erschlossenheit bestimmt, voraussetzen.
Dieses
im Sein des Daseins liegende »Voraussetzen« verhält sich
nicht zu
nichtdaseinsmäßigem Seienden, das es überdies noch gibt,
son-
dern einzig zu ihm selbst. Die vorausgesetzte Wahrheit, bzw.
das
»es gibt«, womit ihr Sein bestimmt sein soll, hat die
Seinsart bzw.
den Seinssinn des Daseins selbst. Die Wahrheitsvoraussetzung
müssen wir »machen«, weil sie mit dem Sein des »wir« schon
»gemacht« ist.
Wir müssen die Wahrheit voraussetzen, sie muß als Erschlos-
senheit des Daseins sein, so wie dieses selbst als je meines
und
dieses sein muß. Das gehört zur wesenhaften Geworfenheit des
Daseins in die Welt. Hat je Dasein als es seihst frei
darüber ent-
schieden, und wird es je darüber entscheiden können, ob es
ins
»Dasein« kommen will oder nicht? »An sich« ist gar nicht
einzu-
sehen, warum Seiendes entdeckt sein soll, warum Wahrheit und
Dasein sein muß. Die übliche Widerlegung des Skeptizismus,
der
Leugnung des Seins bzw. der Erkennbarkeit der »Wahrheit«,
bleibt auf halbem Wege stehen. Was sie in formaler
Argumenta-
tion zeigt, ist lediglich, daß, wenn geurteilt wird,
Wahrheit vor-
ausgesetzt ist. Es ist der Hinweis darauf, daß zur Aussage
»Wahrheit« gehört, daß Aufzeigen seinem Sinne nach ein Ent-
decken ist. Dabei bleibt ungeklärt stehen, warum das so sein
muß, worin der ontologische Grund für diesen notwendigen
Seinszusammenhang von Aussage und Wahrheit liegt. Ebenso
bleiben die Seinsart von Wahrheit und der Sinn des Voraus-
setzens und seines ontologischen Fundamentes im Dasein
selbst
völlig dunkel. Überdies wird 229
verkannt, daß auch, wenn niemand urteilt, Wahrheit schon vor-
ausgesetzt wird, sofern überhaupt Dasein ist.
Ein Skeptiker kann nicht widerlegt werden, so wenig wie das
Sein der Wahrheit »bewiesen« werden kann. Der Skeptiker,
wenn
er faktisch ist, in der Weise der Negation der Wahrheit,
braucht
auch nicht widerlegt zu werden. Sofern er ist und sich in
diesem
Sein verstanden hat, hat er in der Verzweiflung des
Selbstmords
das Dasein und damit die Wahrheit ausgelöscht. Wahrheit läßt
sich in ihrer Notwendigkeit nicht beweisen, weil das Dasein
für
es selbst nicht erst unter Beweis gestellt werden kann. So
wenig
erwiesen ist, daß es »ewige Wahrheiten« gibt, so wenig ist
es
erwiesen, daß es je – was die Widerlegungen des Skeptizismus
trotz ihres Unternehmens im Grunde glauben – einen »wirk-
lichen« Skeptiker »gegeben« hat. Vielleicht öfter, als die
Harmlo-
sigkeit der formal-dialektischen Überrumpelungsversuche
gegen-
über dem »Skeptizismus« wahr haben möchte.
So wird denn überhaupt bei der Frage nach dem Sein der
Wahrheit und der Notwendigkeit ihrer Voraussetzung ebenso
wie
bei der nach dem Wesen der Erkenntnis ein »ideales Subjekt«
angesetzt. Das ausdrückliche oder unausdrückliche Motiv
dafür
liegt in der berechtigten, aber doch auch erst ontologisch
zu
begründenden Forderung, daß die Philosophie das »Apriori«
und
nicht »empirische Tatsachen« als solche zum Thema hat. Aber
genügt dieser Forderung der Ansatz eines »idealen Subjekts«?
Ist
es nicht ein phantastisch idealisiertes Subjekt? Wird mit
dem
Begriff eines solchen Subjekts nicht gerade das Apriori des
nur
»tatsächlichen« Subjekts, des Daseins, verfehlt? Gehört zum
Apriori des faktischen Subjekts, das heißt zur Faktizität
des
Daseins nicht die Bestimmtheit, daß es gleichursprünglich in
der
Wahrheit und Unwahrheit ist?
Die Ideen eines »reinen Ich« und eines »Bewußtseins über-
haupt« enthalten so wenig das Apriori der »wirklichen«
Subjek-
tivität, daß sie die ontologischen Charaktere der Faktizität
und
der Seinsverfassung des Daseins überspringen, bzw. überhaupt
nicht sehen. Die Zurückweisung eines »Bewußtseins überhaupt«
bedeutet nicht die Negation des Apriori, so wenig als der
Ansatz
eines idealisierten Subjekts die sachgegründete Apriorität
des
Daseins verbürgt.
Die Behauptung »ewiger Wahrheiten«, ebenso wie die Ver-
mengung der phänomenal gegründeten »Idealität« des Daseins
mit einem idealisierten absoluten Subjekt gehören zu den
längst
noch nicht radikal ausgetriebenen Resten von christlicher
Theo-
logie innerhalb der philosophischen Problematik. 230
Das Sein der Wahrheit steht in ursprünglichem Zusammenhang
mit dem Dasein. Und nur weil Dasein ist als konstituiert
durch
Erschlossenheit, das heißt Verstehen, kann überhaupt so
etwas
wie Sein verstanden werden, ist Seinsverständnis möglich.
Sein – nicht Seiendes – »gibt es« nur, sofern Wahrheit ist.
Und
sie ist nur, sofern und solange Dasein ist. Sein und
Wahrheit
»sind« gleichursprünglich. Was es bedeutet: Sein »ist«, wo
es
doch von allem Seienden unterschieden sein soll, kann erst
kon-
kret gefragt werden, wenn der Sinn von Sein und die
Tragweite
von Seinsverständnis überhaupt aufgeklärt sind. Erst dann
ist
auch ursprünglich auseinanderzulegen, was zum Begriff einer
Wissenschaft vom Sein als solchem, seinen Möglichkeiten und
Abwandlungen gehört. Und in Abgrenzung dieser Forschung und
ihrer Wahrheit wird die Forschung als Entdeckung von
Seiendem
und ihre Wahrheit ontologisch zu bestimmen sein.
Noch steht die Beantwortung der Frage nach dem Sinn von
Sein aus. Was hat die bisher durchgeführte Fundamentalanalyse
des Daseins zur Ausarbeitung der genannten Frage
bereitgestellt?
Geklärt wurde durch Freilegung des Phänomens der Sorge die
Seinsverfassung des Seienden, zu dessen Sein so etwas wie
Seins-
verständnis gehört. Das Sein des Daseins wurde damit
zugleich
abgegrenzt gegen Seinsmodi (Zuhandenheit, Vorhandenheit,
Realität), die nichtdaseinsmäßiges Seiendes
charakterisieren. Ver-
deutlicht wurde das Verstehen selbst, womit zugleich die
metho-
dische Durchsichtigkeit des verstehend-auslegenden
Verfahrens
der Seinsinterpretation gewährleistet ist. Wenn mit der
Sorge die
ursprüngliche Seinsverfassung des Daseins gewonnen sein
soll,
dann muß auf diesem Grunde auch das in der Sorge liegende
Seinsverständnis zu Begriff gebracht, das heißt der Sinn von
Sein
umgrenzt werden können. Aber ist mit dem Phänomen der Sorge
die ursprünglichste existenzial-ontologische Verfassung des
Daseins erschlossen? Gibt die im Phänomen der Sorge liegende
Strukturmannigfaltigkeit die ursprünglichste Ganzheit des
Seins
des faktischen Daseins? Hat die bisherige Untersuchung über-
haupt das Dasein als Ganzes in den Blick bekommen? 231
Zweiter Abschnitt
Dasein und Zeitlichkeit
§ 45. Das Ergebnis der vorbereitenden Fundamentalanalyse des
Daseins und die Aufgabe einer ursprünglichen existenzialen
Interpretation dieses Seienden
Was wurde durch die vorbereitende Analyse des Daseins
gewonnen, und was ist gesucht? Gefunden haben wir die Grund-
verfassung des thematischen Seienden, das In-der-Welt-sein,
des-
sen wesenhafte Strukturen in der Erschlossenheit zentrieren.
Die
Ganzheit dieses Strukturganzen enthüllte sich als Sorge. In
ihr
liegt das Sein des Daseins beschlossen. Die Analyse dieses
Seins
nahm zum Leitfaden, was vorgreifend als das Wesen des
Daseins
bestimmt wurde, die Existenz1. Der Titel besagt in formaler
An-
zeige: das Dasein ist als verstehendes Seinkönnen, dem es in
sei-
nem Sein um dieses selbst geht. Das Seiende, dergestalt
seiend,
bin je ich selbst. Die Herausarbeitung des Phänomens der
Sorge
verschaffte einen Einblick in die konkrete Verfassung der
Existenz, das heißt in ihren gleichursprünglichen
Zusammenhang
mit der Faktizität und dem Verfallen des Daseins.
Gesucht wird die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von
Sein überhaupt und vordem die Möglichkeit einer radikalen
Aus-
arbeitung dieser Grundfrage aller Ontologie. Die Freilegung
des
Horizontes aber, in dem so etwas wie Sein überhaupt
verständ-
lich wird, kommt gleich der Aufklärung der Möglichkeit des
Seinsverständnisses überhaupt, das selbst zur Verfassung des
Seienden gehört, das wir Dasein nennen2. Seinsverständnis
läßt
sich als wesenhaftes Seinsmoment des Daseins jedoch nur dann
radikal aufklären, wenn das Seiende, zu dessen Sein es
gehört, an
ihm selbst hinsichtlich seines Seins ursprünglich
interpretiert ist.
Dürfen wir die ontologische Charakteristik des Daseins qua
Sorge als eine ursprüngliche Interpretation dieses Seienden
in
Anspruch nehmen? An welchem Richtmaß soll die existenziale
Analytik des Daseins auf ihre Ursprünglichkeit bzw. Nichtur-
sprünglichkeit abgeschätzt werden? Was besagt denn überhaupt
Ursprünglichkeit einer ontologischen Interpretation?
Ontologische Untersuchung ist eine mögliche Art von Ausle-
gung, die als Ausarbeiten und Zueignen eines Verstehens
gekenn-
zeichnet
1 Vgl. § 9, S. 41 ff.
2 Vgl. § 6,
S. 19 ff.; § 21, S. 95 ff.; § 43, S. 201. 232
wurde1. Jede Auslegung hat ihre Vorhabe, ihre Vorsicht und
ihren Vorgriff. Wird sie als Interpretation ausdrückliche
Aufgabe
einer Forschung, dann bedarf das Ganze dieser »Voraussetzun-
gen«, das wir die hermeneutische Situation nennen, einer
vorgän-
gigen Klärung und Sicherung aus und in einer Grunderfahrung
des zu erschließenden »Gegenstandes«. Ontologische
Interpreta-
tion, die Seiendes hinsichtlich der ihm eigenen
Seinsverfassung
freilegen soll, ist daran gehalten, das thematische Seiende
durch
eine erste phänomenale Charakteristik in die Vorhabe zu
bringen,
der sich alle nachkommenden Schritte der Analyse anmessen.
Diese bedürfen aber zugleich einer Führung durch die
mögliche
Vor-sicht auf die Seinsart des betr. Seienden. Vorhabe und
Vor-
sicht zeichnen dann zugleich die Begrifflichkeit vor
(Vorgriff), in
die alle Seinsstrukturen zu heben sind.
Eine ursprüngliche ontologische Interpretation verlangt aber
nicht nur überhaupt eine in phänomenaler Anmessung
gesicherte
hermeneutische Situation, sondern sie muß sich ausdrücklich
dessen versichern, ob sie das Ganze des thematischen
Seienden in
die Vorhabe gebracht hat. Imgleichen genügt nicht eine
obzwar
phänomenal gegründete erste Vorzeichnung des Seins dieses
Sei-
enden. Die Vor-sicht auf das Sein muß dieses vielmehr
hinsicht-
lich der Einheit der zugehörigen und möglichen
Strukturmomente
treffen. Erst dann kann die Frage nach dem Sinn der Einheit
der
Seinsganzheit des ganzen Seienden mit phänomenaler
Sicherheit
gestellt und beantwortet werden.
Entwuchs die vollzogene existenziale Analyse des Daseins
einer
solchen hermeneutischen Situation, daß durch sie die
fundamen-
talontologisch geforderte Ursprünglichkeit gewährleistet
ist?
Kann von dem gewonnenen Ergebnis – das Sein des Daseins ist
die Sorge – zur Frage nach der ursprünglichen Einheit dieses
Strukturganzen fortgeschritten werden?
Wie steht es um die bislang das ontologische Verfahren
leitende
Vor-sicht? Die Idee der Existenz bestimmten wir als
verstehendes
Seinkönnen, dem es um sein Sein selbst geht. Als je meines
aber
ist das Seinkönnen frei für Eigentlichkeit oder
Uneigentlichkeit
oder die modale Indifferenz ihrer2. Die bisherige
Interpretation
beschränkte sich, ansetzend bei der durchschnittlichen
Alltäglich-
keit, auf die Analyse des indifferenten bzw. uneigentlichen
Existierens. Zwar konnte und mußte auch schon auf diesem
Wege eine konkrete Bestimmung
1 Vgl. § 32, S.
148 ff.
2 Vgl. § 9, S. 41
ff. 233
der Existenzialität der Existenz erreicht werden. Gleichwohl
blieb
die ontologische Charakteristik der Existenzverfassung mit
einem
wesentlichen Mangel behaftet. Existenz besagt Seinkönnen –
aber
auch eigentliches. Solange die existenziale Struktur des
eigent-
lichen Seinkönnens nicht in die Existenzidee hineingenommen
wird, fehlt der eine existenziale Interpretation führenden
Vor-
sicht die Ursprünglichkeit.
Und wie ist es um die Vorhabe der bisherigen hermeneutischen
Situation bestellt? Wann und wie hat die existenziale
Analyse sich
dessen versichert, daß sie mit dem Ansatz bei der
Alltäglichkeit
das ganze Dasein – dieses Seiende von seinem »Anfang« bis zu
seinem »Ende« in den themagebenden phänomenologischen Blick
zwang? Zwar wurde behauptet, die Sorge sei die Ganzheit des
Strukturganzen der Daseinsverfassung1. Liegt aber nicht
schon
im Ansatz der Interpretation der Verzicht auf die
Möglichkeit,
das Dasein als Ganzes in den Blick zu bringen? Die
Alltäglichkeit
ist doch gerade das Sein »zwischen« Geburt und Tod. Und wenn
die Existenz das Sein des Daseins bestimmt und ihr Wesen
mit-
konstituiert wird durch das Seinkönnen, dann muß das Dasein,
solange es existiert, seinkönnend je etwas noch nicht sein.
Seien-
des, dessen Essenz die Existenz ausmacht, widersetzt sich
wesen-
haft der möglichen Erfassung seiner als ganzes Seiendes. Die
hermeneutische Situation hat sich bislang nicht nur nicht
der
»Habe« des ganzen Seienden versichert, es wird sogar
fraglich,
ob sie überhaupt erreichbar ist und ob nicht eine
ursprüngliche
ontologische Interpretation des Daseins scheitern muß – an
der
Seinsart des thematischen Seienden selbst.
Eines ist unverkennbar geworden: die bisherige existenziale
Analyse des Daseins kann den Anspruch auf Ursprünglichkeit
nicht erheben. In der Vorhabe stand immer nur das
uneigentliche
Sein des Daseins und dieses als unganzes. Soll die
Interpretation
des Seins des Daseins als Fundament der Ausarbeitung der
onto-
logischen Grundfrage ursprünglich werden, dann muß sie das
Sein des Daseins zuvor in seiner möglichen Eigentlichkeit
und
Ganzheit existenzial ans Licht gebracht haben.
So erwächst denn die Aufgabe, das Dasein als Ganzes in die
Vorhabe zu stellen. Das bedeutet jedoch: überhaupt erst
einmal
die Frage nach dem Ganzseinkönnen dieses Seienden
aufzurollen.
Im Dasein steht, solange es ist, je noch etwas aus, was es
sein
kann und wird.
1 Vgl. § 41, S.
191 ff. 234
Zu diesem Ausstand aber gehört das »Ende« selbst. Das »Ende«
des In-der-Welt-seins ist der Tod. Dieses Ende, zum
Seinkönnen,
das heißt zur Existenz gehörig, begrenzt und bestimmt die je
mögliche Ganzheit des Daseins. Das Zu-Ende-sein des Daseins
im
Tode und somit das Ganzsein dieses Seienden wird aber nur
dann
phänomenal angemessen in die Erörterung des möglichen Ganz-
seins einbezogen werden können, wenn ein ontologisch zurei-
chender, das heißt existenzialer Begriff des Todes gewonnen
ist.
Daseinsmäßig aber ist der Tod nur in einem existenziellen
Sein
zum Tode. Die existenziale Struktur dieses Seins erweist
sich als
die ontologische Verfassung des Ganzseinkönnens des Daseins.
Das ganze existierende Dasein läßt sich demnach in die
existenzi-
ale Vorhabe bringen. Aber kann das Dasein auch eigentlich
ganz
existieren? Wie soll überhaupt die Eigentlichkeit der
Existenz
bestimmt werden, wenn nicht im Hinblick auf eigentliches
Existieren? Woher nehmen wir dafür das Kriterium? Offenbar
muß das Dasein selbst in seinem Sein die Möglichkeit und
Weise
seiner eigentlichen Existenz vorgeben, wenn anders sie ihm
weder
ontisch aufgezwungen, noch ontologisch erfunden werden kann.
Die Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens aber gibt das
Gewissen. Wie der Tod, so fordert dieses Daseinsphänomen
eine
genuin existenziale Interpretation. Diese führt zur
Einsicht, daß
ein eigentliches Seinkönnen des Daseins im Gewissen-haben-
wollen liegt. Diese existenzielle Möglichkeit aber tendiert
ihrem
Seinssinne nach auf die existenzielle Bestimmtheit durch das
Sein
zum Tode.
Mit der Aufweisung eines eigentlichen Ganzseinkönnens des
Daseins versichert sich die existenziale Analytik der
Verfassung
des ursprünglichen Seins des Daseins, das eigentliche
Ganzsein-
können aber wird zugleich als Modus der Sorge sichtbar.
Damit
ist denn auch der phänomenal zureichende Boden für eine ur-
sprüngliche Interpretation des Seinssinnes des Daseins
gesichert.
Der ursprüngliche ontologische Grund der Existenzialität des
Daseins aber ist die Zeitlichkeit. Die gegliederte
Strukturganzheit
des Seins des Daseins als Sorge wird erst aus ihr
existenzial ver-
ständlich. Bei diesem Nachweis kann die Interpretation des
Seins-
sinnes des Daseins nicht halten. Die existenzial-zeitliche
Analyse
dieses Seienden bedarf der konkreten Bewährung. Die vordem
gewonnenen ontologischen Strukturen des Daseins müssen rück-
läufig auf ihren zeitlichen Sinn freigelegt werden. Die Alltäglich-
keit enthüllt sich als Modus der Zeitlichkeit. Durch diese
Wie-
derholung der vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins
wird aber zugleich das Phänomen der Zeitlichkeit selbst
durch-
sichtiger. Aus ihr wird sodann verständlich, 235
warum das Dasein im Grunde seines Seins geschichtlich ist
und
sein kann und als geschichtliches Historie auszubilden
vermag.
Wenn die Zeitlichkeit den ursprünglichen Seinssinn des
Daseins
ausmacht, es diesem Seienden aber in seinem Sein um dieses
selbst geht, dann muß die Sorge »Zeit« brauchen und sonach
mit
»der Zeit« rechnen. Die Zeitlichkeit des Daseins bildet
»Zeit-
rechnung« aus. Die in ihr erfahrene »Zeit« ist der nächste
phä-
nomenale Aspekt der Zeitlichkeit. Aus ihr erwächst das
alltäg-
lich-vulgäre Zeitverständnis. Und dieses entfaltet sich zum
tradi-
tionellen Zeitbegriff.
Die Aufhellung des Ursprungs der »Zeit«, »in der« innerwelt-
liches Seiendes begegnet, der Zeit als Innerzeitigkeit,
offenbart
eine wesenhafte Zeitigungsmöglichkeit der Zeitlichkeit.
Damit
bereitet sich das Verständnis für eine noch ursprünglichere
Zeiti-
gung der Zeitlichkeit vor. In ihr gründet das für das Sein
des
Daseins konstitutive Seinsverständnis. Der Entwurf eines
Sinnes
von Sein überhaupt kann sich im Horizont der Zeit
vollziehen.
Die in den vorliegenden Abschnitt gefaßte Untersuchung
durchläuft daher folgende Stadien: Das mögliche Ganzsein des
Daseins und das Sein zum Tode (1. Kapitel); die
daseinsmäßige
Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens und die
Entschlossen-
heit (2. Kapitel); das eigentliche Ganzseinkönnen des
Daseins und
die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge (3.
Kapitel);
Zeitlichkeit und Alltäglichkeit (4. Kapitel); Zeitlichkeit
und
Geschichtlichkeit (5. Kapitel); Zeitlichkeit und
Innerzeitigkeit als
Ursprung des vulgären Zeitbegriffes (6. Kapitel)1.
Erstes Kapitel
Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode
§ 46. Die scheinbare Unmöglichkeit einer ontologischen
Erfassung und Bestimmung des daseinsmäßigen Ganzseins
Das Unzureichende der hermeneutischen Situation, der die
vor-
stehende Analyse des Daseins entsprang, soll überwunden wer-
den. Mit
1 Im 19. Jahrhundert hat S. Kierkegaard das Existenzproblem
als
existenzielles ausdrücklich ergriffen und eindringlich
durchdacht. Die
existenziale Problematik ist ihm aber so fremd, daß er in
ontologischer
Hinsicht ganz unter der Botmäßigkeit Hegels und der durch
diesen
gesehenen antiken Philosophie steht. Daher ist von seinen
»erbaulichen«
Schriften philosophisch mehr zu lernen als von den
theoretischen – die
Abhandlung über den Begriff der Angst ausgenommen. 236
Rücksicht auf die notwendig zu gewinnende Vorhabe des ganzen
Daseins muß gefragt werden, ob dieses Seiende als
Existierendes
überhaupt in seinem Ganzsein zugänglich werden kann. Für die
Unmöglichkeit der geforderten Vorgabe scheinen gewichtige
Gründe zu sprechen, die in der Seinsverfassung des Daseins
selbst
liegen.
Der Sorge, welche die Ganzheit des Strukturganzen des
Daseins
bildet, widerspricht offenbar ihrem ontologischen Sinn nach
ein
mögliches Ganzsein dieses Seienden. Das primäre Moment der
Sorge, das »Sichvorweg«, besagt doch: Dasein existiert je
umwil-
len seiner selbst. »Solange es ist«, bis zu seinem Ende
verhält es
sich zu seinem Seinkönnen. Auch dann, wenn es, noch existie-
rend, nichts mehr »vor sich« und »seine Rechnung abgeschlos-
sen« hat, ist sein Sein noch durch das »Sichvorweg«
bestimmt.
Die Hoffnungslosigkeit zum Beispiel reißt das Dasein nicht
von
seinen Möglichkeiten ab, sondern ist nur ein eigener Modus
des
Seins zu diesen Möglichkeiten. Nicht minder birgt das
illusions-
lose »Gefaßtsein auf Alles« das »Sichvorweg« in sich. Dieses
Strukturmoment der Sorge sagt doch unzweideutig, daß im
Dasein immer noch etwas aussteht, was als Seinkönnen seiner
selbst noch nicht »wirklich« geworden ist. Im Wesen der
Grund-
verfassung des Daseins liegt demnach eine ständige Unabge-
schlossenheit. Die Unganzheit bedeutet einen Ausstand an
Sein-
können.
Sobald jedoch das Dasein so »existiert«, daß an ihm
schlecht-
hin nichts mehr aussteht, dann ist es auch schon in eins
damit
zum Nicht-mehr-da-sein geworden. Die Behebung des Seinsaus-
standes besagt Vernichtung seines Seins. Solange das Dasein
als
Seiendes ist, hat es seine »Gänze« nie erreicht. Gewinnt es
sie
aber, dann wird der Gewinn zum Verlust des In-der-Welt-seins
schlechthin. Als Seiendes wird es dann nie mehr erfahrbar.
Der Grund der Unmöglichkeit, Dasein als seiendes Ganzes
ontisch zu erfahren und demzufolge in seinem Ganzsein
ontolo-
gisch zu bestimmen, liegt nicht in einer Unvollkommenheit
des
Erkenntnisvermögens. Das Hemmnis steht auf Seiten des Seins
dieses Seienden. Was so gar nicht erst sein kann, wie ein
Erfahren
das Dasein zu erfassen prätendiert, entzieht sich
grundsätzlich
einer Erfahrbarkeit. Bleibt aber dann die Ablesung der
ontologi-
schen Seinsganzheit am Dasein nicht ein hoffnungsloses
Unter-
fangen?
Das »Sichvorweg« läßt sich als wesenhaftes Strukturmoment
der Sorge nicht ausstreichen. Ist aber auch, was wir daraus
fol-
gerten, stichhaltig? Wurde nicht in lediglich formaler
Argumenta-
tion auf die Unmöglichkeit einer Erfassung des ganzen
Daseins
geschlossen? Oder 237
wurde gar im Grunde das Dasein nicht unversehens als ein
Vor-
handenes angesetzt, dem sich ständig ein
Noch-nicht-vorhande-
nes vorwegschiebt? Hat die Argumentation das Noch-nicht-sein
und das »Vorweg« in einem genuinen existenzialen Sinne
gefaßt?
War von »Ende« und »Ganzheit« die Rede in phänomenaler
Anmessung an das Dasein? Hatte der Ausdruck »Tod« eine bio-
logische oder existenzial-ontologische, ja überhaupt eine
zurei-
chend sicher umgrenzte Bedeutung? Und sind denn in der Tat alle
Möglichkeiten erschöpft, das Dasein in seiner Gänze
zugänglich
zu machen?
Diese Fragen heischen Antwort, bevor das Problem der
Daseinsganzheit als nichtiges ausgeschaltet werden kann. Die
Frage nach der Daseinsganzheit, die existenzielle sowohl
nach
einem möglichen Ganzseinkönnen, als auch die existenziale
nach
der Seinsverfassung von »Ende« und »Ganzheit«, birgt die
Auf-
gabe positiver Analyse von bisher zurückgestellten
Existenzphä-
nomenen in sich. Im Zentrum dieser Betrachtungen steht die
ontologische Charakteristik des daseinsmäßigen Zu-Ende-seins
und die Gewinnung eines existenzialen Begriffes vom Tode.
Die
hierauf bezogenen Untersuchungen gliedern sich in folgender
Weise: Die Erfahrbarkeit des Todes der Anderen und die
Erfas-
sungsmöglichkeit eines ganzen Daseins (§ 47); Ausstand, Ende
und Ganzheit (§ 48); die Abgrenzung der existenzialen
Analyse
des Todes gegenüber möglichen Interpretationen des Phänomens
(§ 49); die Vorzeichnung der existenzial-ontologischen
Struktur
des Todes (§ 50); das Sein zum Tode und die Alltäglichkeit
des
Daseins (§ 51); das alltägliche Sein zum Tode und der volle
exi-
stenziale Begriff des Todes (§ 52); existenzialer Entwurf
eines
eigentlichen Seins zum Tode ($ 53).
§ 47. Die Erfahrbarkeit des Todes der Anderen und die Erfas-
sungsmöglichkeit eines ganzen Daseins
Das Erreichen der Gänze des Daseins im Tode ist zugleich
Verlust des Seins des Da. Der Übergang zum Nichtmehrdasein
hebt das Dasein gerade aus der Möglichkeit, diesen Übergang
zu
erfahren und als erfahrenen zu verstehen. Dergleichen mag
aller-
dings dem jeweiligen Dasein bezüglich seiner selbst versagt
blei-
ben. Um so eindringlicher ist doch der Tod Anderer. Eine
Been-
digung des Daseins wird demnach »objektiv« zugänglich. Das
Dasein kann, zumal da es wesenhaft Mitsein mit Anderen ist,
eine Erfahrung vom Tode gewinnen. Diese »objektive« Gegeben-
heit des Todes muß dann auch eine ontologische Umgrenzung
der
Daseinsganzheit ermöglichen. 238
Führt diese naheliegende, aus der Seinsart des Daseins als
Mit-
einandersein geschöpfte Auskunft, das zuendegekommene Dasein
Anderer zum Ersatzthema für die Analyse der Daseinsganzheit
zu
wählen, an das vorgesetzte Ziel?
Auch das Dasein der Anderen ist mit seiner im Tode
erreichten
Gänze ein Nichtmehrdasein im Sinne des Nicht-mehr-in-der-
Weltseins. Besagt Sterben nicht Aus-der-Welt-gehen, das
In-der-
Welt-sein verlieren? Das Nicht-mehr-in-der-Welt-sein des Ge-
storbenen ist gleichwohl noch – extrem verstanden – ein Sein
im
Sinne des Nur-noch-vorhandenseins eines begegnenden Körper-
dinges. Am Sterben der Anderen kann das merkwürdige Seins-
phänomen erfahren werden, das sich als Umschlag eines
Seienden
aus der Seinsart des Daseins (bzw. des Lebens) zum
Nichtmehr-
dasein bestimmen läßt. Das Ende des Seienden qua Dasein ist
der
Anfang dieses Seienden qua Vorhandenes.
Diese Interpretation des Umschlages aus dem Dasein zum Nur-
noch-vorhandensein verfehlt jedoch insofern den phänomenalen
Bestand, als das nochverbleibende Seiende kein pures
Körperding
darstellt. Selbst die vorhandene Leiche ist, theoretisch
gesehen,
noch möglicher Gegenstand der pathologischen Anatomie, deren
Verstehenstendenz an der Idee von Leben orientiert bleibt.
Das
Nur-noch-Vorhandene ist »mehr« als ein lebloses materielles
Ding. Mit ihm begegnet ein des Lebens verlustig gegangenes
Unlebendiges.
Aber selbst diese Charakteristik des Noch-verbleibenden
erschöpft nicht den vollen daseinsmäßig-phänomenalen Befund.
Der »Verstorbene«, der im Unterschied zu dem Gestorbenen
den »Hinterbliebenen« entrissen wurde, ist Gegenstand des
»Be-
sorgens« in der Weise der Totenfeier, des Begräbnisses, des
Grä-
berkultes. Und das wiederum deshalb, weil er in seiner
Seinsart
»noch mehr« ist als ein nur besorgbares umweltlich
zuhandenes
Zeug. Im trauernd-gedenkenden Verweilen bei ihm sind die
Hin-
terbliebenen mit ihm, in einem Modus der ehrenden Fürsorge.
Das Seinsverhältnis zum Toten darf deshalb auch nicht als
besor-
gendes Sein bei einem Zuhandenen gefaßt werden.
In solchem Mitsein mit dem Toten ist der Verstorbene selbst
nicht mehr faktisch »da«. Mitsein meint jedoch immer
Miteinan-
dersein in derselben Welt. Der Verstorbene hat unsere »Welt«
verlassen und zurückgelassen. Ans ihr her können die
Bleibenden
noch mit ihm sein.
Je angemessener das Nichtmehrdasein des Verstorbenen phä-
nomenal gefaßt wird, um so deutlicher zeigt sich, daß
solches
Mitsein mit 239
dem Toten gerade nicht das eigentliche Zuendegekommensein
des Verstorbenen erfährt. Der Tod enthüllt sich zwar als
Verlust,
aber mehr als solcher, den die Verbleibenden erfahren. Im
Erleiden des Verlustes wird jedoch nicht der Seinsverlust
als sol-
cher zugänglich, den der Sterbende »erleidet«. Wir erfahren
nicht
im genuinen Sinne das Sterben der Anderen, sondern sind
höch-
stens immer nur »dabei«.
Und selbst wenn es möglich und angängig wäre, das Sterben
der Anderen im Dabeisein sich »psychologisch« zu
verdeutlichen,
die damit gemeinte Weise zu sein, als Zu-Ende-kommen
nämlich,
wäre keineswegs erfaßt. Die Frage steht nach dem
ontologischen
Sinn des Sterbens des Sterbenden als einer Seinsmöglichkeit
seines
Seins und nicht nach der Weise des Mitdaseins und
Nochdaseins
des Verstorbenen mit den Gebliebenen. Die Anweisung, den an
Anderen erfahrenen Tod zum Thema für die Analyse von Dasein-
sende und Ganzheit zu nehmen, vermag weder ontisch noch
ontologisch das zu geben, was sie geben zu können vermeint.
Vor allem aber beruht der Hinweis auf das Sterben Anderer
als
Ersatzthema für die ontologische Analyse der
Daseinsabgeschlos-
senheit und Ganzheit auf einer Voraussetzung, die sich als
eine
völlige Verkennung der Seinsart des Daseins nachweisen läßt.
Diese Voraussetzung liegt in der Meinung, Dasein könne
beliebig
durch anderes ersetzt werden, so daß, was am eigenen Dasein
unerfahrbar bleibt, am fremden zugänglich werde. Aber ist
diese
Voraussetzung wirklich so grundlos?
Zu den Seinsmöglichkeiten des Miteinanderseins in der Welt
gehört unstreitig die Vertretbarkeit des einen Daseins durch
ein
anderes. In der Alltäglichkeit des Besorgens wird von
solcher
Vertretbarkeit vielfältig und ständig Gebrauch macht. Jedes
Hin-
gehen zu ..., jedes Beibringen von ... ist im Umkreis der
nächstbe-
sorgten »Umwelt« vertretbar. Die weite Mannigfaltigkeit
vertret-
barer Weisen des In-der-Weltseins erstreckt sich nicht nur
auf die
abgeschliffenen Modi des öffentlichen Miteinander, sondern
betrifft ebenso die auf bestimmte Umkreise eingeschränkten,
auf
Berufe, Stände und Lebensalter zugeschnittenen Möglichkeiten
des Besorgens. Solche Vertretung aber ist ihrem Sinne nach
im-
mer Vertretung »in« und »bei« etwas, das heißt im Besorgen
von
etwas. Das alltägliche Dasein versteht sich aber zunächst
und
zumeist aus dem her, was es zu besorgen pflegt. »Man ist«
das,
was man betreibt. Bezüglich dieses Seins, des alltäglichen
Mitein-
anderaufgehens bei der besorgten »Welt«, ist Vertretbarkeit
nicht
nur überhaupt möglich, sie gehört sogar als Konstitutivum
zum
Mitein- 240
ander. Hier kann und muß sogar das eine Dasein in gewissen
Grenzen das andere »sein«.
Indes scheitert diese Vertretungsmöglichkeit völlig, wenn es
um
die Vertretung der Seinsmöglichkeit geht, die das
Zu-Ende-kom-
men des Daseins ausmacht und ihm als solche seine Gänze
gibt.
Keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen. Jemand kann
wohl »für einen Anderen in den Tod gehen«. Das besagt jedoch
immer: für den Anderen sich opfern »in einer bestimmten
Sache«.
Solches Sterben für... kann aber nie bedeuten, daß dem
Anderen
damit sein Tod im geringsten abgenommen sei. Das Sterben muß
jedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen. Der Tod ist,
sofern
er »ist«, wesensmäßig je der meine. Und zwar bedeutet er
eine
eigentümliche Seinsmöglichkeit, darin es um das Sein des je
eige-
nen Daseins schlechthin geht. Am Sterben zeigt sich, daß der
Tod
ontologisch durch Jemeinigkeit und Existenz konstituiert
wird1.
Das Sterben ist keine Begebenheit, sondern ein existenzial
zu
verstehendes Phänomen und das in einem ausgezeichneten, noch
näher zu umgrenzenden Sinne.
Wenn aber das »Enden« als Sterben die Ganzheit des Daseins
konstituiert, dann muß das Sein der Gänze selbst als
existenziales
Phänomen des je eigenen Daseins begriffen werden. Im »Enden«
und dem dadurch konstituierten Ganzsein des Daseins gibt es
wesensmäßig keine Vertretung. Diesen existenzialen
Tatbestand
verkennt der vorgeschlagene Ausweg, wenn er das Sterben
Ande-
rer als Ersatzthema für die Analyse der Ganzheit vorschiebt.
So ist der Versuch, das Ganzsein des Daseins phänomenal an-
gemessen zugänglich zu machen, erneut gescheitert. Aber das
Ergebnis der Überlegungen bleibt nicht negativ. Sie
vollzogen sich
in einer, wenngleich rohen Orientierung an den Phänomenen.
Der Tod ist als existenziales Phänomen angezeigt. Das drängt
die
Untersuchung in eine rein existenziale Orientierung am je
eigenen
Dasein. Es bleibt für die Analyse des Todes als Sterben nur
die
Möglichkeit, dieses Phänomen entweder auf einen rein
existenzi-
alen Begriff zu bringen oder aber auf sein ontologisches
Ver-
ständnis zu verzichten.
Ferner zeigte sich bei der Charakteristik des Übergangs vom
Dasein zum Nichtmehrdasein als Nicht-mehr-in-der-Welt-sein,
daß das Aus-der-Welt-gehen des Daseins im Sinne des Sterbens
unterschieden werden muß von einem Aus-der-Welt-gehen des
Nur-lebenden. Das Enden eines Lebendigen fassen wir termino-
logisch als Verenden. Der
1 Vgl. § 9, S. 41 ff. 241
Unterschied kann nur sichtbar werden durch eine Abgrenzung
des daseinsmäßigen Endens gegen das Ende eines Lebens1. Zwar
läßt sich das Sterben auch physiologisch-biologisch
auffassen.
Der medizinische Begriff des »Exitus« deckt sich aber nicht
mit
dem des Verendens.
Aus der bisherigen Erörterung der ontologischen Erfassungs-
möglichkeit des Todes wird zugleich klar, daß unvermerkt
sich
vordrängende Substruktionen von Seiendem anderer Seinsart
(Vorhandenheit oder Leben) die Interpretation des Phänomens,
ja
schon die erste angemessene Vorgabe desselben, zu verwirren
drohen. Dem ist nur so zu begegnen, daß für die weitere
Analyse
eine zureichende ontologische Bestimmtheit der konstitutiven
Phänomene, als da sind Ende und Ganzheit, gesucht wird.
§ 48. Ausstand, Ende und Ganzheit
Die ontologische Charakteristik von Ende und Ganzheit kann
im Rahmen dieser Untersuchung nur vorläufig sein. Ihre
zurei-
chende Erledigung verlangt nicht nur die Herausstellung der
for-
malen Struktur von Ende überhaupt und Ganzheit überhaupt.
Sie
bedarf zugleich der Auswicklung ihrer möglichen regionalen,
das
heißt entformalisierten, auf je bestimmtes »sachhaltiges«
Seiendes
bezogenen und aus dessen Sein determinierten strukturalen
Ab-
wandlungen. Diese Aufgabe setzt wiederum eine genügend ein-
deutige, positive Interpretation der Seinsarten voraus, die
eine
regionale Scheidung des Alls des Seienden verlangen. Das
Ver-
ständnis dieser Seinsweisen aber verlangt eine geklärte Idee
von
Sein überhaupt. Eine angemessene Erledigung der
ontologischen
Analyse von Ende und Ganzheit scheitert nicht nur an der
Weit-
läufigkeit des Themas, sondern an der grundsätzlichen
Schwie-
rigkeit, daß zur Bewältigung dieser Aufgabe gerade das in
dieser
Untersuchung Gesuchte (Sinn von Sein überhaupt) schon als
gefunden und bekannt vorausgesetzt werden muß.
Das vorwaltende Interesse der folgenden Betrachtungen gehört
den »Abwandlungen« von Ende und Ganzheit, die als ontologi-
sche Bestimmtheiten des Daseins eine ursprüngliche
Interpreta-
tion dieses Seienden führen sollen. Im ständigen Hinblick
auf die
schon herausgestellte existenziale Verfassung des Daseins
müssen
wir zu entscheiden versuchen, wie weit die sich zunächst vor-
drängenden Begriffe von Ende und Ganzheit, mögen sie katego-
rial auch noch so unbestimmt
1 Vgl. § 10, S.
45 ff. 242
bleiben, dem Dasein ontologisch unangemessen sind. Die
Zurückweisung solcher Begriffe muß zu einer positiven Zuwei-
sung an ihre spezifische Region fortgebildet werden. Damit
ver-
festigt sich das Verständnis für Ende und Ganzheit in der
Abwandlung als Existenzialien, was die Möglichkeit einer
onto-
logischen Interpretation des Todes verbürgt.
Wenn aber die Analyse von Ende und Ganzheit des Daseins
eine so weitgespannte Orientierung nimmt, kann das
gleichwohl
nicht heißen, die existenzialen Begriffe von Ende und
Ganzheit
sollten auf dem Wege einer Deduktion gewonnen werden. Umge-
kehrt gilt es, den existenzialen Sinn des Zu-Ende-kommens
des
Daseins diesem selbst zu entnehmen und zu zeigen, wie
solches
»Enden« ein Ganzsein des Seienden konstituieren kann, das
existiert.
Das bisher über den Tod Erörterte läßt sich in drei Thesen
formulieren: 1. Zum Dasein gehört, solange es ist, ein Noch-
nicht, das es sein wird – der ständige Ausstand. 2. Das
Zu-sei-
nem-Ende-kommen des je Noch-nicht-zu-Ende-seienden (die
seinsmäßige Behebung des Ausstandes) hat den Charakter des
Nichtmehrdaseins. 3. Das Zu-Ende-kommen beschließt in sich
einen für das jeweilige Dasein schlechthin unvertretbaren
Seins-
modus.
Am Dasein ist eine ständige »Unganzheit«, die mit dem Tod
ihr
Ende findet, undurchstreichbar. Aber darf der phänomenale
Tat-
bestand, daß zum Dasein, solange es ist, dieses Noch-nicht
»ge-
hört«, als Ausstand interpretiert werden? Mit Bezug auf
welches
Seiende reden wir von Ausstand? Der Ausdruck meint das, was
zu einem Seienden zwar »gehört«, aber noch fehlt. Ausstehen
als
Fehlen gründet in einer Zugehörigkeit. Aussteht zum Beispiel
der
Rest einer noch zu empfangenden Schuldbegleichung. Das Aus-
stehende ist noch nicht verfügbar. Tilgung der »Schuld« als
Behebung des Ausstandes bedeutet das »Eingehen«, das ist
Nach-
einanderankommen des Restes, wodurch das Noch-nicht gleich-
sam aufgefüllt wird, bis die geschuldete Summe »beisammen«
ist.
Ausstehen meint deshalb: Nochnichtbeisammensein des Zusam-
mengehörigen. Ontologisch liegt darin die Unzuhandenheit von
beizubringenden Stücken, die von der gleichen Seinsart sind
wie
die schon zuhandenen, die ihrerseits durch das Eingehen des
Restes ihre Seinsart nicht modifizieren. Das bestehende
Unzu-
sammen wird durch eine anhäufende Zusammenstückung getilgt.
Das Seiende, an dem noch etwas aussteht, hat die Seinsart
des
Zuhandenen. Das Zusammen, bzw. das darin fundierte Unzu-
sammen charakterisieren wir als Summe. 243
Dies einem solchen Modus des Zusammen zugehörige Unzu-
sammen, das Fehlen als Ausstand, vermag aber keineswegs das
Noch-nicht ontologisch zu bestimmen, das als möglicher Tod
zum Dasein gehört. Dieses Seiende hat überhaupt nicht die
Seins-
art eines innerweltlich Zuhandenen. Das Zusammen des Seien-
den, als welches das Dasein »in seinem Verlauf« ist, bis es
»sei-
nen Lauf« vollendet hat, konstituiert sich nicht durch eine
»fort-
laufende« Anstückung von Seiendem, das von ihm selbst her
schon irgendwie und -wo zuhanden ist. Das Dasein ist nicht
erst
zusammen, wenn sein Noch-nicht sich aufgefüllt hat, so
wenig,
daß es dann gerade nicht mehr ist. Das Dasein existiert je
schon
immer gerade so, daß zu ihm sein Noch-nicht gehört. Gibt es
aber nicht Seiendes, das ist, wie es ist, und dem ein
Noch-nicht
zugehören kann, ohne daß dieses Seiende die Seinsart des
Daseins
haben müßte?
Man kann zum Beispiel sagen: am Mond steht das letzte
Viertel
noch aus, bis er voll ist. Das Noch-nicht verringert sich
mit dem
Verschwinden des verdeckenden Schattens. Dabei ist doch der
Mond immer schon als Ganzes vorhanden. Davon abgesehen,
daß der Mond auch als voller nie ganz zu erfassen ist,
bedeutet
das Noch-nicht hier keineswegs ein noch nicht Zusammensein
der zugehörigen Teile, sondern betrifft einzig das
wahrnehmende
Erfassen. Das zum Dasein gehörige Noch-nicht aber bleibt nicht
nur vorläufig und zuweilen für die eigene und fremde
Erfahrung
unzugänglich, es »ist« überhaupt noch nicht »wirklich«. Das
Problem betrifft nicht die Erfassung des daseinsmäßigen
Noch-
nicht, sondern dessen mögliches Sein bzw. Nichtsein. Das
Dasein
muß als es selbst, was es noch nicht ist, werden, das heißt
sein.
Um sonach das daseinsmäßige Sein des Noch-nicht vergleichend
bestimmen zu können, müssen wir Seiendes in Betracht nehmen,
zu dessen Seinsart das Werden gehört.
Die unreife Frucht zum Beispiel geht ihrer Reife entgegen.
Da-
bei wird ihr im Reifen das, was sie noch nicht ist,
keineswegs als
Noch-nicht-vorhandenes angestückt. Sie selbst bringt sich
zur
Reife, und solches Sichbringen charakterisiert ihr Sein als
Frucht.
Alles Erdenkliche, das beigebracht werden könnte, vermöchte
die
Unreife der Frucht nicht zu beseitigen, käme dieses Seiende
nicht
von ihm selbst her zur Reife. Das Noch-nicht der Unreife
meint
nicht ein außenstehendes Anderes, das gleichgültig gegen die
Frucht an und mit ihr vorhanden sein könnte. Es meint sie
selbst
in ihrer spezifischen Seinsart. Die noch nicht volle Summe
ist als
Zuhandenes gegen den fehlenden unzuhandenen Rest »gleichgül-
tig«. Streng genommen kann sie weder ungleichgültig, noch
gleichgültig dagegen sein. Die reifende Frucht je- 244
doch ist nicht nur nicht gleichgültig gegen die Unreife als
ein
Anderes ihrer selbst, sondern reifend ist sie die Unreife.
Das
Noch-nicht ist schon in ihr eigenes Sein einbezogen und das
kei-
neswegs als beliebige Bestimmung, sondern als Konstitutivum.
Entsprechend ist auch das Dasein, solange es ist, je schon
sein
Noch-nicht1.
Was am Dasein die »Unganzheit« ausmacht, das ständige Sich-
vorweg, ist weder ein Ausstand eines summativen Zusammen,
noch gar ein Noch-nicht-zugänglich-geworden-sein, sondern
ein
Noch-nicht, das je ein Dasein als das Seiende, das es ist,
zu sein
hat. Gleichwohl zeigt der Vergleich mit der Unreife der
Frucht,
bei einer gewissen Übereinstimmung, doch wesentliche Unter-
schiede. Sie beachten, heißt, die bisherige Rede von Ende
und
Enden in ihrer Unbestimmtheit erkennen.
Wenn auch das Reifen, das spezifische Sein der Frucht, als
Seinsart des Noch-nicht (der Unreife) formal darin mit dem
Dasein übereinkommt, daß dieses wie jenes in einem noch zu
umgrenzenden Sinne je schon sein Noch-nicht ist, so kann das
doch nicht bedeuten, Reife als »Ende« und Tod als »Ende«
deck-
ten sich auch hinsichtlich der ontologischen Endestruktur.
Mit
der Reife vollendet sich die Frucht. Ist denn aber der Tod,
zu dem
das Dasein gelangt, eine Vollendung in diesem Sinne? Das
Dasein
hat zwar mit seinem Tod seinen »Lauf vollendet«. Hat es
damit
auch notwendig seine spezifischen Möglichkeiten erschöpft?
Werden sie ihm vielmehr nicht gerade genommen? Auch »unvoll-
endetes« Dasein endet. Andererseits braucht das Dasein so
wenig
erst mit seinem Tod zur Reife zu kommen, daß es diese vor
dem
Ende schon überschritten haben kann. Zumeist endet es in der
Unvollendung oder aber zerfallen und verbraucht.
Enden besagt nicht notwendig Sich-vollenden. Die Frage wird
dringlicher, in welchem Sinne überhaupt der Tod als Enden
des
Daseins begriffen werden muß.
Enden bedeutet zunächst Aufhören und das wiederum in einem
ontologisch verschiedenen Sinne. Der Regen hört auf. Er ist
nicht
mehr vorhanden. Der Weg hört auf. Dieses Enden läßt den Weg
nicht verschwinden, sondern dieses Aufhören bestimmt den Weg
als diesen
1 Der Unterschied zwischen Ganzem und Summe, ÓLon und p©n,
totum
und compositum, ist seit Plato und Aristoteles bekannt.
Damit ist
freilich noch nicht die Systematik der schon in dieser
Scheidung
beschlossenen kategorialen Abwandlung erkannt und in den
Begriff
gehoben. Als Ansatz einer ausführenden Analyse der
fraglichen
Strukturen vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen. Bd. II,
3.
Untersuchung. Zur Lehre von den Ganzen und Teilen. 245
vorhandenen. Enden als Aufhören kann demnach bedeuten: in
die Unvorhandenheit übergehen oder aber gerade erst Vorhan-
densein mit dem Ende. Dieses letztgenannte Enden kann wie-
derum entweder ein unfertig Vorhandenes bestimmen – ein im
Bau befindlicher Weg bricht ab – oder aber die »Fertigkeit«
eines
Vorhandenen konstituieren – mit dem letzten Pinselstrich
wird
das Gemälde fertig.
Aber das Enden als Fertigwerden schließt nicht Vollendung in
sich. Wohl muß dagegen, was vollendet sein will, seine
mögliche
Fertigkeit erreichen. Vollendung ist ein fundierter Modus
der
»Fertigkeit«. Diese ist selbst nur möglich als Bestimmung
eines
Vorhandenen oder Zuhandenen.
Auch das Enden im Sinne des Verschwindens kann sich noch
entsprechend der Seinsart des Seienden modifizieren. Der
Regen
ist zu Ende, das heißt verschwunden. Das Brot ist zu Ende,
das
heißt aufgebraucht, als Zuhandenes nicht mehr verfügbar.
Durch keinen dieser Modi des Endens läßt sich der Tod als
Ende des Daseins angemessen charakterisieren. Würde das
Ster-
ben als Zu-Ende-sein im Sinne eines Endens der besprochenen
Art verstanden, dann wäre das Dasein hiermit als Vorhandenes
bzw. Zuhandenes gesetzt. Im Tod ist das Dasein weder
vollendet,
noch einfach verschwunden, noch gar fertig geworden oder als
Zuhandenes ganz verfügbar.
So wie das Dasein vielmehr ständig, solange es ist, schon
sein
Noch-nicht ist, so ist es auch schon immer sein Ende. Das
mit
dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Da-
seins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod
ist
eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.
»Sobald ein Mensch zum Leben kommt, sogleich ist er alt
genug
zu sterben1.«
Enden als Sein zum Ende verlangt seine ontologische Aufklä-
rung aus der Seinsart des Daseins. Und vermutlich wird auch
erst
aus der existenzialen Bestimmung von Enden die Möglichkeit
eines existierenden Seins des Noch-nicht, das »vor« dem
»Ende«
liegt, verständlich. Die existenziale Klärung des Seins zum
Ende
gibt auch erst die zureichende Basis, den möglichen Sinn der
Rede
von einer Daseinsganzheit zu umgrenzen, wenn anders diese
Ganzheit durch den Tod als »Ende« konstituiert sein soll.
Der Versuch, im Ausgang von einer Klärung des Noch-nicht
über die Charakteristik des Endens zu einem Verständnis der
daseinsmä-
1 Der Ackermann aus Böhmen, hrsg. v. A. Bernt und K. Burdach
(Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur Geschichte
der
deutschen Bildung, hrsg. v. K. Burdach, Bd. III, 2. Teil)
1917, Kp. 20, S.
46. 246
ßigen Ganzheit zu gelangen, führte nicht ans Ziel. Er zeigte
nur
negativ: das Noch-nicht, das je das Dasein ist, widerstrebt
einer
Interpretation als Ausstand. Das Ende, zu dem das Dasein
existierend ist, bleibt durch ein Zu-Ende-sein unangemessen
bestimmt. Zugleich sollte aber die Betrachtung deutlich
machen,
daß ihr Gang umgekehrt werden muß. Die positive Charakte-
ristik der fraglichen Phänomene (Noch-nicht-sein, Enden,
Ganz-
heit) gelingt nur bei einer eindeutigen Orientierung an der
Seins-
verfassung des Daseins. Diese Eindeutigkeit wird aber
negativ
gegen Abwege gesichert durch die Einsicht in die regionale
Zuge-
hörigkeit der Ende- und Ganzheitstrukturen, die dem Dasein
ontologisch zuwiderlaufen.
Die positive existenzialanalytische Interpretation des Todes
und
seines Endecharakters ist am Leitfaden der bisher gewonnenen
Grundverfassung des Daseins, dem Phänomen der Sorge, durch-
zuführen.
§ 49- Die Abgrenzung der existenzialen Analyse des Todes
gegenüber möglichen anderen Interpretationen des Phänomens
Die Eindeutigkeit der ontologischen Interpretation des Todes
soll sich zuvor dadurch verfestigen, daß ausdrücklich zum
Bewußtsein gebracht wird, wonach diese nicht fragen und
worüber eine Auskunft und Anweisung von ihr vergeblich
erwar-
tet werden kann.
Der Tod im weitesten Sinne ist ein Phänomen des Lebens.
Leben muß verstanden werden als eine Seinsart, zu der ein
In-der-
Welt-sein gehört. Sie kann nur in privativer Orientierung am
Dasein ontologisch fixiert werden. Auch das Dasein läßt sich
als
pures Leben betrachten. Für die biologisch-physiologische
Frage-
stellung rückt es dann in den Seinsbezirk, den wir als Tier-
und
Pflanzenwelt kennen. In diesem Felde können durch ontische
Feststellung Daten und Statistiken über die Lebensdauer von
Pflanzen, Tieren und Menschen gewonnen werden. Zusammen-
hänge zwischen Lebensdauer, Fortpflanzung und Wachstum
lassen sich erkennen. Die »Arten« des Todes, die Ursachen,
»Ein-
richtungen« und Weisen seines Eintretens können erforscht
wer-
den1.
Dieser biologisch-ontischen Erforschung des Todes liegt eine
ontologische Problematik zugrunde. Zu fragen bleibt, wie
sich
aus dem ontologischen Wesen des Lebens das des Todes
bestimmt. In gewisser
1 Vgl. dazu die umfassende Darstellung bei E. Korscheit,
Lebensdauer,
Altern und Tod. 3. Aufl. 1924. Im besonderen auch das reiche
Schriftenverzeichnis S. 414 ff. 247
Weise hat die ontische Untersuchung des Todes darüber immer
schon entschieden. Mehr oder minder geklärte Vorbegriffe von
Leben und Tod sind in ihr wirksam. Sie bedürfen einer
Vorzeich-
nung durch die Ontologie des Daseins. Innerhalb der einer
Ontologie des Lebens vorgeordneten Ontologie des Daseins ist
wiederum die existenziale Analyse des Todes einer
Charakteristik
der Grundverfassung des Daseins nachgeordnet. Das Enden von
Lebendem nannten wir Verenden. Sofern auch das Dasein seinen
physiologischen, lebensmäßigen Tod »hat«, jedoch nicht
ontisch
isoliert, sondern mitbestimmt durch seine ursprüngliche
Seinsart,
das Dasein aber auch enden kann, ohne daß es eigentlich
stirbt,
andererseits qua Dasein nicht einfach verendet, bezeichnen
wir
dieses Zwischenphänomen als Ableben. Sterben aber gelte als
Titel für die Seinsweise, in der das Dasein zu seinem Tode
ist.
Darnach ist zu sagen: Dasein verendet nie. Ableben aber kann
das Dasein nur solange, als es stirbt. Die
medizinisch-biologische
Untersuchung des Ablebens vermag Ergebnisse zu gewinnen, die
auch ontologisch von Bedeutung werden können, wenn die
Grundorientierung für eine existenziale Interpretation des
Todes
gesichert ist. Oder müssen gar Krankheit und Tod überhaupt –
auch medizinisch – primär als existenziale Phänomene
begriffen
werden?
Die existenziale Interpretation des Todes liegt vor aller
Biologie
und Ontologie des Lebens. Sie fundiert aber auch erst alle
bio-
graphisch-historische und ethnologisch-psychologische Unter-
suchung des Todes. Eine »Typologie« des »Sterbens« als
Charak-
teristik der Zustände und Weisen, in denen das Ableben
»erlebt«
wird, setzt schon den Begriff des Todes voraus. Überdies
gibt eine
Psychologie des »Sterbens« eher Aufschluß über das »Leben«
des
»Sterbenden« als über das Sterben selbst. Das ist nur der Wider-
schein davon, daß das Dasein nicht erst stirbt oder gar
nicht
eigentlich stirbt bei und in einem Erleben des faktischen
Able-
bens. Imgleichen erhellen die Auffassungen des Todes bei den
Primitiven, deren Verhaltungen zum Tode in Zauberei und Kul-
tus, primär das Daseinsverständnis, dessen Interpretation
schon
einer existenzialen Analytik und eines entsprechenden
Begriffes
vom Tode bedarf.
Die ontologische Analyse des Seins zum Ende greift anderer-
seits keiner existenziellen Stellungnahme zum Tode vor. Wenn
der Tod als »Ende« des Daseins, das heißt des
In-der-Welt-seins
bestimmt wird, dann fällt damit keine ontische Entscheidung
darüber, ob »nach dem Tode« noch ein anderes, höheres oder
niedrigeres Sein möglich ist, ob das Dasein »fortlebt« oder
gar,
sich »überdauernd«, »unsterb- 248
lich« ist. Über das »Jenseits« und seine Möglichkeit wird
eben-
sowenig ontisch entschieden wie über das »Diesseits«, als
sollten
Normen und Regeln des Verhaltens zum Tode zur »Erbauung«
vorgelegt werden. Die Analyse des Todes bleibt aber insofern
rein
»diesseitig«, als sie das Phänomen lediglich daraufhin
interpre-
tiert, wie es als Seinsmöglichkeit des jeweiligen Daseins in
dieses
hereinsteht. Mit Sinn und Recht kann überhaupt erst dann
methodisch sicher auch nur gefragt werden, was nach dem Tode
sei, wenn dieser in seinem vollen ontologischen Wesen
begriffen
ist. Ob eine solche Frage überhaupt eine mögliche
theoretische
Frage darstellt, bleibe hier unentschieden. Die diesseitige
ontolo-
gische Interpretation des Todes liegt vor jeder
ontisch-jenseitigen
Spekulation.
Endlich steht außerhalb des Bezirks einer existenzialen
Analyse
des Todes, was unter dem Titel einer »Metaphysik des Todes«
erörtert werden möchte. Die Fragen, wie und wann der Tod »in
die Welt kam«, welchen »Sinn« er als Übel und Leiden im All
des
Seienden haben kann und soll, setzen notwendig ein
Verständnis
nicht nur des Seinscharakters des Todes voraus, sondern die
Ontologie des Alls des Seienden im Ganzen und die
ontologische
Klärung von Übel und Negativität überhaupt im besonderen.
Den Fragen einer Biologie, Psychologie, Theodizee und Theo-
logie des Todes ist die existenziale Analyse methodisch
vorgeord-
net. Ontisch genommen zeigen ihre Ergebnisse die eigentümliche
Formalität und Leere aller ontologischen Charakteristik. Das
darf
jedoch nicht blind machen gegen die reiche und verwickelte
Struktur des Phänomens. Wenn schon das Dasein überhaupt nie
zugänglich wird als Vorhandenes, weil zu seiner Seinsart das
Möglichsein in eigener Weise gehört, dann darf um so weniger
erwartet werden, die ontologische Struktur des Todes einfach
ablesen zu können, wenn anders der Tod eine ausgezeichnete
Möglichkeit des Daseins ist.
Andererseits kann sich die Analyse nicht an eine zufällig
und
beliebig erdachte Idee vom Tode halten. Dieser Willkür wird
nur
gesteuert durch eine vorgängige ontologische Kennzeichnung
der
Seinsart, in der das »Ende« in die durchschnittliche
Alltäglichkeit
des Daseins hereinsteht. Dazu bedarf es der vollen
Vergegenwär-
tigung der früher herausgestellten Strukturen der
Alltäglichkeit.
Daß in einer existenzialen Analyse des Todes existenzielle
Mög-
lichkeiten des Seins zum Tode mit anklingen, liegt im Wesen
aller
ontologischen Untersuchung. Um so ausdrücklicher muß mit der
existenzialen Begriffsbestimmung die existenzielle
Unverbindlich-
keit zusammengehen und das besonders bezüglich des Todes, an
dem sich der Möglichkeitscharakter 249
des Daseins am schärfsten enthüllen läßt. Die existenziale
Prob-
lematik zielt einzig auf die Herausstellung der
ontologischen
Struktur des Seins zum Ende des Daseins1.
§ 50. Die Vorzeichnung der existenzialontologischen Struktur
des
Todes
Die Betrachtungen über Ausstand, Ende und Ganzheit ergaben
die Notwendigkeit, das Phänomen des Todes als Sein zum Ende
aus der Grundverfassung des Daseins zu interpretieren. Nur
so
kann deutlich werden, inwiefern im Dasein selbst, gemäß
seiner
Seinsstruktur, ein durch das Sein zum Ende konstituiertes
Ganz-
sein möglich ist. Als Grundverfassung des Daseins wurde die
Sorge sichtbar gemacht. Die ontologische Bedeutung dieses
Aus-
drucks drückte sich in der »Definition« aus:
Sich-vorweg-schon-
sein-in (der Welt) als Sein-bei (innerweltlich) begegnendem
Seien-
den2. Damit sind die fundamentalen Charaktere des Seins des
Daseins ausgedrückt: im Sich-vorweg die
1 Die in der christlichen Theologie ausgearbeitete
Anthropologie hat
immer schon – von Paulus an bis zu Calvins meditatio futurae
vitae – bei
der Interpretation des »Lebens« den Tod mitgesehen. – W.
Dilthey,
dessen eigentliche philosophische Tendenzen auf eine
Ontologie des
»Lebens« zielten, konnte dessen Zusammenhang mit dem Tod
nicht
verkennen. »Und das Verhältnis endlich, welches am tiefsten
und
allgemeinsten das Gefühl unseres Daseins bestimmt – das des
Lebens
zum Tode; denn die Begrenzung unserer Existenz durch den Tod
ist
immer entscheidend für unser Verständnis und unsere
Schätzung des
Lebens.« Das Erlebnis und die Dichtung. 5. Aufl., S. 230.
Neuerdings
hat dann auch G. Simmel ausdrücklich das Phänomen des Todes
in die
Bestimmung des »Lebens« einbezogen, freilich ohne klare
Scheidung der
biologisch-ontischen und der ontologisch-existenzialen
Problematik. Vgl.
Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. 1918. S.
99-153. – Für
die vorliegende Untersuchung ist besonders zu vergleichen:
K. Jaspers,
Psychologie der Weltanschauungen. 3. Aufl. 1925, S. 229 ff.,
bes. S.
259-270. Jaspers faßt den Tod am Leitfaden des von ihm
herausgestellten Phänomens der »Grenzsituation«, dessen
fundamentale
Bedeutung über aller Typologie der »Einstellungen« und
»Weltbilder«
liegt.
Die Anregungen W. Diltheys hat Rud. Unger aufgenommen in
seiner
Schrift: Herder, Novalis und Kleist. Studien über die
Entwicklung des
Todesproblems im Denken und Dichten von Sturm und Drang zur
Romantik. 1922. Eine prinzipielle Besinnung auf seine
Fragestellung gibt
Unger in dem Vortrag: Literaturgeschichte als
Problemgeschichte. Zur
Frage geisteshistorischer Synthese, mit besonderer Beziehung
auf W.
Dilthey. (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft.
Geisteswiss.
Klasse I. 1. 1924.) Unger sieht klar die Bedeutung der
phänomenolog.
Forschung für eine radikalere Fundamentierung der
»Lebensprobleme«,
a. a. O. S.
17 ff.
2 Vgl. § 41, S. 192. 250
Existenz, im Schon-sein-in... die Faktizität, im Sein bei...
das
Verfallen. Wenn anders der Tod in einem ausgezeichneten
Sinne
zum Sein des Daseins gehört, dann muß er (bzw. das Sein zum
Ende) von diesen Charakteren aus sich bestimmen lassen.
Zunächst gilt es, überhaupt einmal vorzeichnend zu verdeut-
lichen, wie sich am Phänomen des Todes Existenz, Faktizität
und
Verfallen des Daseins enthüllen.
Als unangemessen wurde die Interpretation des Noch-nicht und
damit auch des äußersten Noch-nicht, des Daseinsendes, im
Sinne
eines Ausstandes zurückgewiesen; denn sie schloß die
ontologi-
sche Verkehrung des Daseins in ein Vorhandenes in sich. Das
Zu-
Ende-sein besagt existenzial: Sein zum Ende. Das äußerste
Noch-
nicht hat den Charakter von etwas, wozu das Dasein sich
verhält.
Das Ende steht dem Dasein bevor. Der Tod ist kein noch nicht
Vorhandenes, nicht der auf ein Minimum reduzierte letzte
Aus-
stand, sondern eher ein Bevorstand.
Dem Dasein als In-der-Welt-sein kann jedoch Vieles bevorste-
hen. Der Charakter des Bevorstandes zeichnet für sich den
Tod
nicht aus. Im Gegenteil: auch diese Interpretation könnte
noch
die Vermutung nahelegen, der Tod müßte im Sinne eines bevor-
stehenden, umweltlich begegnenden Ereignisses verstanden
wer-
den. Bevorstehen kann zum Beispiel ein Gewitter, der Umbau
des
Hauses, die Ankunft eines Freundes, Seiendes demnach, was
vorhanden, zuhanden oder mit-da-ist. Ein Sein dieser Art hat
der
bevorstehende Tod nicht.
Bevorstehen kann dem Dasein aber auch zum Beispiel eine
Reise, eine Auseinandersetzung mit Anderen, ein Verzicht auf
solches, was das Dasein selbst sein kann: eigene
Seinsmöglichkei-
ten, die im Mitsein mit Anderen gründen.
Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst
zu
übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in
seinem eigensten Seinkönnen bevor. In dieser Möglichkeit
geht es
dem Dasein um sein In-der-Welt-sein schlechthin. Sein Tod
ist die
Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens. Wenn das Dasein
als diese Möglichkeit seiner selbst sich bevorsteht, ist es
völlig auf
sein eigenstes Seinkönnen verwiesen. So sich bevorstehend
sind in
ihm alle Bezüge zu anderem Dasein gelöst. Diese eigenste,
unbe-
zügliche Möglichkeit ist zugleich die äußerste. Als
Seinkönnen
vermag das Dasein die Möglichkeit des Todes nicht zu
überholen.
Der Tod ist die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsun-
möglichkeit. So enthüllt sich der Tod als die eigenste,
unbezüg-
liche, unüherholhare Möglichkeit. Als 251
solche ist er ein ausgezeichneter Bevorstand. Dessen
existenziale
Möglichkeit gründet darin, daß das Dasein ihm selbst
wesenhaft
erschlossen ist und zwar in der Weise des Sich-vorweg.
Dieses
Strukturmoment der Sorge hat im Sein zum Tode seine
ursprüng-
lichste Konkretion. Das Sein zum Ende wird phänomenal deut-
licher als Sein zu der charakterisierten ausgezeichneten
Möglich-
keit des Daseins.
Die eigenste, unbezügliche und unüberholbare Möglichkeit
beschafft sich aber das Dasein nicht nachträglich und
gelegentlich
im Verlaufe seines Seins. Sondern, wenn Dasein existiert,
ist es
auch schon in diese Möglichkeit geworfen. Daß es seinem Tod
überantwortet ist und dieser somit zum In-der-Welt-sein
gehört,
davon hat das Dasein zunächst und zumeist kein
ausdrückliches
oder gar theoretisches Wissen, Die Geworfenheit in den Tod
enthüllt sich ihm ursprünglicher und eindringlicher in der
Befind-
lichkeit der Angst1. Die Angst vor dem Tode ist Angst »vor«
dem
eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Seinkönnen. Das
Wovor dieser Angst ist das In-der-Welt-sein selbst. Das
Worum
dieser Angst ist das Sein-können des Daseins schlechthin.
Mit
einer Furcht vor dem Ableben darf die Angst vor dem Tode
nicht
zusammengeworfen werden. Sie ist keine beliebige und
zufällige
»schwache« Stimmung des Einzelnen, sondern, als Grundbefind-
lichkeit des Daseins, die Erschlossenheit davon, daß das
Dasein
als geworfenes Sein zu seinem Ende existiert. Damit
verdeutlicht
sich der existenziale Begriff des Sterbens als geworfenes
Sein zum
eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Seinkönnen. Die
Abgrenzung gegen ein pures Verschwinden, aber auch gegen ein
Nur-Verenden und schließlich gegen ein »Erleben« des
Ablebens
gewinnt an Schärfe.
Das Sein zum Ende entsteht nicht erst durch und als zuweilen
auftauchende Einstellung, sondern gehört wesenhaft zur
Gewor-
fenheit des Daseins, die sich in der Befindlichkeit (der
Stimmung)
so oder so enthüllt. Das je im Dasein herrschende faktische
»Wis-
sen« oder »Nichtwissen« um das eigenste Sein zum Ende ist
nur
der Ausdruck der existenziellen Möglichkeit, in
verschiedener
Weise sich in diesem Sein zu halten. Daß faktisch Viele
zunächst
und zumeist um den Tod nicht wissen, darf nicht als
Beweisgrund
dafür ausgegeben werden, daß das Sein zum Tode nicht »allge-
mein« zum Dasein gehöre, sondern nur dafür, daß sich das Da-
sein zunächst und zumeist das eigenste Sein zum Tode,
flüchtig
vor ihm, verdeckt. Das Dasein stirbt faktisch, solange es
existiert,
aber zunächst und zumeist in der Weise des Verfal-
1 Vgl. § 40, S.
184 ff. 252
lens. Denn faktisches Existieren ist nicht nur überhaupt und
indifferent ein geworfenes In-der-Welt-sein-können, sondern
ist
immer auch schon in der besorgten »Welt« aufgegangen. In
die-
sem verfallenden Sein bei ... meldet sich die Flucht aus der
Unheimlichkeit, das heißt jetzt vor dem eigensten Sein zum
Tode.
Existenz, Faktizität, Verfallen charakterisieren das Sein
zum Ende
und sind demnach konstitutiv für den existenzialen Begriff
des
Todes. Das Sterben gründet hinsichtlich seiner ontologtschen
Möglichkeit in der Sorge.
Wenn aber das Sein zum Tode ursprünglich und wesenhaft
dem Sein des Daseins zugehört, dann muß es auch – wenngleich
zunächst uneigentlich – in der Alltäglichkeit aufweisbar
sein. Und
wenn gar das Sein zum Ende die existenziale Möglichkeit
bieten
sollte für ein existenzielles Ganzsein des Daseins, dann
läge darin
die phänomenale Bewährung für die These: Sorge ist der
ontolo-
gische Titel für die Ganzheit des Strukturganzen des
Daseins. Für
die volle phänomenale Rechtfertigung dieses Satzes reicht
jedoch
eine Vorzeichnung des Zusammenhanges zwischen Sein zum
Tode und Sorge nicht aus. Er muß vor allem in der nächsten
Konkretion des Daseins, seiner Alltäglichkeit, sichtbar
werden.
§ 51. Das Sein zum Tode und die Alltäglichkeit des Daseins
Die Herausstellung des alltäglichen durchschnittlichen Seins
zum Tode orientiert sich an den früher gewonnenen Strukturen
der Alltäglichkeit. Im Sein zum Tode verhält sich das Dasein
zu
ihm selbst als einem ausgezeichneten Seinkönnen. Das Selbst
der
Alltäglichkeit aber ist das Man1, das sich in der
öffentlichen Aus-
gelegtheit konstituiert, die sich im Gerede ausspricht.
Dieses muß
sonach offenbar machen, in welcher Weise das alltägliche
Dasein
sein Sein zum Tode sich auslegt. Das Fundament der Auslegung
bildet je ein Verstehen, das immer auch befindliches, das
heißt
gestimmtes ist. Also muß gefragt werden: wie hat das im
Gerede
des Man liegende befindliche Verstehen das Sein zum Tode
erschlossen? Wie verhält sich das Man verstehend zu der ei-
gensten, unbezüglichen und unüberholbaren Möglichkeit des
Daseins? Welche Befindlichkeit erschließt dem Man die Über-
antwortung an den Tod und in welcher Weise?
Die Öffentlichkeit des alltäglichen Miteinander »kennt« den
Tod als ständig vorkommendes Begegnis, als »Todesfall«.
Dieser
oder jener
1 Vgl. § 27, S. 126 ff. 253
Nächste oder Fernerstehende »stirbt«. Unbekannte »sterben«
täglich und stündlich. »Der Tod« begegnet als bekanntes
inner-
weltlich vorkommendes Ereignis. Als solches bleibt er in der
für
das alltäglich Begegnende charakteristischen
Unauffälligkeit1.
Das Man hat für dieses Ereignis auch schon eine Auslegung
ge-
sichert. Die ausgesprochene oder auch meist verhaltene
»flüch-
tige« Rede darüber will sagen: man stirbt am Ende auch
einmal,
aber zunächst bleibt man selbst unbetroffen.
Die Analyse des »man stirbt« enthüllt unzweideutig die
Seins-
art des alltäglichen Seins zum Tode. Dieser wird in solcher
Rede
verstanden als ein unbestimmtes Etwas, das allererst
irgendwoher
eintreffen muß, zunächst aber für einen selbst noch nicht
vorhan-
den und daher unbedrohlich ist. Das »man stirbt« verbreitet
die
Meinung, der Tod treffe gleichsam das Man. Die öffentliche
Daseinsauslegung sagt: »man stirbt«, weil damit jeder andere
und
man selbst sich einreden kann: je nicht gerade ich; denn
dieses
Man ist das Niemand. Das »Sterben« wird auf ein Vorkommnis
nivelliert, das zwar das Dasein trifft, aber niemandem
eigens
zugehört. Wenn je dem Gerede die Zweideutigkeit eignet, dann
dieser Rede vom Tode. Das Sterben, das wesenhaft
unvertretbar
das meine ist, wird in ein öffentlich vorkommendes Ereignis
ver-
kehrt, das dem Man begegnet. Die charakterisierte Rede
spricht
vom Tode als ständig vorkommendem »Fall«. Sie gibt ihn aus
als
immer schon »Wirkliches« und verhüllt den
Möglichkeitscharak-
ter und in eins damit die zugehörigen Momente der
Unbezüglich-
keit und Unüberholbarkeit. Mit solcher Zweideutigkeit setzt
sich
das Dasein in den Stand, sich hinsichtlich eines
ausgezeichneten,
dem eigensten Selbst zugehörigen Seinkönnens im Man zu
verlie-
ren. Das Man gibt Recht und steigert die Versuchung, das
eigenste Sein zum Tode sich zu verdecken2.
Das verdeckende Ausweichen vor dem Tode beherrscht die All-
täglichkeit so hartnäckig, daß im Miteinandersein die »Näch-
sten« gerade dem »Sterbenden« oft noch einreden, er werde
dem
Tod entgehen und demnächst wieder in die beruhigte
Alltäglich-
keit seiner besorgten Welt zurückkehren. Solche »Fürsorge«
meint sogar, den »Sterbenden« dadurch zu »trösten«. Sie will
ihn
ins Dasein zurückbringen, indem sie ihm dazu verhilft, seine
eigenste, unbezügliche Seinsmöglichkeit noch vollends zu
verhül-
len. Das Man besorgt dergestalt eine ständige Beruhigung
über
den Tod. Sie gilt aber im Grunde nicht nur
1 Vgl. § 16, S.
72 ff.
2 Vgl. § 38, S.
177 ff. 254
dem »Sterbenden«, sondern ebenso sehr den »Tröstenden«. Und
selbst im Falle des Ablebens noch soll die Öffentlichkeit
durch
das Ereignis nicht in ihrer besorgten Sorglosigkeit gestört
und
beunruhigt werden. Sieht man doch im Sterben der Anderen
nicht
selten eine gesellschaftliche Unannehmlichkeit, wenn nicht
gar
Taktlosigkeit, davor die Öffentlichkeit bewahrt werden
soll1.
Das Man setzt sich aber zugleich mit dieser das Dasein von
sei-
nem Tod abdrängenden Beruhigung in Recht und Ansehen durch
die stillschweigende Regelung der Art, wie man sich
überhaupt
zum Tode zu verhalten hat. Schon das »Denken an den Tod«
gilt
öffentlich als feige Furcht, Unsicherheit des Daseins und
finstere
Weltflucht. Das Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode
nicht
aufkommen. Die Herrschaft der öffentlichen Ausgelegtheit des
Man hat auch schon über die Befindlichkeit entschieden, aus
der
sich die Stellung zum Tode bestimmen soll. In der Angst vor
dem
Tode wird das Dasein vor es selbst gebracht als
überantwortet
der unüberholbaren Möglichkeit. Das Man besorgt die Umkeh-
rung dieser Angst in eine Furcht vor einem ankommenden
Ereig-
nis. Die als Furcht zweideutig gemachte Angst wird überdies
als
Schwäche ausgegeben, die ein selbstsicheres Dasein nicht
kennen
darf. Was sich gemäß dem lautlosen Dekret des Man »gehört«,
ist die gleichgültige Ruhe gegenüber der »Tatsache«, daß man
stirbt. Die Ausbildung einer solchen »überlegenen«
Gleichgültig-
keit entfremdet das Dasein seinem eigensten, unbezüglichen
Sein-
können.
Versuchung, Beruhigung und Entfremdung kennzeichnen aber
die Seinsart des Verfallens. Das alltägliche Sein zum Tode ist
als
verfallendes eine ständige Flucht vor ihm. Das Sein zum Ende
hat
den Modus des umdeutenden, uneigentlich verstehenden und
verhüllenden Ausweichens vor ihm. Daß das je eigene Dasein
faktisch immer schon stirbt, das heißt in einem Sein zu
seinem
Ende ist, dieses Faktum verbirgt es sich dadurch, daß es den
Tod
zum alltäglich vorkommenden Todesfall bei Anderen umprägt,
der allenfalls uns noch deutlicher versichert, daß »man
selbst« ja
noch »lebt«. Mit der verfallenden Flucht vor dem Tode
bezeugt
aber die Alltäglichkeit des Daseins, daß auch das Man selbst
je
schon als Sein zum Tode bestimmt ist, auch dann, wenn es
sich
nicht ausdrücklich in einem »Denken an den Tod« bewegt. Dem
Dasein geht es auch in der durchschnittlichen Alltäglich-
1 L. N. Tolstoi hat in seiner Erzählung »Der Tod des Iwan
Iljitsch«
das Phänomen der Erschütterung und des Zusammenbruchs dieses
»man
stirbt« dargestellt. 255
keit ständig um dieses eigenste, unbezügliche und
unüberholbare
Seinkönnen, wenn auch nur im Modus des Besorgens einer unbe-
helligten Gleichgültigkeit g e g e n die äußerste
Möglichkeit seiner
Existenz.
Die Herausstellung des alltäglichen Seins zum Tode gibt aber
zugleich die Anweisung zu dem Versuch, durch eine eindring-
lichere Interpretation des verfallenden Seins zum Tode als
Aus-
weichen vor ihm den vollen existenzialen Begriff des Seins
zum
Ende zu sichern. An dem phänomenal zureichend sichtbar
gemachten Wovor der Flucht muß sich phänomenologisdi ent-
werfen lassen, wie das ausweichende Dasein selbst seinen Tod
versteht1.
§ 52. Das alltägliche Sein zum Ende und der volle
existenziale
Begriff des Todes
Das Sein zum Ende wurde in existenzialer Vorzeichnung als
das
Sein zum eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren
Seinkön-
nen bestimmt. Das existierende Sein zu dieser Möglichkeit
bringt
sich vor die schlechthinnige Unmöglichkeit der Existenz.
Über
diese scheinbar leere Charakteristik des Seins zum Tode
hinaus
enthüllte sich die Konkretion dieses Seins im Modus der
Alltäg-
lichkeit. Gemäß der für diese wesenhaften Verfallenstendenz
erwies sich das Sein zum Tode als verdeckendes Ausweichen
vor
ihm. Während zuvor die Untersuchung von der formalen Vor-
zeichnung der ontologischen Struktur des Todes zur konkreten
Analyse des alltäglichen Seins zum Ende überging, soll jetzt
in
umgekehrter Wegrichtung durch ergänzende Interpretation des
alltäglichen Seins zum Ende der volle existenziale Begriff
des
Todes gewonnen werden.
Die Explikation des alltäglichen Seins zum Tode hielt sich
an
das Gerede des Man: man stirbt auch einmal, aber vorläufig
noch
nicht. Bisher wurde lediglich das »man stirbt« als solches
inter-
pretiert. Im »auch einmal, aber vorläufig noch nicht« gibt
die
Alltäglichkeit so etwas wie eine Gewißheit des Todes zu.
Nie-
mand zweifelt daran, daß man stirbt. Allein dieses »nicht
zwei-
feln« braucht nicht schon das Gewißsein in sich zu bergen,
das
dem entspricht, als was der Tod im Sinne der
charakterisierten
ausgezeichneten Möglichkeit in das Dasein hereinsteht. Die
All-
täglichkeit bleibt bei diesem zweideutigen Zugeben der
»Gewiß-
heit« des Todes stehen – um sie, das Sterben noch
1 Vgl. bez. dieser methodischen Möglichkeit das zur Analyse
der Angst
Gesagte § 40, S. 184. 256
mehr verdeckend, abzuschwächen und sich die Geworfenheit in
den Tod zu erleichtern.
Das verdeckende Ausweichen vor dem Tode vermag seinem
Sinne nach des Todes nicht eigentlich »gewiß« zu sein und
ist es
doch. Wie steht es um die »Gewißheit des Todes«?
Eines Seienden gewiß-sein besagt: es als wahres für wahr
hal-
ten. Wahrheit aber bedeutet Entdecktheit des Seienden. Alle
Ent-
decktheit aber gründet ontologisch in der ursprünglichsten
Wahrheit, der Er-schlossenheit des Daseins1. Dasein ist als
erschlossen-erschließendes und entdeckendes Seiendes
wesenhaft
»in der Wahrheit«. Gewißheit aber gründet in der Wahrheit
oder
gehört ihr gleichursprünglich zu. Der Ausdruck »Gewißheit«
hat
wie der Terminus »Wahrheit« eine doppelte Bedeutung. Ur-
sprünglich besagt Wahrheit soviel wie Erschließendsein als
Ver-
haltung des Daseins. Die hieraus abgeleitete Bedeutung meint
die
Entdecktheit des Seienden. Entsprechend bedeutet Gewißheit
ursprünglich soviel wie Gewißsein als Seinsart des Daseins.
In
einer abgeleiteten Bedeutung wird jedoch auch das Seiende,
des-
sen das Dasein gewiß sein kann, ein »gewisses« genannt.
Ein Modus der Gewißheit ist die Überzeugung. In ihr läßt
sich
das Dasein einzig durch das Zeugnis der entdeckten (wahren)
Sache selbst sein verstehendes Sein zu dieser bestimmen. Das
Für-
wahr-halten ist als Sich-in-der-Wahrheit-halten zulänglich,
wenn
es im entdeckten Seienden selbst gründet und als Sein zu so
ent-
decktem Seienden hinsichtlich seiner Angemessenheit an dieses
sich durchsichtig geworden ist. Dergleichen fehlt in der
willkür-
lichen Erdichtung, bzw. in der bloßen »Ansicht« über ein
Seien-
des.
Die Zulänglichkeit des Fürwahrhaltens bemißt sich nach dem
Wahrheitsanspruch, dem es zugehört. Dieser empfängt sein
Recht
aus der Seinsart des zu erschließenden Seienden und der
Richtung
des Erschließens. Mit der Verschiedenheit des Seienden und
gemäß der leitenden Tendenz und Tragweite des Erschließens
wandelt sich die Art der Wahrheit und damit die Gewißheit.
Die
vorliegende Betrachtung bleibt auf eine Analyse des
Gewiß-seins
gegenüber dem Tod eingeschränkt, das am Ende eine
ausgezeich-
nete Daseinsgewißheit darstellt.
Das alltägliche Dasein verdeckt zumeist die eigenste,
unbezüg-
liche und unüberholbare Möglichkeit seines Seins. Diese
faktische
Verdeckungstendenz bewährt die These: Dasein ist als
faktisches
in der »Un-
1 Vgl. § 44, S. 212 ff., bes. S. 219 ff. 257
wahrheit«1. Demnach muß die Gewißheit, die solchem Ver-
decken des Seins zum Tode zugehört, ein unangemessenes Für-
wahrhalten sein, nicht etwa Ungewißheit im Sinne des
Zweifelns.
Die unangemessene Gewißheit hält das, dessen sie gewiß ist,
in
der Verdecktheit. Versteht »man« den Tod als umweltlich
begeg-
nendes Ereignis, dann trifft die hierauf bezogene Gewißheit
nicht
das Sein zum Ende.
Man sagt: es ist gewiß, daß »der« Tod kommt. Man sagt es,
und das Man übersieht, daß, um des Todes gewiß sein zu kön-
nen, je das eigene Dasein selbst seines eigensten unbezüglichen
Seinkönnens gewiß sein muß. Man sagt, der Tod ist gewiß, und
pflanzt damit in das Dasein den Schein, als sei es selbst
seines
Todes gewiß. Und wo liegt der Grund des alltäglichen Gewiß-
seins? Offenbar nicht in einer bloßen gegenseitigen Überredung.
Man erfährt doch täglich das »Sterben« Anderer. Der Tod ist
eine unleugbare »Erfahrungstatsache«.
In welcher Weise das alltägliche Sein zum Tode die so
gegrün-
dete Gewißheit versteht, verrät sich dann, wenn es versucht,
so-
gar kritisch vorsichtig und das heißt doch angemessen über
den
Tod zu »denken«. Alle Menschen, soweit man weiß, »sterben«.
Der Tod ist für jeden Menschen im höchsten Grade wahrschein-
lich, aber doch nicht »unbedingt« gewiß. Streng genommen
darf
dem Tod doch »nur« empirische Gewißheit zugesprochen wer-
den. Sie bleibt notwendig hinter der höchsten Gewißheit
zurück,
der apodiktischen, die wir in gewissen Bezirken der
theoretischen
Erkenntnis erreichen.
An dieser »kritischen« Bestimmung der Gewißheit des Todes
und seines Bevorstehens offenbart sich zunächst wieder das
für
die Alltäglichkeit charakteristische Verkennen der Seinsart
des
Daseins und des ihm zugehörigen Seins zum Tode. Daß das Ab-
leben als vorkommendes Ereignis »nur« empirisch gewiß ist,
entscheidet nicht über die Gewißheit des Todes. Die
Todesfälle
mögen faktische Veranlassung dafür sein, daß das Dasein zu-
nächst überhaupt auf den Tod aufmerksam wird. In der gekenn-
zeichneten empirischen Gewißheit verbleibend, vermag das Da-
sein aber gar nicht des Todes in dem, wie er »ist«, gewiß zu
wer-
den. Wenngleich das Dasein in der Öffentlichkeit des Man
scheinbar nur von dieser »empirischen« Gewißheit des Todes
»redet«, so hält es sich im Grunde doch nicht ausschließlich
und
primär an die vorkommenden Todesfälle. Seinem Tode aus-
weichend ist
1 Vgl. § 44 b, S. 222. 258
auch das alltägliche Sein zum Ende des Todes doch anders
gewiß,
als es selbst in rein theoretischer Besinnung wahrhaben
möchte.
Dieses »anders« verhüllt sich die Alltäglichkeit zumeist.
Sie wagt
nicht, sich darin durchsichtig zu werden. Mit der
charakterisier-
ten alltäglichen Befindlichkeit, der »ängstlich« besorgten,
schein-
bar angstlosen Überlegenheit gegenüber der gewissen
»Tatsache«
des Todes gibt die Alltäglichkeit eine »höhere« als nur
empirische
Gewißheit zu. Man weiß um den gewissen Tod und »ist« doch
seiner nicht eigentlich gewiß. Die verfallende
Alltäglichkeit des
Daseins kennt die Gewißheit des Todes und weicht dem Gewiß-
sein doch aus. Aber dieses Ausweichen bezeugt phänomenal aus
dem, wovor es ausweicht, daß der Tod als eigenste,
unbezügliche,
unüberholbare, gewisse Möglichkeit begriffen werden muß.
Man sagt: der Tod kommt gewiß, aber vorläufig noch nicht.
Mit diesem »aber...« spricht das Man dem Tod die Gewißheit
ab.
Das »vorläufig noch nicht« ist keine bloße negative Aussage,
sondern eine Selbstauslegung des Man, mit der es sich an das
verweist, was zunächst noch für das Dasein zugänglich und
besorgbar bleibt. Die Alltäglichkeit drängt in die
Dringlichkeit
des Besorgens und begibt sich der Fesseln des müden,
»tatenlosen
Denkens an den Tod«. Dieser wird hinausgeschoben auf ein
»später einmal« und zwar unter Berufung auf das sogenannte
»allgemeine Ermessen«. So verdeckt das Man das Eigentümliche
der Gewißheit des Todes, daß er jeden Augenblick möglich
ist.
Mit der Gewißheit des Todes geht die Unbestimmtheit seines
Wann zusammen. Ihr weicht das alltägliche Sein zum Tode
dadurch aus, daß es ihr Bestimmtheit verleiht. Solches
Bestimmen
kann aber nicht bedeuten, das Wann des Eintreffens des
Ablebens
zu berechnen. Das Dasein flieht eher vor solcher
Bestimmtheit.
Die Unbestimmtheit des gewissen Todes bestimmt sich das all-
tägliche Besorgen dergestalt, daß es vor sie die
übersehbaren
Dringlichkeiten und Möglichkeiten des nächsten Alltags
schiebt.
Die Verdeckung der Unbestimmtheit trifft aber die Gewißheit
mit. So verhüllt sich der eigenste Möglichkeitscharakter des
Todes: gewiß und dabei unbestimmt, das heißt jeden
Augenblick
möglich.
Die vollständige Interpretation der alltäglichen Rede des
Man
über den Tod und seine Weise, in das Dasein hereinzustehen,
führte auf die Charaktere der Gewißheit und Unbestimmtheit.
Der volle existenzial-ontologische Begriff des Todes läßt
sich jetzt
in folgenden Bestimmungen umgrenzen: Der Tod als Ende des
Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als
solche
unbestimmte, unüberholbare 259
Möglichkeit des Daseins. Der Tod ist als Ende des Daseins im
Sein dieses Seienden zu seinem Ende.
Die Umgrenzung der existenzialen Struktur des Seins zum Ende
steht im Dienste der Herausarbeitung einer Seinsart des
Daseins,
in der es als Dasein ganz sein kann. Daß je schon auch das
all-
tägliche Dasein zu seinem Ende ist, das heißt sich mit
seinem Tod
ständig, wenngleich »flüchtig«, auseinandersetzt, zeigt, daß
dieses
das Ganzsein abschließende und bestimmende Ende nichts ist,
wobei das Dasein erst zuletzt in seinem Ableben ankommt. In
das
Dasein, als das zu seinem Tode seiende, ist das äußerste
Noch-
nicht seiner selbst, dem alle anderen vorgelagert sind,
immer
schon einbezogen. Deshalb besteht der formale Schluß von dem
überdies ontologisch unangemessen als Ausstand
interpretierten
Noch-nicht des Daseins auf seine Un-ganzheit nicht zurecht.
Das
aus dem Sich-vorweg entnommene Phänomen des Noch-nicht ist
so wenig wie die Sorgestruktur überhaupt eine Instanz gegen
ein
mögliches existentes Ganzsein, daß dieses Sichvorweg ein
solches
Sein zum Ende allererst möglich macht. Das Problem des mög-
lichen Ganzseins des Seienden, das wir je selbst sind,
besteht
zurecht, wenn die Sorge als Grundverfassung des Daseins mit
dem Tode als der äußersten Möglichkeit dieses Seienden
»zusammenhängt«.
Fraglich bleibt indes, ob dieses Problem auch schon
zureichend
ausgearbeitet wurde. Das Sein zum Tode gründet in der Sorge.
Als geworfenes In-der-Welt-sein ist das Dasein je schon
seinem
Tode überantwortet. Seiend zu seinem Tode, stirbt es
faktisch
und zwar ständig, solange es nicht zu seinem Ableben
gekommen
ist. Das Dasein stirbt faktisch, sagt zugleich, es hat sich
in seinem
Sein zum Tode immer schon so oder so entschieden. Das
alltäg-
lich verfallende Ausweichen vor ihm ist ein uneigentliches
Sein
zum Tode. Uneigentlichkeit hat mögliche Eigentlichkeit zum
Grunde1. Uneigentlichkeit kennzeichnet eine Seinsart, in die
das
Dasein sich verlegen kann und zumeist auch immer verlegt
hat, in
die es sich aber nicht notwendig und ständig verlegen muß.
Weil
das Dasein existiert, bestimmt es sich als Seiendes, wie es
ist, je
aus einer Möglichkeit, die es selbst ist und versteht.
Kann das Dasein seine eigenste, unbezügliche und unüberhol-
bare, gewisse und als solche unbestimmte Möglichkeit auch
eigentlich ver-
1 Über die Uneigentlichkeit des Daseins wurde gehandelt § 9,
S. 42 ff.,
27, S. 130, und bes. § 38, S. 175 ff. 260
stehen, das heißt sich in einem eigentlichen Sein zu seinem
Ende
halten? Solange dieses eigentliche Sein zum Tode nicht
herausge-
stellt und ontologisch bestimmt ist, haftet an der
existenzialen
Interpretation des Seins zum Ende ein wesentlicher Mangel.
Das eigentliche Sein zum Tode bedeutet eine existenzielle
Mög-
lichkeit des Daseins. Dieses ontische Seinkönnen muß
seinerseits
ontologisch möglich sein. Welches sind die existenzialen
Bedin-
gungen dieser Möglichkeit? Wie soll sie selbst zugänglich
wer-
den?
§ 53. Existenzialer Entwurf eines eigentlichen Seins zum
Tode
Faktisch hält sich das Dasein zunächst und zumeist in einem
uneigentlichen Sein zum Tode. Wie soll die ontologische Mög-
lichkeit eines eigentlichen Seins zum Tode »objektiv«
charakteri-
siert werden, wenn das Dasein am Ende sich nie eigentlich zu
seinem Ende verhält oder aber dieses eigentliche Sein seinem
Sinne nach den Anderen verborgen bleiben muß? Ist der
Entwurf
der existenzialen Möglichkeit eines so fragwürdigen
existenziellen
Seinkönnens nicht ein phantastisches Unterfangen? Wessen
bedarf es, damit ein solcher Entwurf über eine nur
dichtende,
willkürliche Konstruktion hinauskommt? Gewährt das Dasein
selbst Anweisungen für diesen Entwurf? Lassen sich aus dem
Dasein selbst Gründe seiner phänomenalen Rechtmäßigkeit ent-
nehmen? Kann die jetzt gestellte ontologische Aufgabe aus
der
bisherigen Analyse des Daseins sich Vorzeichnungen geben
las-
sen, die ihr Vorhaben in eine sichere Bahn zwingen?
Der existenziale Begriff des Todes wurde fixiert und somit
das,
wozu ein eigentliches Sein zum Ende sich soll verhalten
können.
Ferner wurde das uneigentliche Sein zum Tode charakterisiert
und damit prohibitiv vorgezeichnet, wie das eigentliche Sein
zum
Tode nicht sein kann. Mit diesen positiven und prohibitiven
An-
weisungen muß sich der existenziale Bau eines eigentlichen
Seins
zum Tode entwerfen lassen.
Das Dasein wird konstituiert durch die Erschlossenheit, das
ist
durch ein befindliches Verstehen. Eigentliches Sein zum Tode
kann vor der eigensten, unbezüglichen Möglichkeit nicht aus-
weichen und in dieser Flucht sie verdecken und für die
Verstän-
digkeit des Man umdeuten. Der existenziale Entwurf eines
eigentlichen Seins zum Tode muß daher die Momente eines sol-
chen Seins herausstellen, die es als Verstehen des Todes im
Sinne
des nichtflüchtigen und nichtverdeckenden Seins zu der
gekenn-
zeichneten Möglichkeit konstituieren. 261
Zunächst gilt es, das Sein zum Tode als ein Sein zu einer
Mög-
lichkeit und zwar zu einer ausgezeichneten Möglichkeit des
Daseins selbst zu kennzeichnen. Sein zu einer Möglichkeit,
das
heißt zu einem Möglichen, kann bedeuten: Aussein auf ein
Mög-
liches als Besorgen seiner Verwirklichung. Im Felde des
Zuhan-
denen und Vorhandenen begegnen ständig solche Möglichkeiten:
das Erreichbare, Beherrschbare, Gangbare und dergleichen.
Das
besorgende Aus-sein auf ein Mögliches hat die Tendenz, die
Möglichkeit des Möglichen durch Verfügbarmachen zu vernich-
ten. Die besorgende Verwirklichung von zuhandenem Zeug (als
Herstellen, Bereitstellen, Umstellen u. s. f.) ist aber
immer nur
relativ, sofern auch das Verwirklichte noch und gerade den
Seins-
charakter der Bewandtnis hat. Es bleibt, wenngleich
verwirklicht,
als Wirkliches ein Mögliches für..., charakterisiert durch
ein Um-
zu. Die vorliegende Analyse soll lediglich deutlich machen,
wie
das besorgende Aus-sein sich zum Möglichen verhält: nicht in
thematisch-theoretischer Betrachtung des Möglichen als Mög-
lichen und gar hinsichtlich seiner Möglichkeit als solcher,
son-
dern so, daß es umsichtig von dem Möglichen wegsieht auf das
Wofür-möglich.
Das fragliche Sein zum Tode kann offenbar nicht den Charak-
ter des besorgenden Aus-seins auf seine Verwirklichung
haben.
Einmal ist der Tod als Mögliches kein mögliches Zuhandenes
oder Vorhandenes, sondern eine Seinsmöglichkeit des Daseins.
Sodann aber müßte das Besorgen der Verwirklichung dieses
Möglichen eine Herbeiführung des Ablebens bedeuten. Damit
entzöge sich aber das Dasein gerade den Boden für ein
existieren-
des Sein zum Tode.
Wenn also mit dem Sein zum Tode nicht eine »Verwirk-
lichung« seiner gemeint ist, dann kann es nicht besagen:
sich
aufhalten bei dem Ende in seiner Möglichkeit. Eine solche
Ver-
haltung läge im »Denken an den Tod«. Solches Verhalten
bedenkt die Möglichkeit, wann und wie sie sich wohl verwirk-
lichen möchte. Dieses Grübeln über den Tod nimmt ihm zwar
nicht völlig seinen Möglichkeitscharakter, er wird immer
noch
begrübelt als kommender, wohl aber schwächt es ihn ab durch
ein berechnendes Verfügenwollen über den Tod. Er soll als
Mög-
liches möglichst wenig von seiner Möglichkeit zeigen. Im
Sein
zum Tode dagegen, wenn anders es die charakterisierte
Möglich-
keit als solche verstehend zu erschließen hat, muß die
Möglich-
keit ungeschwächt als Möglichkeit verstanden, als
Möglichkeit
ausgebildet und im Verhalten zu ihr als Möglichkeit
ausgehalten
werden.
Zu einem Möglichen in seiner Möglichkeit verhält sich das
Dasein jedoch im Erwarten. Für ein Gespanntsein auf es
vermag
ein Mög- 262
liches in seinem »ob oder ob nicht oder schließlich doch«
unge-
hindert und ungeschmälert zu begegnen. Trifft die Analyse
aber
mit dem Phänomen des Erwartens nicht auf die gleiche
Seinsart
zum Möglichen, die schon im besorgenden Aus-sein auf etwas
gekennzeichnet wurde? Alles Erwarten versteht und »hat« sein
Mögliches daraufhin, ob und wann und wie es wohl wirklich
vorhanden sein wird. Das Erwarten ist nicht nur gelegentlich
ein
Wegsehen vom Möglichen auf seine mögliche Verwirklichung,
sondern wesenhaft ein Warten auf diese. Auch im Erwarten
liegt
ein Abspringen vom Möglichen und Fußfassen im Wirklichen,
dafür das Erwartete erwartet ist. Vom Wirklichen aus und auf
es
zu wird das Mögliche in das Wirkliche erwartungsmäßig
herein-
gezogen.
Das Sein zur Möglichkeit als Sein zum Tode soll aber zu ihm
sich so verhalten, daß er sich in diesem Sein und für es als
Mög-
lichkeit enthüllt. Solches Sein zur Möglichkeit fassen wir
termi-
nologisch als Vorlaufen in die Möglichkeit. Birgt diese
Verhal-
tung aber nicht eine Näherung an das Mögliche in sich, und
taucht mit der Nähe des Möglichen nicht seine Verwirklichung
auf? Diese Näherung tendiert jedoch nicht auf ein
besorgendes
Verfügbarmachen eines Wirklichen, sondern im verstehenden
Näherkommen wird die Möglichkeit des Möglichen nur
»größer«. Die nächste Nähe des Seins zum Tode als
Möglichkeit
ist einem Wirklichen so fern als möglich. Je unverhüllter
diese
Möglichkeit verstanden wird, um so reiner dringt das
Verstehen
vor in die Möglichkeit als die der Unmöglichkeit der
Existenz
überhaupt. Der Tod als Möglichkeit gibt dem Dasein nichts zu
»Verwirklichendes« und nichts, was es als Wirkliches selbst
sein
könnte. Er ist die Möglichkeit der Unmöglichkeit jeglichen
Ver-
haltens zu ..., jedes Existierens. Im Vorlaufen in diese
Möglich-
keit wird sie »immer größer«, das heißt sie enthüllt sich
als sol-
che, die überhaupt kein Maß, kein mehr oder minder kennt,
son-
dern die Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz
bedeutet. Ihrem Wesen nach bietet diese Möglichkeit keinen
Anhalt, um auf etwas gespannt zu sein, das mögliche
Wirkliche
sich »auszumalen« und darob die Möglichkeit zu vergessen.
Das
Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit ermöglicht
allererst diese Möglichkeit und macht sie als solche frei.
Das Sein zum Tode ist Vorlaufen in ein Seinkönnen des Seien-
den, dessen Seinsart das Vorlaufen selbst ist. Im
vorlaufenden
Enthüllen dieses Seinkönnens erschließt sich das Dasein ihm
selbst hinsichtlich seiner äußersten Möglichkeit. Auf
eigenstes
Seinkönnen sich entwerfen aber besagt: sich selbst verstehen
können im Sein des so enthüllten 263
Seienden: existieren. Das Vorlaufen erweist sich als
Möglich-
keit des Verstehens des eigensten äußersten Seinkönnens, das
heißt als Möglichkeit eigentlicher Existenz. Deren
ontologische
Verfassung muß sichtbar werden mit der Herausstellung der
konkreten Struktur des Vorlaufens in den Tod. Wie vollzieht
sich
die phänomenale Umgrenzung dieser Struktur? Offenbar so, daß
wir die Charaktere des vorlaufenden Erschließens bestimmen,
die
ihm zugehören müssen, damit es zum reinen Verstehen der
eigensten, unbezüglichen, unüberholbaren, gewissen und als
sol-
cher unbestimmten Möglichkeit soll werden können. Zu beach-
ten bleibt, daß Verstehen primär nicht besagt: begaffen
eines
Sinnes, sondern sich verstehen in dem Seinkönnen, das sich
im
Entwurf enthüllt1.
Der Tod ist eigenste Möglichkeit des Daseins. Das Sein zu
ihr
erschließt dem Dasein sein eigenstes Seinkönnen, darin es um
das
Sein des Daseins schlechthin geht. Darin kann dem Dasein
offen-
bar werden, daß es in der ausgezeichneten Möglichkeit seiner
selbst dem Man entrissen bleibt, das heißt vorlaufend sich
je
schon ihm entreißen kann. Das Verstehen dieses »Könnens«
ent-
hüllt aber erst die faktische Verlorenheit in die
Alltäglichkeit des
Man-selbst.
Die eigenste Möglichkeit ist unbezügliche. Das Vorlaufen
läßt
das Dasein verstehen, daß es das Seinkönnen, darin es
schlechthin
um sein eigenstes Sein geht, einzig von ihm selbst her zu
über-
nehmen hat. Der Tod »gehört« nicht indifferent nur dem
eigenen
Dasein zu, sondern er beansprucht dieses als einzelnes. Die
im
Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt
das
Dasein auf es selbst. Diese Vereinzelung ist eine Weise des
Erschließens des »Da« für die Existenz. Sie macht offenbar,
daß
alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mitsein mit Anderen
ver-
sagt, wenn es um das eigenste Seinkönnen geht. Dasein kann
nur
dann eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst
her
dazu ermöglicht. Das Versagen des Besorgens und der Fürsorge
bedeutet jedoch keineswegs eine Abschnürung dieser Weisen
des
Daseins vom eigentlichen Selbstsein. Als wesenhafte
Strukturen
der Daseinsverfassung gehören sie mit zur Bedingung der Mög-
lichkeit von Existenz überhaupt. Das Dasein ist eigentlich
es
selbst nur, sofern es sich als besorgendes Sein bei ... und
fürsor-
gendes Sein mit ... primär auf sein eigenstes Seinkönnen,
nicht
aber auf die Möglichkeit des Man-selbst entwirft. Das
Vorlaufen
in die unbezügliche Möglichkeit zwingt das vorlaufende Sei-
1 Vgl. § 31, S.
142 ff. 264
ende in die Möglichkeit, sein eigenstes Sein von ihm selbst
her
aus ihm selbst zu übernehmen.
Die eigenste, unbezügliche Möglichkeit ist unüberholbar. Das
Sein zu ihr läßt das Dasein verstehen, daß ihm als äußerste
Mög-
lichkeit der Existenz bevorsteht, sich selbst aufzugeben.
Das
Vorlaufen aber weicht der Unüberholbarkeit nicht aus wie das
uneigentliche Sein zum Tode, sondern gibt sich frei für sie.
Das
vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der
Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden
Möglichkeiten, so
zwar, daß es die faktischen Möglichkeiten, die der
unüberholba-
ren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und
wählen
läßt. Das Vorlaufen erschließt der Existenz als äußerste
Möglich-
keit die Selbstaufgabe und zerbricht so jede Versteifung auf
die je
erreichte Existenz. Das Dasein behütet sich, vorlaufend,
davor,
hinter sich selbst und das verstandene Seinkönnen
zurückzufallen
und »für seine Siege zu alt zu werden« (Nietzsche). Frei für
die
eigensten, vom Ende her bestimmten, das heißt als endliche
ver-
standenen Möglichkeiten, bannt das Dasein die Gefahr, aus sei-
nem endlichen Existenzverständnis her die es überholenden
Exi-
stenzmöglichkeiten der Anderen zu verkennen oder aber sie
miß-
deutend auf die eigene zurückzuzwingen – um sich so der ei-
gensten faktischen Existenz zu begeben. Als unbezügliche
Mög-
lichkeit vereinzelt der Tod aber nur, um als unüberholbare
das
Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das Seinkönnen
der
Anderen. Weil das Vorlaufen in die unüberholbare Möglichkeit
alle ihr vorgelagerten Möglichkeiten mit erschließt, liegt
in ihm
die Möglichkeit eines existenziellen Vorwegnehmens des
ganzen
Daseins, das heißt die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen zu
existieren.
Die eigenste, unbezügliche und unüberholbare Möglichkeit ist
gewiß. Die Weise, ihrer gewiß zu sein, bestimmt sich aus der
ihr
entsprechenden Wahrheit (Erschlossenheit). Die gewisse Mög-
lichkeit des Todes erschließt das Dasein aber als
Möglichkeit nur
so, daß es vorlaufend zu ihr diese Möglichkeit als eigenstes
Sein-
können für sich ermöglicht. Die Erschlossenheit der Möglichkeit
gründet in der vorlaufenden Ermöglichung. Das Sichhalten in
dieser Wahrheit, das heißt das Gewißsein des Erschlossenen,
beansprucht erst recht das Vorlaufen. Die Gewißheit des
Todes
kann nicht errechnet werden aus Feststellungen von
begegnenden
Todesfällen. Sie hält sich überhaupt nicht in einer Wahrheit
des
Vorhandenen, das hinsichtlich seiner Entdecktheit am
reinsten
begegnet für ein nur hinsehendes Begegnenlassen des Seienden
an
ihm selbst. Das Dasein muß sich allererst an Sachver- 265
halte verloren haben – was eine eigene Aufgabe und
Möglichkeit
der Sorge sein kann – um die reine Sachlichkeit, das heißt
Gleich-
gültigkeit der apodiktischen Evidenz zu gewinnen. Wenn das
Gewißsein bezüglich des Todes nicht diesen Charakter hat,
dann
heißt das nicht, es sei von niedrigerem Grade als jene,
sondern: es
gehört überhaupt nicht in die Abstufungsordnung der
Evidenzen
über Vorhandenes.
Das Für-wahr-halten des Todes – Tod ist je nur eigener –
zeigt
eine andere Art und ist ursprünglicher als jede Gewißheit
bezüg-
lich eines innerweltlich begegnenden Seienden oder der
formalen
Gegenstände; denn es ist des In-der-Welt-seins gewiß. Als
solches
beansprucht es nicht nur eine bestimmte Verhaltung des
Daseins,
sondern dieses in der vollen Eigentlichkeit seiner
Existenz1. Im
Vorlaufen kann sich das Dasein erst seines eigensten Seins
in
seiner unüberholbaren Ganzheit vergewissern. Daher muß die
Evidenz einer unmittelbaren Gegebenheit der Erlebnisse, des
Ich
und des Bewußtseins notwendig hinter der Gewißheit
zurückblei-
ben, die im Vorlaufen beschlossen liegt. Und zwar nicht
deshalb,
weil die zugehörige Erfassungsart nicht streng wäre, sondern
weil
sie grundsätzlich nicht das für wahr (erschlossen) halten
kann,
was sie im Grunde als wahr »da-haben« will: das Dasein, das
ich
selbst bin und als Seinkönnen eigentlich erst vorlaufend
sein
kann.
Die eigenste, unbezügliche, unüberholbare und gewisse Mög-
lichkeit ist hinsichtlich der Gewißheit unbestimmt. Wie
erschließt
das Vorlaufen diesen Charakter der ausgezeichneten
Möglichkeit
des Daseins? Wie entwirft sich das vorlaufende Verstehen auf
ein
gewisses Seinkönnen, das ständig möglich ist, so zwar, daß
das
Wann, in dem die schlechthinnige Unmöglichkeit der Existenz
möglich wird, ständig unbestimmt bleibt? Im Vorlaufen zum
unbestimmt gewissen Tode öffnet sich das Dasein für eine aus
seinem Da selbst entspringende, ständige Bedrohung. Das Sein
zum Ende muß sich in ihr halten und kann sie so wenig
abblen-
den, daß es die Unbestimmtheit der Gewißheit vielmehr
ausbilden
muß. Wie ist das genuine Erschließen dieser ständigen
Bedrohung
existenzial möglich? Alles Verstehen ist befindliches. Die
Stim-
mung bringt das Dasein vor die Geworfenheit seines
»daß-es-da-
ist«2. Die Befindlichkeit aber, welche die ständige und
schlecht-
hinnige, aus dem eigensten vereinzelten Sein des Daseins
auf-
steigende Bedrohung seiner selbst offen zu halten vermag,
ist die
1 Vgl. § 62, S.
305 ff.
2 Vgl. § 29, S.
134 ff. 266
Angst1. In ihr befindet sich das Dasein vor dem Nichts der
mög-
lichen Unmöglichkeit seiner Existenz. Die Angst ängstet sich
um
das Seinkönnen des so bestimmten Seienden und erschließt so
die
äußerste Möglichkeit. Weil das Vorlaufen das Dasein
schlechthin
vereinzelt und es in dieser Vereinzelung seiner selbst der
Ganzheit
seines Seinkönnens gewiß werden läßt, gehört zu diesem Sich-
verstehen des Daseins aus seinem Grunde die Grundbefindlich-
keit der Angst. Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst. Die
untrügliche, obzwar »nur« indirekte Bezeugung dafür gibt das
gekennzeichnete Sein zum Tode, wenn es die Angst in feige
Furcht verkehrt und mit der Überwindung dieser die Feigheit
vor
der Angst bekundet.
Die Charakteristik des existenzial entworfenen eigentlichen
Seins zum Tode läßt sich dergestalt zusammenfassen: Das Vor-
laufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das
Man-selbst
und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende
Fürsorge
primär ungestützt, es selbst zu sein, selbst aber in der
leiden-
schaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten,
faktischen,
ihrer selbst gewissen und sich ängstenden F r e i h e i t z
um
Tode.
Alle dem Sein zum Tode zugehörigen Bezüge auf den vollen
Gehalt der charakterisierten äußersten Möglichkeit des
Daseins
sammeln sich darin, das durch sie konstituierte Vorlaufen
als
Ermöglichung dieser Möglichkeit zu enthüllen, zu entfalten
und
festzuhalten. Die existenzial entwerfende Umgrenzung des
Vor-
laufens hat die ontologische Möglichkeit eines
existenziellen
eigentlichen Seins zum Tode sichtbar gemacht. Damit taucht
aber
dann die Möglichkeit eines eigentlichen Ganzseinkönnens des
Daseins auf – aber doch nur als eine ontologische
Möglichkeit.
Zwar hielt sich der existenziale Entwurf des Vorlaufens an
die
früher gewonnenen Daseinsstrukturen und ließ das Dasein
gleich-
sam selbst sich auf diese Möglichkeit entwerfen, ohne ihm
ein
»inhaltliches« Existenzideal vorzuhalten und »von außen«
aufzu-
zwingen. Und trotzdem bleibt doch dieses existenzial
»mögliche«
Sein zum Tode existenziell eine phantastische Zumutung. Die
ontologische Möglichkeit eines eigentlichen Ganzseinkönnens
des
Daseins bedeutet solange nichts, als nicht das entsprechende
onti-
sche Seinkönnen aus dem Dasein selbst erwiesen ist. Wirft
sich
das Dasein je faktisch in ein solches Sein zum Tode? Fordert
es
auch nur aus dem Grunde seines eigensten Seins ein
eigentliches
Seinkönnen, das durch das Vorlaufen bestimmt ist?
1 Vgl. § 40, S.
184 ff. 267
Vor der Beantwortung dieser Fragen gilt es nachzuforschen,
inwieweit überhaupt und in welcher Weise das Dasein aus
seinem
eigensten Seinkönnen her Zeugnis gibt von einer möglichen
Eigentlichkeit seiner Existenz, so zwar, daß es diese nicht
nur als
existenziell mögliche bekundet, sondern von ihm selbst
fordert.
Die schwebende Frage nach einem eigentlichen Ganzsein des
Daseins und dessen existenzialer Verfassung wird erst dann
auf
probehaltigen phänomenalen Boden gebracht sein, wenn sie
sich
an eine vom Dasein selbst bezeugte mögliche Eigentlichkeit
seines
Seins halten kann. Gelingt es, eine solche Bezeugung und das
in
ihr Bezeugte phänomenologisch aufzudecken, dann erhebt sich
erneut das Problem, ob das bislang nur in seiner
ontologischen
Möglichkeit entworfene Vorlaufen zum Tode mit dem bezeugten
eigentlichen Seinkönnen in einem wesenhaften Zusammenhang
steht.
Zweites Kapitel
Die daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen
Seinkönnens und die Entschlossenheit
§ 54. Das Problem der Bezeugung einer eigentlichen
existenziellen Möglichkeit
Gesucht ist ein eigentliches Seinkönnen des Daseins, das von
diesem selbst in seiner existenziellen Möglichkeit bezeugt
wird.
Zuvor muß diese Bezeugung selbst sich finden lassen. Sie
wird,
wenn sie dem Dasein es selbst in seiner möglichen
eigentlichen
Existenz »zu verstehen geben« soll, im Sein des Daseins ihre
Wurzel haben. Der phänomenologische Aufweis einer solchen
Bezeugung schließt daher den Nachweis ihres Ursprungs aus
der
Seinsverfassung des Daseins in sich.
Die Bezeugung soll ein eigentliches Selbstseinkönnen zu
verste-
hen geben. Mit dem Ausdruck »Selbst« antworteten wir auf die
Frage nach dem Wer des Daseins1. Die Selbstheit des Daseins
wurde formal bestimmt als eine Weise zu existieren, das
heißt
nicht als ein vorhandenes Seiendes. Das Wer des Daseins bin
zumeist nicht ich selbst, sondern das Man-selbst. Das
eigentliche
Selbstsein bestimmt sich als eine existenzielle Modifikation
des
Man, die existenzial zu umgrenzen ist2. Was liegt in dieser
Modifikation, und welches sind die ontologischen Bedingungen
ihrer Möglichkeit?
1 Vgl. § 25, S. 114 ff.
2 Vgl. § 27, S. 126 ff., bes. S. 130. 268
Mit der Verlorenheit in das Man ist über das nächste
faktische
Seinkönnen des Daseins – die Aufgaben, Regeln, Maßstäbe, die
Dringlichkeit und Reichweite des besorgend-fürsorgenden
In-der-
Weltseins – je schon entschieden. Das Ergreifen dieser
Seinsmög-
lichkeiten hat das Man dem Dasein immer schon abgenommen.
Das Man verbirgt sogar die von ihm vollzogene
stillschweigende
Entlastung von der ausdrücklichen Wahl dieser Möglichkeiten.
Es bleibt unbestimmt, wer »eigentlich« wählt. Dieses
wahllose
Mitgenommenwerden von Niemand, wodurch sich das Dasein in
die Uneigentlichkeit verstrickt, kann nur dergestalt
rückgängig
gemacht werden, daß sich das Dasein eigens aus der
Verlorenheit
in das Man zurückholt zu ihm selbst. Dieses Zurückholen muß
jedoch die Seinsart haben, durch deren Versäumnis das Dasein
in
die Uneigentlichkeit sich verlor. Das Sichzurückholen aus
dem
Man, das heißt die existenzielle Modifikation des Man-selbst
zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer
Wahl
vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser
Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen
Selbst. Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein
allererst
sein eigentliches Seinkönnen.
Weil es aber in das Man verloren ist, muß es sich zuvor
finden.
Um sich überhaupt zu finden, muß es ihm selbst in seiner
mög-
lichen Eigentlichkeit »gezeigt« werden. Das Dasein bedarf
der
Bezeugung eines Selbstseinkönnens, das es der Möglichkeit
nach
je schon ist.
Was in der folgenden Interpretation als solche Bezeugung in
Anspruch genommen wird, ist der alltäglichen Selbstauslegung
des Daseins bekannt als Stimme des Gewissens1. Daß die »Tat-
sache« des Gewissens umstritten, seine Instanzfunktion für
die
Existenz des Daseins verschieden eingeschätzt und das, »was
es
sagt«, mannigfaltig ausgelegt wird, dürfte nur dann zu einer
Preisgabe dieses Phänomens verleiten, wenn die
»Zweifelhaftig-
keit« dieses Faktums bzw. die seiner Auslegung nicht gerade
bewiese, daß hier ein ursprüngliches Phänomen des Daseins
vor-
liegt. Die folgende Analyse stellt das Gewissen in die
thematische
Vorhabe einer rein existenzialen Untersuchung mit
fundamental-
ontologischer Absicht.
Zunächst soll das Gewissen in seine existenzialen Fundamente
und Strukturen zurückverfolgt und als Phänomen des Daseins
unter Fest-
1 Die vorstehenden und nachfolgenden Betrachtungen wurden in
thesenartiger Form mitgeteilt gelegentlich eines Marburger
öffentlichen
Vertrags (Juli 1924) über den Begriff der Zeit. 269
haltung der bisher gewonnenen Seinsverfassung dieses
Seienden
sichtbar gemacht werden. Die so angesetzte ontologische
Analyse
des Gewissens liegt vor einer psychologischen Deskription
von
Gewissenserlebnissen und ihrer Klassifikation, ebenso
außerhalb
einer biologischen »Erklärung«, das heißt Auflösung des
Phäno-
mens. Aber nicht geringer ist ihr Abstand von einer
theologischen
Ausdeutung des Gewissens oder gar einer Inanspruchnahme die-
ses Phänomens für Gottesbeweise oder ein »unmittelbares«
Gottesbewußtsein,
Gleichwohl darf auch bei dieser eingeschränkten Untersuchung
des Gewissens ihr Ertrag weder übersteigert, noch unter ver-
kehrte Ansprüche gestellt und herabgemindert werden. Das
Gewissen ist als Phänomen des Daseins keine vorkommende und
zuweilen vorhandene Tatsache. Es »ist« nur in der Seinsart
des
Daseins und bekundet sich als Faktum je nur mit und in der
fak-
tischen Existenz. Die Forderung eines »induktiven
empirischen
Beweises« für die »Tatsächlichkeit« des Gewissens und die
Rechtmäßigkeit seiner »Stimme« beruht auf einer
ontologischen
Verkehrung des Phänomens. Diese Verkehrung teilt aber auch
jede überlegene Kritik des Gewissens als einer nur zeitweise
vor-
kommenden und nicht »allgemein festgestellten und
feststellbaren
Tatsache«. Unter solche Beweise und Gegenbeweise läßt sich
das
Faktum des Gewissens überhaupt nicht stellen. Das ist kein
Man-
gel, sondern nur das Kennzeichen seiner ontologischen
Andersar-
tigkeit gegenüber umweltlich Vorhandenem.
Das Gewissen gibt »etwas« zu verstehen, es erschließt. Aus
die-
ser formalen Charakteristik entspringt die Anweisung, das
Phä-
nomen in die Erschlossenheit des Daseins zurückzunehmen.
Diese
Grundverfassung des Seienden, das wir je selbst sind, wird
kon-
stituiert durch Befindlichkeit, Verstehen, Verfallen und
Rede. Die
eindringlichere Analyse des Gewissens enthüllt es als Ruf.
Das
Rufen ist ein Modus der Rede. Der Gewissensruf hat den Cha-
rakter des Anrufs des Daseins auf sein eigenstes
Selbstseinkönnen
und das in der Weise des Aufrufs zum eigensten Schuldigsein.
Diese existenziale Interpretation liegt der alltäglichen
ontischen
Verständigkeit notwendig fern, ob sie gleich die
ontologischen
Fundamente dessen herausstellt, was die vulgäre
Gewissensausle-
gung in gewissen Grenzen immer verstanden und als »Theorie«
des Gewissens auf einen Begriff gebracht hat. Daher bedarf
die
existenziale Interpretation der Bewährung durch eine Kritik
der
vulgären Gewissensauslegung. Aus dem herausgestellten Phäno-
men kann erhoben werden, inwiefern es ein eigentliches
Seinkön-
nen des Daseins bezeugt. Dem Gewissensruf entspricht ein
mög-
liches Hören. Das An- 270
rufverstehen enthüllt sich als Gewissenhabenwollen. In
diesem
Phänomen aber liegt das gesuchte existenzielle Wählen der
Wahl
eines Selbstseins, das wir, seiner existenzialen Struktur
ent-
sprechend, die Entschlossenheit nennen. Die Gliederung der
Analysen dieses Kapitels ist damit vorgegeben: die
existenzial-
ontologischen Fundamente des Gewissens (§ 55); der
Rufcharak-
ter des Gewissens (§ 56); das Gewissen als Ruf der Sorge (§
57);
Anruf verstehen und Schuld (§ 58); die existenziale
Interpretation
des Gewissens und die vulgäre Gewissensauslegung (§ 59); die
existenziale Struktur des im Gewissen bezeugten eigentlichen
Seinkönnens (§ 60).
§ 55. Die existenzial-ontologischen Fundamente des Gewissens
Die Analyse des Gewissens nimmt ihren Ausgang von einem
indifferenten Befund an diesem Phänomen: daß es in irgend
einer
Weise einem etwas zu verstehen gibt. Das Gewissen erschließt
und gehört deshalb in den Umkreis der existenzialen
Phänomene,
die das Sein des Da als Erschlossenheit konstituieren1. Die
allge-
meinsten Strukturen von Befindlichkeit, Verstehen, Rede und
Verfallen wurden auseinandergelegt. Wenn wir das Gewissen in
diesen phänomenalen Zusammenhang bringen, dann handelt es
sich nicht um eine schematische Anwendung der dort gewonne-
nen Strukturen auf einen besonderen »Fall« von Erschließung
des
Daseins. Die Interpretation des Gewissens wird vielmehr die
frü-
here Analyse der Erschlossenheit des Da nicht nur weiterführen,
sondern ursprünglicher fassen im Hinblick auf das
eigentliche
Sein des Daseins.
Durch die Erschlossenheit ist das Seiende, das wir Dasein
nen-
nen, in der Möglichkeit, sein Da zu sein. Mit seiner Welt
ist es für
es selbst da und zwar zunächst und zumeist so, daß es sich
das
Seinkönnen aus der besorgten »Welt« her erschlossen hat. Das
Seinkönnen, als welches das Dasein existiert, hat sich je
schon
bestimmten Möglichkeiten überlassen. Und das, weil es
geworfe-
nes Seiendes ist, welche Geworfenheit durch das Gestimmtsein
mehr oder minder deutlich und eindringlich erschlossen wird.
Zur Befindlichkeit (Stimmung) gehört gleichursprünglich das
Verstehen. Dadurch »weiß« das Dasein, woran es mit ihm
selbst
ist, sofern es sich auf Möglichkeiten seiner selbst
entworfen hat,
bzw. sich solche, aufgehend im Man, durch dessen öffentliche
Ausgelegtheit vorgeben ließ. Diese Vorgabe aber ermöglicht
sich
existenzial dadurch, daß das Dasein als verstehendes
1 Vgl. §§
28 ff., S. 130 ff. 271
Mitsein auf Andere hören kann. Sich verlierend in die
Öffentlich-
keit des Man und sein Gerede überhört es im Hören auf das
Man-selbst das eigene Selbst. Wenn das Dasein aus dieser
Verlo-
renheit des Sichüberhörens soll zurückgebracht werden können
–
und zwar durch es selbst – dann muß es sich erst finden
können,
sich selbst, das sich überhört hat und überhört im Hinhören
auf
das Man. Dieses Hinhören muß gebrochen, das heißt es muß ihm
vom Dasein selbst die Möglichkeit eines Hörens gegeben
werden,
das jenes unterbricht. Die Möglichkeit eines solchen Bruchs
liegt
im unvermittelten Angerufenwerden. Der Ruf bricht das sich
überhörende Hinhören des Daseins auf das Man, wenn er, sei-
nem Rufcharakter entsprechend, ein Hören weckt, das in allem
gegenteilig charakterisiert ist im Verhältnis zum verlorenen
Hören. Wenn dieses benommen ist vom »Lärm« der mannigfalti-
gen Zweideutigkeit des alltäglich »neuen« Geredes, muß der
Ruf
lärmlos, unzweideutig, ohne Anhalt für die Neugier rufen. Was
dergestalt rufend zu verstehen gibt, ist das Gewissen.
Das Rufen fassen wir als Modus der Rede. Sie gliedert die
Ver-
ständlichkeit. Die Charakteristik des Gewissens als Ruf ist
kei-
neswegs nur ein »Bild«, etwa wie die Kantische
Gerichtshofvor-
stellung vom Gewissen. Wir dürfen nur nicht übersehen, daß
für
die Rede und somit auch den Ruf die stimmliche Verlautbarung
nicht wesentlich ist. Jedes Aussprechen und »Ausrufen« setzt
schon Rede voraus1. Wenn die alltägliche Auslegung eine
»Stimme« des Gewissens kennt, dann ist dabei nicht so sehr
an
eine Verlautbarung gedacht, die faktisch nie vorfindlich
wird,
sondern »Stimme« ist aufgefaßt als das Zu-verstehen-geben.
In
der Erschließungstendenz des Rufes liegt das Moment des
Stoßes,
des abgesetzten Aufrüttelns. Gerufen wird aus der Ferne in
die
Ferne. Vom Ruf getroffen wird, wer zurückgeholt sein will.
Mit dieser Kennzeichnung des Gewissens ist aber nur erst der
phänomenale Horizont für die Analyse seiner existenzialen
Struk-
tur umrissen. Das Phänomen wird nicht mit einem Ruf ver-
glichen, sondern als Rede aus der für das Dasein konsumtiven
Erschlossenheit verstanden. Die Betrachtung vermeidet von
Anfang an den Weg, der sich zunächst für eine Interpretation
des
Gewissens anbietet: man führt das Gewissen auf eines der
Seelen-
vermögen, Verstand, Wille oder Gefühl, zurück oder erklärt
es
als ein Mischprodukt aus diesen. Angesichts eines Phänomens
von der Art des Gewissens springt das
1 Vgl. § 34, S.
160 ff. 272
ontologisch-anthropologisch Unzureichende eines
freischweben-
den Rahmens von klassifizierten Seelenvermögen oder
personalen
Akten in die Augen1.
§ 56. Der Rufcharakter des Gewissens
Zur Rede gehört das beredete Worüber. Sie gibt über etwas
Aufschluß und das in bestimmter Hinsicht. Aus dem so
Beredeten
schöpft sie das, was sie je als diese Rede sagt, das
Geredete als
solches. In der Rede als Mitteilung wird es dem Mitdasein
Ande-
rer zugänglich, zumeist auf dem Wege der Verlautbarung in
der
Sprache.
Was ist im Ruf des Gewissens das Beredete, das heißt Angeru-
fene? Offenbar das Dasein selbst. Diese Antwort ist ebenso
unbe-
streitbar wie unbestimmt. Hätte der Ruf ein so vages Ziel,
dann
bliebe er allenfalls für das Dasein eine Veranlassung, auf
sich
aufzumerken. Zum Dasein gehört aber wesenhaft, daß es mit
der
Erschlossenheit seiner Welt ihm selbst erschlossen ist, so
daß es
sich immer schon versteht. Der Ruf trifft das Dasein in
diesem
alltäglich-durchschnittlich besorgenden Sich-immer-schon-verste-
hen. Das Man-selbst des besorgenden Mitseins mit Anderen
wird
vom Ruf getroffen.
1 Außer den Gewissensinterpretationen von Kant, Hegel
Schopenhauer und Nietzsche sind zu beachten: M. Kahler, Das
Gewissen, erster geschichtlicher Teil 1878, und der Artikel
desselben
Verfassers in der Realenzyklopädie f. prot. Theologie und
Kirche.
Ferner: A. Ritschl, Über das Gewissen, 1876, wieder
abgedruckt in den
Gesammelten Aufsätzen. Neue Folge 1896, S. 177 ff. Und
schließlich die
eben erschienene Monographie von H. G. Stoker, Das Gewissen.
(Schriften zur Philosophie und Soziologie, herausg. von Max
Scheler. Bd.
II.) 1925. Die breit angelegte Untersuchung stellt eine
reiche
Mannigfaltigkeit von Gewissensphänomenen ans Licht,
charakterisiert
kritisch die verschiedenen möglichen Behandlungsarten des
Phänomens
und verzeichnet weitere Literatur, die bezüglich der
Geschichte des
Gewissensbegriffes nicht vollständig ist. Von der obigen
existenzialen
Interpretation unterscheidet sich St.s. Monographie schon im
Ansatz
und damit auch in den Ergebnissen, ungeachtet mancher
Übereinstimmungen. St. unterschätzt von vornherein die
hermeneutischen Bedingungen für eine »Beschreibung« des
»objektiv
wirklich bestehenden Gewissens« S. 3. Damit geht die Verwischung
der
Grenzen zwischen Phänomenologie und Theologie – zum Schaden
beider
– zusammen. Bezüglich des anthropologischen Fundaments der
Untersuchung, die Schelers Personalismus übernimmt, vgl. die
vorliegende Abhandlung § 10, S. 47 ff. Die Monographie St.s.
bedeutet
gleichwohl einen beachtenswerten Fortschritt gegenüber der
bisherigen
Gewissensinterpretation, aber mehr durch die umfassende
Behandlung
der Gewissensphänomene und ihrer Verzweigungen als durch die
Aufweisung der ontologischen Wurzeln des Phänomens. 273
Und woraufhin wird es angerufen? Auf das eigene Selbst.
Nicht
daraufhin, was das Dasein im öffentlichen Miteinander gilt,
kann, besorgt, noch gar auf das, was es ergriffen, wofür es
sich
eingesetzt hat, wovon es sich hat mitnehmen lassen. Das
Dasein,
als welches es weltlich verstanden für die Anderen und sich
selbst
ist, wird in diesem Anruf übergangen. Der Ruf an das Selbst
nimmt hiervon nicht die mindeste Kenntnis. Weil nur das
Selbst
des Man-selbst angerufen und zum Hören gebracht wird, sinkt
das Man in sich zusammen. Daß der Ruf das Man und die öf-
fentliche Ausgelegtheit des Daseins übergeht, bedeutet
keines-
wegs, daß er es nicht mittrifft. Gerade im Übergehen stößt
er das
auf öffentliches Ansehen erpichte Man in die
Bedeutungslosig-
keit. Das Selbst aber wird, dieser Unterkunft und dieses
Verstecks
im Anruf beraubt, durch den Ruf zu ihm selbst gebracht.
Auf das Selbst wird das Man-selbst angerufen. Wenngleich
nicht das Selbst, das sich »Gegenstand« der Beurteilung
werden
kann, nicht das Selbst der aufgeregt-neugierigen und
haltlosen
Zergliederung seines »Innenlebens« und nicht das Selbst
einer
»analytischen« Begaffung von Seelenzuständen und ihrer
Hinter-
gründe. Der Anruf des Selbst im Man-selbst drängt es nicht
auf
sich selbst in ein Inneres, damit es sich vor der
»Außenwelt« ver-
schließen soll. All dergleichen überspringt der Ruf und
zerstreut
es, um einzig das Selbst anzurufen, das gleichwohl nicht
anders
ist als in der Weise des In-der-Welt-seins.
Wie sollen wir aber das Geredete dieser Rede bestimmen? Was
ruft das Gewissen dem Angerufenen zu? Streng genommen –
nichts. Der Ruf sagt nichts aus, gibt keine Auskunft über
Welter-
eignisse, hat nichts zu erzählen. Am wenigsten strebt er
darnach,
im angerufenen Selbst ein »Selbstgespräch« zu eröffnen. Dem
angerufenen Selbst wird »nichts« zu-gerufen, sondern es ist
auf-
gerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigensten
Seinkönnen.
Der Ruf stellt, seiner Ruftendenz entsprechend, das
angerufene
Selbst nicht zu einer »Verhandlung«, sondern als Aufruf zum
eigensten Selbstseinkönnen ist er ein
Vor-(nach-»vorne«-)Rufen
des Daseins in seine eigensten Möglichkeiten.
Der Ruf entbehrt jeglicher Verlautbarung. Er bringt sich gar
nicht erst zu Worten – und bleibt gleichwohl nichts weniger
als
dunkel und unbestimmt. Das Gewissen redet einzig und ständig
im Modus des Schweigens. So verliert es nicht nur nichts an
Ver-
nehmlichkeit, sondern zwingt das an- und aufgerufene Dasein
in
die Verschwiegenheit seiner selbst. Das Fehlen einer
wörtlichen
Formulierung des im Ruf 274
Gerufenen schiebt das Phänomen nicht in die Unbestimmtheit
einer geheimnisvollen Stimme, sondern zeigt nur an, daß das
Verstehen des »Gerufenen« sich nicht an die Erwartung einer
Mitteilung und dergleichen klammern darf.
Was der Ruf erschließt, ist trotzdem eindeutig, mag er auch
im
einzelnen Dasein gemäß seiner Verstehensmöglichkeiten eine
verschiedene Auslegung erfahren. Über der scheinbaren Unbe-
stimmtheit des Rufgehaltes kann nicht die sichere
Einschlagsrich-
tung des Rufes übersehen werden. Der Ruf bedarf nicht erst
eines
tastenden Suchens nach dem Anzurufenden, keines
Kennzeichens,
ob er der Gemeinte ist oder nicht. Die »Täuschungen«
entstehen
im Gewissen nicht durch ein Sichversehen (Sichver-rufen) des
Rufes, sondern erst aus der Art, wie der Ruf gehört wird –
dadurch, daß er, statt eigentlich verstanden zu werden, vom
Man-selbst in ein verhandelndes Selbstgespräch gezogen und
in
seiner Erschließungstendenz verkehrt wird.
Festzuhalten gilt es: der Ruf, als welchen wir das Gewissen
kennzeichnen, ist Anruf des Man-selbst in seinem Selbst; als
die-
ser Anruf der Aufruf des Selbst zu seinem Selbstseinkönnen
und
damit ein Vorrufen des Daseins auf seine Möglichkeiten.
Eine ontologisch zureichende Interpretation des Gewissens
gewinnen wir aber erst dann, wenn sich verdeutlichen läßt:
nicht
nur wer der vom Ruf Gerufene ist, sondern wer selbst ruft,
wie
der Angerufene zum Rufer sich verhält, wie dieses
»Verhältnis«
als Seinszusammenhang ontologisch gefaßt werden muß.
§ 57 Das Gewissen als Ruf der Sorge
Das Gewissen ruft das Selbst des Daseins auf aus der
Verloren-
heit in das Man. Das angerufene Selbst bleibt in seinem Was
unbestimmt und leer. Als was sich das Dasein zunächst und
zumeist versteht in der Auslegung aus dem Besorgten her,
wird
vom Ruf übergangen. Und doch ist das Selbst eindeutig und
unverwechselbar getroffen. Nicht nur der Angerufene wird vom
Ruf »ohne Ansehen seiner Person« gemeint, auch der Rufer
hält
sich in einer auffallenden Unbestimmtheit. Auf die Fragen
nach
Namen, Stand, Herkunft und Ansehen versagt er nicht nur die
Antwort, sondern gibt auch, obzwar er sich im Ruf keineswegs
verstellt, nicht die geringste Möglichkeit, ihn für ein
»weltlich«
orientiertes Daseinsverständnis vertraut zu machen. Der
Rufer
des Rufes – das gehört zu seinem phänomenalen Charakter –
hält
jedes Bekanntwerden schlechthin von sich fern. Es geht 275
wider die Art seines Seins, sich in ein Betrachten und
Bereden
ziehen zu lassen. Die eigentümliche Unbestimmtheit und Unbe-
stimmbarkeit des Rufers ist nicht nichts, sondern eine
positive
Auszeichnung. Sie bekundet, daß der Rufer einzig aufgeht im
Aufrufen zu ..., daß er nur als solcher gehört und ferner
nicht
beschwatzt sein will. Ist es dann aber nicht dem Phänomen
an-
gemessen, wenn die Frage an den Rufer, wer er sei,
unterbleibt?
Für das existenzielle Hören auf den faktischen Gewissensruf
wohl, nicht aber für die existenziale Analyse der Faktizität
des
Rufens und der Existenzialität des Hörens.
Besteht aber überhaupt eine Notwendigkeit, die Frage, wer
ruft, ausdrücklich noch zu stellen? Beantwortet sie sich für
das
Dasein nicht ebenso eindeutig wie die nach dem im Ruf
Angeru-
fenen? Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst. Dieses
Verständ-
nis des Rufers mag im faktischen Hören des Rufes mehr oder
minder wach sein. Ontologisch genügt jedoch die Antwort, das
Dasein sei der Rufer und der Angerufene zumal, keineswegs.
Ist
denn das Dasein als angerufenes nicht anders »da« denn als
rufendes? Fungiert etwa als Rufer das eigenste
Selbstseinkönnen?
Der Ruf wird ja gerade nicht und nie von uns selbst weder
geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen. »Es«
ruft,
wider Erwarten und gar wider Willen. Andererseits kommt der
Ruf zweifellos nicht von einem Anderen, der mit mir in der
Welt
ist. Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.
Dieser phänomenale Befund ist nicht wegzudeuten. Er wurde
denn auch zum Ansatz genommen für die Deutung der Stimme
als einer in das Dasein hereinragenden, fremden Macht. In
dieser
Auslegungsrichtung fortgehend, unterlegt man der
festgelegten
Macht einen Besitzer oder nimmt sie selbst als sich
bekundende
Person (Gott). Umgekehrt versucht man diese Deutung des
Rufers als fremde Machtäußerung zurückzuweisen und zugleich
das Gewissen überhaupt »biologisch« wegzuerklären. Beide
Deu-
tungen überspringen vorschnell den phänomenalen Befund.
Erleichtert wird das Verfahren durch eine unausgesprochen
lei-
tende, ontologisch dogmatische These: was ist, das heißt so
tat-
sächlich wie der Ruf, muß vorhanden sein; was sich nicht als
vorhanden objektiv nachweisen läßt, ist überhaupt nicht.
Dieser methodischen Voreiligkeit gegenüber gilt es, nicht
nur
den phänomenalen Befund überhaupt festzuhalten – daß der Ruf
aus mir über mich kommend an mich ergeht – sondern auch die
darin liegende ontologische Vor Zeichnung des Phänomens als
eines solchen des Da- 276
seins. Die existenziale Verfassung dieses Seienden kann den
einzi-
gen Leitfaden bieten für die Interpretation der Seinsart des
»es«,
das ruft.
Zeigt die bisherige Analyse der Seinsverfassung des Daseins
einen Weg, die Seinsart des Rufers und damit auch die des
Rufens
ontologisch verständlich zu machen? Daß der Ruf nicht aus-
drücklich von mir vollzogen wird, vielmehr »es« ruft,
berechtigt
noch nicht, den Rufer in einem nichtdaseinsmäßigen Seienden
zu
suchen. Dasein existiert doch je immer faktisch. Es ist kein
frei-
schwebendes Sichentwerfen, sondern durch die Geworfenheit
bestimmt als Faktum des Seienden, das es ist, wurde es je
schon
und bleibt es ständig der Existenz überantwortet. Die
Faktizität
des Daseins aber unterscheidet sich wesenhaft von der
Tatsäch-
lichkeit eines Vorhandenen. Das existierende Dasein begegnet
ihm selbst nicht als einem innerweltlich Vorhandenen. Die
Geworfenheit haftet aber auch dem Dasein nicht an als unzu-
gänglicher und für seine Existenz belangloser Charakter. Als
geworfenes ist es in die Existenz geworfen. Es existiert als
Seien-
des, das, wie es ist und sein kann, zu sein hat.
Daß es faktisch ist, mag hinsichtlich des Warum verborgen
sein, das »Daß« selbst jedoch ist dem Dasein erschlossen.
Die
Geworfenheit des Seienden gehört zur Erschlossenheit des
»Da«
und enthüllt sich ständig in der jeweiligen Befindlichkeit.
Diese
bringt das Dasein mehr oder minder ausdrücklich und eigentlich
vor sein »daß es ist und als das Seiende, das es ist,
seinkönnend
zu sein hat«. Zumeist aber verschließt die Stimmung die
Gewor-
fenheit. Das Dasein flieht vor dieser in die Erleichterung
der ver-
meintlichen Freiheit des Man-selbst. Diese Flucht wurde
gekenn-
zeichnet als Flucht vor der Unheimlichkeit, die das
vereinzelte In-
der-Welt-sein im Grunde bestimmt. Die Unheimlichkeit
enthüllt
sich eigentlich in der Grundbefindlichkeit der Angst und
stellt als
die elementarste Erschlossenheit des geworfenen Daseins
dessen
In-der-Welt-sein vor das Nichts der Welt, vor dem es sich
ängstet
in der Angst um das eigenste Seinkönnen. Wenn das im Grunde
seiner Unheimlichkeit sich befindende Dasein der Rufer des
Gewissensrufes wäre?
Dagegen spricht nichts, dafür aber all die Phänomene, die
bis-
lang zur Charakteristik des Rufers und seines Rufens
herausge-
stellt wurden.
Der Rufer ist in seinem Wer »weltlich« durch nichts bestimm-
bar. Er ist das Dasein in seiner Unheimlichkeit, das
ursprüngliche
geworfene In-der-Welt-sein als Un-zuhause, das nackte »Daß«
im
Nichts 277
der Welt. Der Rufer ist dem alltäglichen Man-selbst
unvertraut –
so etwas wie eine fremde Stimme. Was könnte dem Man, verlo-
ren in die besorgte, vielfältige »Welt«, fremder sein als
das in der
Unheimlichkeit auf sich vereinzelte, in das Nichts geworfene
Selbst? »Es« ruft und gibt gleichwohl für das besorgend
neugie-
rige Ohr nichts zu hören, was weitergesagt und öffentlich
beredet
werden möchte. Was soll aber das Dasein aus der
Unheimlichkeit
seines geworfenen Seins auch berichten? Was bleibt ihm
anderes
denn das in der Angst enthüllte Seinkönnen seiner selbst?
Wie
soll es anders rufen, denn als Aufrufen zu diesem
Seinkönnen,
darum es ihm einzig geht?
Der Ruf berichtet keine Begebenheiten, er ruft auch ohne
jede
Verlautbarung. Der Ruf redet im unheimlichen Modus des
Schweigens. Und dergestalt nur darum, weil der Ruf den
Angeru-
fenen nicht in das öffentliche Gerede des Man hinein-
sondern
aus diesem zuückruft in die Verschwiegenheit des existenten
Seinkönnens. Und worin gründet die unheimliche, doch nicht
selbstverständliche kalte Sicherheit, mit der der Rufer den
Ange-
rufenen trifft, wenn nicht darin, daß das in seiner Unheimlichkeit
auf sich vereinzelte Dasein für es selbst schlechthin
unverwech-
selbar ist? Was benimmt dem Dasein so radikal die
Möglichkeit,
sich anderswoher mißzuverstehen und zu verkennen, wenn nicht
die Verlassenheit in der Überlassenheit an es selbst?
Unheimlichkeit ist die obzwar alltäglich verdeckte Grundart
des In-der-Welt-seins. Das Dasein selbst ruft als Gewissen
aus
dem Grunde dieses Seins. Das »es ruft mich« ist eine
ausgezeich-
nete Rede des Daseins. Der durch die Angst gestimmte Ruf
ermöglicht dem Dasein allererst den Entwurf seiner selbst
auf
sein eigenstes Seinkönnen. Der existenzial verstandene
Gewis-
sensruf bekundet erst, was früher1 lediglich behauptet
wurde: die
Unheimlichkeit setzt dem Dasein nach und bedroht seine
selbst-
vergessene Verlorenheit.
Der Satz: Das Dasein ist der Rufer und der Angerufene zumal,
hat jetzt seine formale Leere und Selbstverständlichkeit
verloren.
Das Gewissen offenbart sich als Ruf der Sorge: der Rufer ist
das
Dasein, sich ängstigend in der Geworfenheit (Schon-sein-in
...)
um sein Seinkönnen. Der Angerufene ist eben dieses Dasein,
auf-
gerufen zu seinem eigensten Seinkönnen (Sich-vorweg ...).
Und
aufgerufen ist das Dasein durch den Anruf aus dem Verfallen
in
das Man (Schon-sein-bei der besorgten Welt). Der Ruf des
Gewissens, das heißt dieses selbst,
1 Vgl. § 40, S. 189. 278
hat seine ontologische Möglichkeit darin, daß das Dasein im
Grunde seines Seins Sorge ist.
So bedarf es denn keiner Zuflucht zu nichtdaseinsmäßigen
Mächten, zumal der Rückgang auf sie die Unheimlichkeit des
Rufes so wenig aufklärt, daß er sie vielmehr vernichtet.
Liegt der
Grund der abwegigen »Erklärungen« des Gewissens nicht am
Ende darin, daß man schon für die Fixierung des phänomenalen
Befundes des Rufes den Blick zu kurz genommen und
stillschwei-
gend das Dasein in einer zufälligen ontologischen
Bestimmtheit
bzw. Unbestimmtheit vorausgesetzt hat? Warum Auskunft bei
fremden Mächten suchen, bevor man sich dessen versichert hat,
daß im Ansatz der Analyse das Sein des Daseins nicht zu
nieder
eingeschätzt, das heißt als harmloses, irgendwie
vorkommendes
Subjekt, ausgestattet mit personalem Bewußtsein, angesetzt
wurde?
Und doch scheint in der Auslegung des Rufers – der weltlich
gesehen »Niemand« ist – als einer Macht die unvoreingenom-
mene Anerkennung eines »objektiv Vorfindlichen« zu liegen.
Aber recht besehen, ist diese Auslegung nur eine Flucht vor
dem
Gewissen, ein Ausweg des Daseins, auf dem es sich von der
dün-
nen Wand, die gleichsam das Man von der Unheimlichkeit
seines
Seins trennt, wegschleicht. Die genannte Auslegung des
Gewis-
sens gibt sich aus als Anerkennung des Rufes im Sinne einer
»all-
gemein«-verbindlichen Stimme, die »nicht bloß subjektiv«
spricht. Mehr noch, dieses »allgemeine« Gewissen wird zum
»Weltgewissen« aufgesteigert, das seinem phänomenalen
Charak-
ter nach ein »es« und »Niemand« ist, also doch das, was da
im
einzelnen »Subjekt« als dieses Unbestimmte spricht.
Aber dieses »öffentliche Gewissen« – was ist es anderes als
die
Stimme des Man? Auf die zweifelhafte Erfindung eines
»Weltge-
wissens« kann das Dasein nur kommen, weil das Gewissen im
Grunde und Wesen je meines ist. Und das nicht nur in dem
Sinne,
daß je das eigenste Seinkönnen angerufen wird, sondern weil
der
Ruf aus dem Seienden kommt, das ich je selbst bin.
Mit der vorstehenden Interpretation des Rufers, die rein dem
phänomenalen Charakter des Rufens folgt, wird die »Macht«
des
Gewissens nicht herabgemindert und »bloß subjektiv« gemacht.
Im Gegenteil: die Unerbittlichkeit und Eindeutigkeit des
Rufes
wird so erst frei. Die »Objektivität« des Anrufs erhält
dadurch
erst ihr Recht, daß die Interpretation ihm seine
»Subjektivität«
beläßt, die freilich dem Man-selbst die Herrschaft versagt
279
Gleichwohl wird man an die vollzogene Interpretation des
Gewissens als Ruf der Sorge die Gegenfrage stellen: kann
eine
Auslegung des Gewissens probehaltig sein, die sich so weit
von
der »natürlichen Erfahrung« entfernt? Wie soll das Gewissen
als
Aufrufer zum eigensten Seinkönnen fungieren, wo es doch
zunächst und zumeist nur rügt und warnt? Spricht das
Gewissen
so unbestimmt leer über ein eigenstes Seinkönnen und nicht
viel-
mehr bestimmt und konkret mit Bezug auf vorgefallene oder
vorgehabte Verfehlungen und Unterlassungen? Entstammt das
behauptete Anrufen dem »schlechten« Gewissen oder dem
»guten«? Gibt das Gewissen überhaupt etwas Positives,
fungiert
es nicht eher nur kritisch?
Das Recht solcher Bedenken ist nicht zu bestreiten. Von
einer
Interpretation des Gewissens kann verlangt werden, daß »man«
in ihr das fragliche Phänomen wiedererkennt, wie es
alltäglich
erfahren wird. Dieser Forderung genügen, heißt aber doch
wieder
nicht, das vulgäre ontische Gewissensverständnis als erste
Instanz
für eine ontologische Interpretation anerkennen.
Andererseits
aber sind die aufgeführten Bedenken solange verfrüht, als
die von
ihnen betroffene Analyse des Gewissens noch nicht ins Ziel ge-
bracht ist. Bisher wurde lediglich versucht, das Gewissen
als Phä-
nomen des Daseins auf die ontologische Verfassung dieses
Seien-
den zurückzuleiten. Das diente als Vorbereitung der Aufgabe,
das
Gewissen als eine im Dasein selbst liegende Bezeugung seines
eigensten Seinkönnens verständlich zu machen.
Was das Gewissen bezeugt, kommt aber erst dann zur vollen
Bestimmtheit, wenn hinreichend deutlich umgrenzt ist,
welchen
Charakter das dem Rufen genuin entsprechende Hören haben
muß. Das dem Ruf »folgende«, eigentliche Verstehen ist nicht
eine nur sich anschließende Zugabe zum Gewissensphänomen,
ein Vorgang, der sich einstellt oder auch ausbleiben kann.
Aus
dem Anrufverstehen und in eins mit ihm läßt sich erst das
volle
Gewissenserlebnis fassen. Wenn der Rufer und der Angerufene
je
das eigene Dasein zumal selbst ist, dann liegt in jedem
Überhören
des Rufes, in jedem Sich-verhören eine bestimmte Seinsart
des
Daseins. Ein freischwebender Ruf, auf den »nichts erfolgt«,
ist,
existenzial gesehen, eine unmögliche Fiktion. »Daß nichts
erfolgt«, bedeutet daseinsmäßig etwas Positives.
So kann denn auch erst die Analyse des Anrufverstehens zur
expliziten Erörterung dessen führen, was der Ruf zu
verstehen
gibt. Aber erst mit der vorausgegangenen allgemeinen
ontologi-
schen Charakteristik des Gewissens ist die Möglichkeit
gegeben,
das im Ge- 280
wissen gerufene »schuldig« existenzial zu begreifen. Alle
Gewis-
senserfahrungen und -auslegungen sind darin einig, daß die
»Stimme« des Gewissens irgendwie von »Schuld« spricht.
§ 58. Anrufverstehen und Schuld
Um das im Anrufverstehen Gehörte phänomenal zu fassen, gilt
es, erneut auf den Anruf zurückzugehen. Das Anrufen des Man-
selbst bedeutet Aufrufen des eigensten Selbst zu seinem
Seinkö-
nen und zwar als Dasein, das heißt besorgendes
In-der-Welt-sein
und Mitsein mit Anderen. Die existenziale Interpretation
dessen,
wozu der Ruf aufruft, kann daher, sofern sie sich in ihren
metho-
dischen Möglichkeiten und Aufgaben recht versteht, keine
kon-
krete einzelne Existenzmöglichkeit umgrenzen wollen. Nicht
das
je existenziell im jeweiligen Dasein in dieses Gerufene kann
und
will fixiert werden, sondern das, was zur existenzialen
Bedingung
der Möglichkeit des je faktisch-existenziellen Seinkönnens
gehört.
Das existenziell-hörende Verstehen des Rufes ist um so
eigent-
licher, je unbezüglicher das Dasein sein Angerufensein hört
und
versteht, je weniger das, was man sagt, was sich gehört und
gilt,
den Rufsinn verkehrt. Und was liegt wesenhaft in der
Eigentlich-
keit des Anrufverstehens? Was ist jeweilig im Ruf wesenhaft
zu
verstehen gegeben, wenngleich nicht immer faktisch
verstanden?
Dieser Frage haben wir schon die Antwort zugewiesen mit der
These: der Ruf »sagt« nichts, was zu bereden wäre, er gibt
keine
Kenntnis über Begebenheiten. Der Ruf weist das Dasein vor
auf
sein Seinkönnen und das als Ruf aus der Unheimlichkeit. Der
Rufer ist zwar unbestimmt – aber das Woher, aus dem er ruft,
bleibt für das Rufen nicht gleichgültig. Dieses Woher – die
Un-
heimlichkeit der geworfenen Vereinzelung – wird im Rufen
mit-
gerufen, das heißt miterschlossen. Das Woher des Rufens im
Vorrufen auf... ist das Wohin des Zurückrufens. Der Ruf gibt
kein ideales, allgemeines Seinkönnen zu verstehen; er
erschließt es
als das jeweilig vereinzelte des jeweiligen Daseins. Der Er-
schließungscharakter des Rufes wird erst voll bestimmt, wenn
wir
ihn als vorrufenden Rückruf verstehen. In der Orientierung
an
dem so gefaßten Ruf ist erst zu fragen, was er zu verstehen
gibt.
Wird aber die Frage nach dem, was der Ruf sagt, nicht
leichter
und sicherer beantwortet durch den »schlichten« Hinweis
darauf,
was durchgängig in allen Gewissenserfahrungen gehört bzw.
überhört 281
wird: daß der Ruf das Dasein als »schuldig« anspricht oder,
wie
im warnenden Gewissen, auf ein mögliches »schuldig« verweist
oder als »gutes« Gewissen ein »keiner Schuld bewußt«
bestätigt?
Wenn nur nicht dieses »übereinstimmend« erfahrene »schuldig«
in den Gewissenserfahrungen und -auslegungen so ganz
verschie-
den bestimmt wäre! Und selbst wenn der Sinn dieses
»schuldig«
sich einstimmig fassen ließe, der existenziale Begriff
dieses Schul-
digseins liegt im Dunkeln. Wenn jedoch das Dasein sich selbst
als
»schuldig« anspricht, woher soll die Idee der Schuld anders
geschöpft werden, es sei denn aus der Interpretation des
Seins des
Daseins? Doch erneut steht die Frage auf: wer sagt, wie wir
schuldig sind und was Schuld bedeutet? Die Idee der Schuld
kann
nicht willkürlich ausgedacht und dem Dasein aufgezwungen
wer-
den. Wenn aber überhaupt ein Verständnis des Wesens der
Schuld möglich ist, dann muß diese Möglichkeit im Dasein
vor-
gezeichnet sein. Wie sollen wir die Spur finden, die zur
Enthül-
lung des Phänomens führen kann? Alle ontologischen Unter-
suchungen von Phänomenen wie Schuld, Gewissen, Tod müssen
in dem ansetzen, was die alltägliche Daseinsauslegung
darüber
»sagt«. In der verfallenden Seinsart des Daseins liegt
zugleich,
daß seine Auslegung zumeist uneigentlich »orientiert« ist
und das
»Wesen« nicht trifft, weil ihm die ursprünglich angemessene
ontologische Fragestellung fremd bleibt. Aber in jedem
Fehlsehen
liegt mitenthüllt eine Anweisung auf die ursprüngliche
»Idee« des
Phänomens. Woher nehmen wir aber das Kriterium für den ur-
sprünglichen existenzialen Sinn des »schuldig«? Daraus, daß
dieses »schuldig« als Prädikat des »ich bin« auftaucht.
Liegt
etwa, was in uneigentlicher Auslegung als »Schuld«
verstanden
wird, im Sein des Daseins als solchem, so zwar, daß es
schon,
sofern es je faktisch existiert, auch schuldig ist?
Die Berufung auf das einstimmig gehörte „schuldig" ist
daher
noch nicht die Antwort auf die Frage nach dem existenzialen
Sinn
des im Ruf Gerufenen. Dieses muß erst zu seinem Begriff kom-
men, um verständlich machen zu können, was das gerufene
»schuldig« meint, warum und wie es durch die alltägliche
Ausle-
gung in seiner Bedeutung verkehrt wird.
Die alltägliche Verständigkeit nimmt das »Schuldigsein« zu-
nächst im Sinne von »schulden«, »bei einem etwas am Brett
ha-
ben«. Man soll dem Andern etwas zurückgeben, worauf er An-
spruch hat. Dieses »Schuldigsein« als »Schulden haben« ist
eine
Weise des Mitseins mit Anderen im Felde des Besorgens als
Beschaffen, Beibringen. Modi solchen Besorgens sind auch
Ent-
ziehen, Entleihen, Vorenthalten, Nehmen, Rauben, das heißt
dem
Besitzanspruch der Anderen in irgend- 282
einer Weise nicht genügen. Das Schuldigsein dieser Art ist
bezo-
gen auf Besorgbares.
Schuldigsein hat dann die weitere Bedeutung von »schuld sein
an«, das heißt Ursache-, Urheber-sein von etwas oder auch
»Ver-
anlassungsein« für etwas. Im Sinne dieses »Schuld habens« an
etwas kann man »schuldig sein«, ohne einem Andern etwas zu
»schulden« oder »schuldig« zu werden. Umgekehrt kann man
einem Andern etwas schulden, ohne selbst schuld daran zu
sein.
Ein Anderer kann bei Anderen »für mich« »Schulden machen«.
Diese vulgären Bedeutungen von Schuldigsein als »Schulden
haben bei...« und »Schuld haben an...« können zusammengehen
und ein Verhalten bestimmen, das wir nennen »sich schuldig
machen«, das heißt durch das Schuldhaben an einem Schulden-
haben ein Recht verletzen und sich strafbar machen. Die
Forde-
rung, der man nicht genügt, braucht jedoch nicht notwendig
auf
einen Besitz bezogen zu sein, sie kann das öffentliche
Miteinander
überhaupt regeln. Das so bestimmte »sich schuldig machen« in
der Rechtsverletzung kann aber zugleich den Charakter haben
eines »Schuldigwerdens an Anderen«. Das geschieht nicht
durch
die Rechtsverletzung als solche, sondern dadurch, daß ich
Schuld
habe daran, daß der Andere in seiner Existenz gefährdet,
irrege-
leitet oder gar gebrochen wird. Dieses Schuldigwerden an
Ande-
ren ist möglich ohne Verletzung des »öffentlichen« Gesetzes.
Der
formale Begriff des Schuldigseins im Sinne des
Schuldiggewor-
denseins am Andern läßt sich also bestimmen: Grundsein für
einen Mangel im Dasein eines Andern, so zwar, daß dieses
Grundsein selbst sich aus seinem Wofür als »mangelhaft«
bestimmt. Diese Mangelhaftigkeit ist das Ungenügen gegenüber
einer Forderung, die an das existierende Mitsein mit Anderen
ergeht.
Es bleibe dahingestellt, wie solche Forderungen entspringen,
und in welcher Weise auf Grund dieses Ursprungs ihr Forde-
rungs- und Gesetzescharakter begriffen werden muß. In jedem
Falle ist das Schuldigsein im letztgenannten Sinne als
Verletzung
einer »sittlichen Forderung« eine Seinsart des Daseins. Das
gilt
freilich auch vom Schuldigsein als »sich strafbar machen«,
als
»Schulden haben« und von jedem »Schuldhaben an...«. Auch das
sind Verhaltungen des Daseins. Faßt man das »beladen mit
sitt-
licher Schuld« als eine »Qualität« des Daseins, so wird
damit
wenig gesagt. Im Gegenteil, es wird dadurch nur offenbar,
daß
die Charakteristik nicht ausreicht, um diese Art einer
»Seinsbe-
stimmtheit« des Daseins gegen die vorigen Verhaltungen
ontolo-
gisch abzugrenzen. Der Begriff der sittlichen Schuld ist
denn auch
ontologisch so wenig geklärt, daß Auslegungen dieses Phä-
283
nomens herrschend werden konnten und blieben, die in seinen
Begriff auch die Idee der Strafwürdigkeit, ja sogar des
Schulden-
habens bei... einbeziehen oder selbst ihn aus diesen Ideen
heraus
bestimmen. Damit wird aber das »schuldig« wieder in den
Bezirk
des Besorgens im Sinne des ausgleichenden Verrechnens von
Ansprüchen abgedrängt.
Die Klärung des Schuldphänomens, das auf »Schuldenhaben«
und Rechtsverletzung nicht notwendig bezogen ist, kann nur
dann gelingen, wenn zuvor grundsätzlich nach dem
Schuldigsein
des Daseins gefragt, das heißt die Idee von »schuldig« aus
der
Seinsart des Daseins begriffen wird.
Zu diesem Zwecke muß die Idee von »schuldig« soweit forma-
lisiert werden, daß die auf das besorgende Mitsein mit
Anderen
bezogenen vulgären Schuldphänomene ausfallen. Die Idee der
Schuld muß nicht nur über den Bezirk des verrechnenden
Besor-
gens hinausgehoben, sondern auch abgelöst werden von dem
Bezug auf ein Sollen und Gesetz, wogegen sich verfehlend
jemand
Schuld auf sich lädt. Denn auch hier wird die Schuld
notwendig
noch als Mangel bestimmt, als Fehlen von etwas, was sein
soll
und kann. Fehlen besagt aber Nichtvorhandensein. Mangel als
Nichtvorhandensein eines Gesollten ist eine Seinsbestimmung
des
Vorhandenen. In diesem Sinne kann an der Existenz wesenhaft
nichts mangeln, nicht weil sie vollkommen wäre, sondern weil
ihr
Seinscharakter von aller Vorhandenheit unterschieden bleibt.
Gleichwohl liegt in der Idee von »schuldig« der Charakter
des
Nicht. Wenn das »schuldig« die Existenz soll bestimmen
können,
dann erwächst hiermit das ontologische Problem, den
Nicht-Cha-
rakter dieses Nicht existenzial aufzuklären. Ferner gehört
in die
Idee von »schuldig«, was sich im Schuldbegriff als »Schuld
haben
an« indifferent ausdrückt: das Grundsein für... . Die formal
exi-
stenziale Idee des »schuldig« bestimmen wir daher also:
Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das
heißt
Grundsein einer Nichtigkeit. Wenn die im existenzial
verstande-
nen Begriff der Schuld liegende Idee des Nicht die
Bezogenheit
auf ein mögliches bzw. gefordertes Vorhandenes ausschließt,
wenn mithin das Dasein überhaupt nicht an einem Vorhandenen
oder Geltenden gemessen werden soll, das es selbst nicht ist
oder
das nicht in seiner Weise ist, das heißt existiert, dann
entfällt
damit die Möglichkeit, mit Rücksicht auf das Grundsein für
einen Mangel das so Grundseiende selbst als »mangelhaft« zu
verrechnen. Es kann nicht schlechthin von einem daseinsmäßig
»verursachten« Mangel, der Nichterfüllung einer Forderung,
auf
die 284
Mangelhaftigkeit der »Ursache« zurückgerechnet werden. Das
Grundsein für... braucht nicht denselben Nichtcharakter zu
haben wie das in ihm gründende und aus ihm entspringende
Pri-
vativum. Der Grund braucht nicht erst seine Nichtigkeit von
seinem Begründeten zurückzuerhalten. Darin liegt aber dann:
Das Schuldigsein resultiert nicht erst aus einer
Verschuldung,
sondern umgekehrt: diese wird erst möglich »auf Grund« eines
ursprünglichen Schuldigseins. Kann ein solches im Sein des
Daseins aufgezeigt werden, und wie ist es existenzial
überhaupt
möglich?
Das Sein des Daseins ist die Sorge. Sie befaßt in sich
Faktizität
(Geworfenheit), Existenz (Entwurf) und Verfallen. Seiend ist
das
Dasein geworfenes, nicht von ihm selbst in sein Da gebracht.
Seiend ist es als Seinkönnen bestimmt, das sich selbst
gehört und
doch nicht als es selbst sich zu eigen gegeben hat.
Existierend
kommt es nie hinter seine Geworfenheit zurück, so daß es
dieses
»daß es ist und zu sein hat« je eigens erst aus seinem
Selbstsein
entlassen und in das Da führen könnte. Die Geworfenheit aber
liegt nicht hinter ihm als ein tatsächlich vorgefallenes und
vom
Dasein wieder losgefallenes Ereignis, das mit ihm geschah,
son-
dern das Dasein ist ständig – solange es ist – als Sorge
sein
»Daß«. Als dieses Seiende, dem überantwortet es einzig als
das
Seiende, das es ist, existieren kann, ist es existierend der
Grund
seines Seinkönnens. Ob es den Grund gleich selbst nicht
gelegt
hat, ruht es in seiner Schwere, die ihm die Stimmung als Last
offenbar macht.
Und wie ist es dieser geworfene Grund? Einzig so, daß es
sich
auf Möglichkeiten entwirft, in die es geworfen ist. Das
Selbst, das
als solches den Grund seiner selbst zu legen hat, kann
dessen nie
mächtig werden und hat doch existierend das Grundsein zu
übernehmen. Der eigene geworfene Grund zu sein, ist das
Sein-
können, darum es der Sorge geht.
Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt
das
Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es ist
nie
existent vor seinem Grunde, sondern je nur aus ihm und als
die-
ser. Grundsein besagt demnach, des eigensten Seins von Grund
auf nie mächtig sein. Dieses Nicht gehört zum existenzialen
Sinn
der Geworfenheit. Grundseiend ist es selbst eine Nichtigkeit
sei-
ner selbst. Nichtigkeit bedeutet keineswegs
Nichtvorhandensein,
Nichtbestehen, sondern meint ein Nicht, das dieses Sein des
Da-
seins, seine Geworfenheit, konstituiert. Der Nichtcharakter
dieses
Nicht bestimmt sich existenzial: Selbst seiend ist das
Dasein das
geworfene Seiende als Selbst. Nicht durch 285
es selbst, sondern an es selbst entlassen aus dem Grunde, um
als
dieser zu sein. Das Dasein ist nicht insofern selbst der
Grund
seines Seins, als dieser aus eigenem Entwurf erst
entspringt, wohl
aber ist es als Selbstsein das Sein des Grundes. Dieser ist
immer
nur Grund eines Seienden, dessen Sein das Grundsein zu über-
nehmen hat.
Das Dasein ist sein Grund existierend, das heißt so, daß es
sich
aus Möglichkeiten versteht und dergestalt sich verstehend
das
geworfene Seiende ist. Darin liegt aber: seinkönnend steht
es je in
der einen oder anderen Möglichkeit, ständig ist es eine
andere
nicht und hat sich ihrer im existenziellen Entwurf begeben. Der
Entwurf ist nicht nur als je geworfener durch die
Nichtigkeit des
Grundseins bestimmt, sondern als Entwurf selbst wesenhaft
nich-
tig. Diese Bestimmung meint wiederum keineswegs die ontische
Eigenschaft des »erfolglos« oder »unwertig«, sondern ein exi-
stenziales Konstitutivum der Seinsstruktur des Entwerfens.
Die
gemeinte Nichtigkeit gehört zum Freisein des Daseins für
seine
existenziellen Möglichkeiten. Die Freiheit aber ist nur in
der
Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens
und Nichtauchwählenkönnens der anderen.
In der Struktur der Geworfenheit sowohl wie in der des Ent-
wurfs liegt wesenhaft eine Nichtigkeit. Und sie ist der
Grund für
die Möglichkeit der Nichtigkeit des uneigentlichen Daseins
im
Verfallen, als welches es je schon immer faktisch ist. Die
Sorge
selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit
durch-
setzt. Die Sorge – das Sein des Daseins – besagt demnach als
geworfener Entwurf: Das (nichtige) Grund-sein einer
Nichtigkeit.
Und das bedeutet: Das Dasein ist als solches schuldig, wenn
anders die formale existenziale Bestimmung der Schuld als
Grundsein einer Nichtigkeit zurecht besteht.
Die existenziale Nichtigkeit hat keineswegs den Charakter
einer
Privation, eines Mangels gegenüber einem ausgesteckten
Ideal,
das im Dasein nicht erreicht wird, sondern das Sein dieses
Seien-
den ist vor allem, was es entwerfen kann und meist erreicht,
als
Entwerfen schon nichtig. Diese Nichtigkeit tritt daher auch
nicht
gelegentlich am Dasein auf, um an ihm als dunkle Qualität zu
haften, die es, weit genug fortgeschritten, beseitigen
könnte.
Trotzdem bleibt der ontologische Sinn der Nichtheit dieser
exi-
stenzialen Nichtigkeit noch dunkel. Aber das gilt auch vom
ontologischen Wesen des Nicht überhaupt. Zwar hat die
Ontolo-
gie und Logik dem Nicht viel zugemutet und dadurch strecken-
weise seine Möglichkeiten sichtbar gemacht, ohne es selbst
ontologisch zu enthüllen. Die Ontologie fand das Nicht vor
und
machte Gebrauch davon. Ist es 286
denn aber so selbstverständlich, daß jedes Nicht ein
Negativum
im Sinne eines Mangels bedeutet? Ist seine Positivität darin
erschöpft, daß es den »Übergang« konstituiert? Warum nimmt
alle Dialektik zur Negation ihre Zuflucht, ohne dergleichen
selbst
dialektisch zu begründen, ja auch nur als Problem fixieren
zu
können? Hat man überhaupt je den ontologischen Ursprung der
Nichtheit zum Problem gemacht oder vordem auch nur nach den
Bedingungen gesucht, auf deren Grund das Problem des Nicht
und seiner Nichtheit und deren Möglichkeit sich stellen
läßt? Und
wo sollen sie anders zu finden sein als in der thematischen
Klärung des Sinnes von Sein überhaupt?
Schon für die ontologische Interpretation des Schuldphäno-
mens reichen die überdies wenig durchsichtigen Begriffe von
Pri-
vation und Mangel nicht aus, wenngleich sie hinreichend
formal
gefaßt eine weitgehende Verwendung zulassen. Am allerwe-
nigsten ist dem existenzialen Phänomen der Schuld näherzu-
kommen durch die Orientierung an der Idee des Bösen, des ma-
lum als privatio boni. Wie denn das bonum und die privatio
die-
selbe ontologische Herkunft aus der Ontologie des
Vorhandenen
haben, die auch der daraus »abgezogenen« Idee des »Wertes«
zukommt.
Seiendes, dessen Sein Sorge ist, kann sich nicht nur mit
fakti-
scher Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins
schul-
dig, welches Schuldigsein allererst die ontologische
Bedingung
dafür gibt, daß das Dasein faktisch existierend schuldig
werden
kann. Dieses wesenhafte Schuldigsein ist gleichursprünglich
die
existenziale Bedingung der Möglichkeit für das »moralisch«
Gute
und Böse, das heißt für die Moralität überhaupt und deren
fak-
tisch mögliche Ausformungen. Durch die Moralität kann das
ursprüngliche Schuldigsein nicht bestimmt werden, weil sie
es für
sich selbst schon voraussetzt.
Aber welche Erfahrung spricht für dieses ursprüngliche
Schul-
digsein des Daseins? Man vergesse jedoch die Gegenfrage
nicht:
»ist« Schuld nur »da«, wenn ein Schuldbewußtsein wach wird,
oder bekundet sich darin, daß die Schuld »schläft«, nicht
gerade
das ursprüngliche Schuldigsein? Daß dieses zunächst und
zumeist
unerschlossen bleibt, durch das verfallende Sein des Daseins
ver-
schlossen gehalten wird, enthüllt nur die besagte
Nichtigkeit.
Ursprünglicher als jedes Wissen darum ist das Schuldigsein.
Und
nur weil das Dasein im Grunde seines Seins schuldig ist und
als
geworfen verfallendes sich ihm selbst verschließt, ist das
Gewis-
sen möglich, wenn anders der Ruf dieses Schuldigsein im
Grunde
zu verstehen gibt.
Der Ruf ist Ruf der Sorge. Das Schuldigsein konstituiert das
Sein, das wir Sorge nennen. In der Unheimlichkeit steht das
Dasein ur- 287
sprünglich mit sich selbst zusammen. Sie bringt dieses Seiende
vor
seine unverstellte Nichtigkeit, die zur Möglichkeit seines
ei-
gensten Seinkönnens gehört. Sofern es dem Dasein – als Sorge
–
um sein Sein geht, ruft es aus der Unheimlichkeit sich
selbst als
faktisch-verfallendes Man auf zu seinem Seinkönnen. Der
Anruf
ist vorrufender _ Rückruf, vor: in die Möglichkeit, selbst
das
geworfene Seiende, das es ist, existierend zu übernehmen,
zurück:
in die Geworfenheit, um sie als den nichtigen Grund zu
verste-
hen, den es in die Existenz aufzunehmen hat. Der vorrufende
Rückruf des Gewissens gibt dem Dasein zu verstehen, daß es –
nichtiger Grund seines nichtigen Entwurfs in der Möglichkeit
seines Seins stehend – aus der Verlorenheit in das Man sich
zu
ihm selbst zurückholen soll, das heißt schuldig ist.
Was sich das Dasein dergestalt zu verstehen gibt, wäre dann
doch eine Kenntnis von ihm selbst. Und das solchem Ruf ent-
sprechende Hören wäre eine Kenntnisnahme des Faktums
»schuldig«. Soll aber gar der Ruf den Charakter des
Aufrufens
haben, führt dann diese Auslegung des Gewissens nicht zu
einer
vollendeten Verkehrung der Gewissensfunktion? Aufrufen zum
Schuldigsein, sagt das nicht Aufruf zur Bosheit?
Diesen Rufsinn wird auch die gewaltsamste Interpretation dem
Gewissen nicht aufbürden wollen. Was soll aber dann
»Aufrufen
zum Schuldigsein« noch besagen?
Der Rufsinn wird deutlich, wenn das Verständnis, statt den
ab-
geleiteten Begriff der Schuld im Sinne der durch eine Tat
oder
Unterlassung »entstandenen« Verschuldung zu unterlegen, sich
an den existenzialen Sinn des Schuldigseins hält. Das zu
fordern,
ist nicht Willkür, wenn der Ruf des Gewissens, aus dem
Dasein
selbst kommend, einzig an dieses Seiende sich richtet. Dann
bedeutet aber das Aufrufen zum Schuldigsein ein Vorrufen auf
das Seinkönnen, das ich je schon als Dasein bin. Dieses
Seiende
braucht sich nicht erst durch Verfehlungen oder
Unterlassungen
eine »Schuld« aufzuladen, es soll nur das »schuldig« – als
wel-
ches es ist – eigentlich sein.
Das rechte Hören des Anrufs kommt dann gleich einem Sich-
verstehen in seinem eigensten Seinkönnen, das heißt dem
Sichentwerfen auf das eigenste eigentliche
Schuldigwerdenkön-
nen. Das verstehende Sichvorrufenlassen auf diese
Möglichkeit
schließt in sich das Freiwerden des Daseins für den Ruf: die
Be-
reitschaft für das Angerufenwerdenkönnen. Das Dasein ist
ruf-
verstehend hörig seiner eigensten Existenzmöglichkeit. Es
hat sich
selbst gewählt. 288
Mit dieser Wahl ermöglicht sich das Dasein sein eigenstes
Schuldigsein, das dem Man-selbst verschlossen bleibt. Die
Ver-
ständigkeit des Man kennt nur Genügen und Ungenügen hin-
sichtlich der handlichen Regel und öffentlichen Norm.
Verstöße
dagegen verrechnet es und sucht Ausgleiche. Vom eigensten
Schuldigsein hat es sich fortgeschlichen, um desto lauter
Fehler zu
bereden. Im Anruf aber wird das Man-selbst auf das eigenste
Schuldigsein des Selbst angerufen. Das Rufverstehen ist das
Wählen – nicht des Gewissens, das als solches nicht gewählt
wer-
den kann. Gewählt wird das Gewissen-haben als Freisein für
das
eigenste Schuldigsein. Anrufverstehen besagt:
Gewissen-haben-
wollen.
Damit ist nicht gemeint: ein »gutes Gewissen« haben wollen,
ebensowenig eine willentliche Pflege des Rufes, sondern
einzig
Bereitschaft für das Angerufenwerden. Das Gewissen-haben-
wollen steht einem Aufsuchen faktischer Verschuldungen
ebenso
fern wie der Tendenz zu einer Befreiung von der Schuld im
Sinne
des wesenhaften »schuldig«.
Das Gewissen-haben-wollen ist vielmehr die ursprünglichste
existenzielle Voraussetzung für die Möglichkeit des
faktischen
Schuldigwerdens. Rufverstehend läßt das Dasein das eigenste
Selbst aus seinem gewählten Seinkönnen in sich handeln. Nur
so
kann es verantwortlich sein. Jedes Handeln aber ist faktisch
not-
wendig »gewissenlos«, nicht nur weil es faktische moralische
Verschuldung nicht vermeidet, sondern weil es auf dem
nichtigen
Grunde seines nichtigen Entwerfens je schon im Mitsein mit
Andern an ihnen schuldig geworden ist. So wird das Gewissen-
haben-wollen zur Übernahme der wesenhaften
Gewissenlosigkeit,
innerhalb der allein die existenzielle Möglichkeit besteht,
»gut«
zu sein.
Ob der Ruf gleich nichts zur Kenntnis gibt, so ist er doch
nicht
nur kritisch, sondern positiv; er erschließt das
ursprünglichste
Seinkönnen des Daseins als Schuldigsein. Das Gewissen
offenbart
sich demnach als eine zum Sein des Daseins gehörende Bezeu-
gung, in der es dieses selbst vor sein eigenstes Seinkönnen
ruft.
Läßt sich das so bezeugte eigentliche Seinkönnen existenzial
kon-
kreter bestimmen? Vorgängig erhebt sich die Frage: kann die
vollzogene Herausstellung eines im Dasein selbst bezeugten
Sein-
könnens eine zureichende Evidenz beanspruchen, solange das
Befremden nicht geschwunden ist, daß hier das Gewissen
einseitig
auf die Daseinsverfassung zurückinterpretiert wurde mit
voreili-
ger Übergehung all der Befunde, die der vulgären
Gewissensaus-
legung bekannt sind? Läßt sich denn in der vorstehenden
Inter-
pretation das Gewissensphänomen so, wie es »wirk- 289
lich« ist, überhaupt noch wiedererkennen? Wurde da nicht mit
allzu sicherem Freimut aus der Seinsverfassung des Daseins
eine
Idee von Gewissen deduziert?
Um dem letzten Schritt der Gewissensinterpretation, der exi-
stenzialen Umgrenzung des im Gewissen bezeugten eigentlichen
Seinkönnens, auch für das vulgäre Gewissensverständnis den
Zugang zu sichern, bedarf es der ausdrücklichen Nachweisung
des Zusammenhangs der Ergebnisse der ontologischen Analyse
mit den alltäglichen Gewissenserfahrungen.
§ 59. Die existenziale Interpretation des Gewissens und die
vulgäre Gewissensauslegung
Das Gewissen ist der Ruf der Sorge aus der Unheimlichkeit
des
In-der-Welt-seins, der das Dasein zum eigensten
Schuldigsein-
können aufruft. Als entsprechendes Verstehen des Anrufs
ergab
sich das Gewissen-haben-wollen. Beide Bestimmungen lassen
sich
nicht ohne weiteres mit der vulgären Gewissensauslegung in
Ein-
klang bringen. Sie scheinen ihr sogar direkt zu
widerstreiten.
Vulgär nennen wir die Gewissensauslegung, weil sie sich bei
der
Charakteristik des Phänomens und der Kennzeichnung seiner
»Funktion« an das hält, was man als Gewissen kennt, wie man
ihm folgt bzw. nicht folgt.
Aber muß denn die ontologische Interpretation überhaupt mit
der vulgären Auslegung übereinstimmen? Trifft diese nicht
ein
grundsätzlicher ontologischer Verdacht? Wenn sich das Dasein
zunächst und zumeist aus dem Besorgten her versteht und seine
Verhaltungen alle als Besorgen auslegt, wird es dann nicht
gerade
die Weise seines Seins verfallend-verdeckend auslegen, die
es als
Ruf aus der Verlorenheit in die Besorgnisse des Man
zurückholen
will? Die Alltäglichkeit nimmt das Dasein als ein
Zuhandenes,
das besorgt, das heißt verwaltet und verrechnet wird. Das
»Leben« ist ein »Geschäft«, gleichviel ob es seine Kosten
deckt
oder nicht.
Und so besteht denn mit Rücksicht auf die vulgäre Seinsart
des
Daseins selbst keine Gewähr, daß die ihr entspringende
Gewis-
sensauslegung und die an dieser orientierten
Gewissenstheorien
für ihre Interpretation den angemessenen ontologischen
Horizont
gewonnen haben. Trotzdem muß auch die vulgäre Gewissenser-
fahrung das Phänomen irgendwie – vorontologisch – treffen.
Daraus folgt ein Doppeltes: die alltägliche
Gewissensauslegung
kann einerseits nicht als letztes Kriterium gelten für die
»Objekti-
vität« einer ontologischen Analyse. Diese 290
hat andererseits kein Recht, sich über das alltägliche
Gewissens-
verständnis hinwegzusetzen und die darauf gegründeten
anthro-
pologischen, psychologischen und theologischen
Gewissenstheo-
rien zu übergehen. Wenn die existenziale Analyse das
Gewissens-
phänomen in seiner ontologischen Verwurzelung freigelegt
hat,
müssen gerade aus ihr die vulgären Auslegungen verständlich
werden, nicht zuletzt in dem, worin sie das Phänomen
verfehlen,
und warum sie es verdecken. Da jedoch die Gewissensanalyse
im
Problemzusammenhang dieser Abhandlung nur im Dienste der
ontologischen Fundamentalfrage steht, muß sich die Charakte-
ristik des Zusammenhangs zwischen existenzialer Gewissensin-
terpretation und vulgärer Gewissensauslegung mit einem
Hinweis
auf die wesentlichen Probleme begnügen.
Was die vulgäre Gewissensauslegung gegen die vorgelegte
Interpretation des Gewissens als Aufruf der Sorge zum
Schuldig-
sein einwenden möchte, ist ein Vierfaches; 1. Das Gewissen
hat
wesentlich kritische Funktion. 2. Das Gewissen spricht je
relativ
auf eine bestimmte vollzogene oder gewollte Tat. 3. Die
»Stimme« ist erfahrungsgemäß nie so wurzelhaft auf das Sein
des
Daseins bezogen. 4. Die Interpretation trägt den Grundformen
des Phänomens, dem »bösen« und »guten«, dem »rügenden« und
»warnenden« Gewissen, keine Rechnung.
Die Erörterung beginne mit dem zuletzt genannten Bedenken.
In allen Gewissensauslegungen hat das »böse«, »schlechte«
Gewissen den Vorrang. Gewissen ist primär »böses«. Darin
bekundet sich, daß alle Gewissenserfahrung so etwas wie ein
»schuldig« zuerst erfährt. Wie wird aber in der Idee des
schlech-
ten Gewissens die Bekundung des Böseseins verstanden? Das
»Gewissenserlebnis« taucht auf nach der vollzogenen Tat bzw.
Unterlassung. Die Stimme folgt dem Vergehen nach und weist
zurück auf das vorgefallene Ereignis, wodurch sich das
Dasein
mit Schuld beladen hat. Wenn das Gewissen ein »Schuldigsein«
bekundet, dann kann sich das nicht vollziehen als Aufruf
zu...,
sondern als erinnerndes Verweisen auf die zugezogene Schuld.
Aber schließt die »Tatsache« des Nachkommens der Stimme
aus, daß der Ruf nicht doch im Grunde ein Vorrufen ist? Daß
die
Stimme als nachfolgende Gewissensregung gefaßt wird, beweist
noch nicht ein ursprüngliches Verstehen des Gewissensphäno-
mens. Wenn die faktische Verschuldung nur die Veranlassung
für
das faktische Rufen des Gewissens wäre? Wenn die
gekennzeich-
nete Interpretation des »bösen« Gewissens auf halbem Wege
stehen bliebe? Daß dem so ist, erhellt aus der ontologischen
Vor-
habe, in die das Phänomen mit der genannten Interpretation
gebracht wird. Die Stimme ist etwas, das auftaucht, 291
in der Abfolge der vorhandenen Erlebnisse seine Stelle hat
und
dem Erlebnis der Tat nachfolgt. Aber weder der Ruf noch die
geschehene Tat noch die aufgeladene Schuld sind Vorkommnisse
vom Charakter des Vorhandenen, das abläuft. Der Ruf hat die
Seinsart der Sorge. In ihm »ist« das Dasein sich selbst
vorweg, so
zwar, daß es sich zugleich zurückrichtet auf seine
Geworfenheit.
Nur der nächste Ansatz des Daseins als Abfolgezusammenhang
eines Nacheinander von Erlebnissen ermöglicht es, die Stimme
als
etwas Nachkommendes, Späteres und daher notwendig Zurück-
verweisendes zu nehmen. Die Stimme ruft wohl zurück, aber
über
die geschehene Tat zurück in das geworfene Schuldigsein, das
»früher« ist als jede Verschuldung. Der Rückruf ruft aber
zugleich vor auf das Schuldigsein als in der eigenen
Existenz zu
ergreifendes, so daß das eigentliche existenzielle
Schuldigsein
gerade erst dem Ruf »nachfolgt«, nicht umgekehrt. Das
schlechte
Gewissen ist im Grunde so wenig nur rügend-rückweisend, daß
es eher vorweisend in die Geworfenheit zurückruft. Die
Folge-
ordnung ablaufender Erlebnisse gibt nicht die phänomenale
Struktur des Existierens.
Wenn schon die Charakteristik des »schlechten« Gewissens das
ursprüngliche Phänomen nicht erreicht, dann gilt das noch
mehr
von der des »guten«, mag man es als eine selbständige Gewis-
sensform nehmen oder als eine in dem »schlechten« wesenhaft
fundierte. Das »gute« Gewissen müßte, entsprechend wie das
»schlechte« ein »Bösesein«, das »Gutsein« des Daseins
kundge-
ben. Man sieht leicht, daß damit das Gewissen, vordem der
»Ausfluß der göttlichen Macht«, jetzt zum Knecht des
Pharisäis-
mus wird. Es soll den Menschen von sich sagen lassen: »ich
bin
gut«; wer kann das sagen, und wer wollte es weniger sich
bestäti-
gen als gerade der Gute? An dieser unmöglichen Konsequenz
der
Idee des guten Gewissens kommt aber nur zum Vorschein, daß
das Gewissen ein Schuldigsein ruft.
Um der genannten Konsequenz zu entgehen, hat man das
»gute« Gewissen als Privation des »schlechten« interpretiert
und
als »erlebten Mangel des schlechten Gewissens« bestimmt1.
Dem-
nach wäre es ein Erfahren des Nichtauftauchens des Rufes,
das
heißt dessen, daß ich mir nichts vorzuwerfen habe. Aber wie
ist
dieser »Mangel« »erlebt«? Das vermeintliche Erleben ist
über-
haupt kein Erfahren eines Rufes, sondern das
Sichvergewissern,
daß eine dem Dasein zugesprochene Tat von ihm nicht begangen
wurde und es deshalb unschuldig
1 Vgl. M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die
materiale
Wertethik. II. Teil. Dieses Jahrbuch Bd. II (1916), S. 192.
292
ist. Das Gewißwerden des Nichtgetanhabens hat überhaupt
nicht
den Charakter eines Gewissensphänomens. Im Gegenteil: dieses
Gewißwerden kann eher ein Vergessen des Gewissens bedeuten,
das heißt das Heraustreten aus der Möglichkeit, angerufen
wer-
den zu können. Die genannte »Gewißheit« birgt das
beruhigende
Niederhalten des Gewissenhabenwollens in sich, das heißt des
Verstehens des eigensten, ständigen Schuldigseins. Das
»gute«
Gewissen ist weder eine selbständige noch eine fundierte
Gewis-
sensform, das heißt überhaupt kein Gewissensphänomen.
Sofern die Rede von einem »guten« Gewissen der Gewissenser-
fahrung des alltäglichen Daseins entspringt, verrät dieses
damit
nur, daß es, auch wenn es vom »schlechten« Gewissen spricht,
das Phänomen im Grunde nicht trifft. Denn faktisch
orientiert
sich die Idee des »schlechten« an der des »guten« Gewissens.
Die
alltägliche Auslegung hält sich in der Dimension des
besorgenden
Verrechnens und Ausgleichens von »Schuld« und »Unschuld«. In
diesem Horizont wird dann die Gewissensstimme »erlebt«.
Mit der Charakteristik der Ursprünglichkeit der Ideen eines
»schlechten« und »guten« Gewissens ist auch schon über die
Unterscheidung eines vorweisend-warnenden und eines rückwei-
send-rügenden Gewissens entschieden. Zwar scheint die Idee
des
warnenden Gewissens dem Phänomen des Aufrufs zu... am
nächsten zu kommen. Es teilt mit diesem den Charakter der
Vorweisung. Aber diese Zusammenstimmung ist doch nur
Schein. Die Erfahrung eines warnenden Gewissens sieht die
Stimme wiederum nur orientiert auf die gewollte Tat, vor der
sie
bewahren will. Die Warnung, als Unterbindung des Gewollten,
ist aber nur deshalb möglich, weil der »warnende« Ruf auf
das
Seinkönnen des Daseins zielt, das ist auf das Sichverstehen
im
Schuldigsein, an dem erst das »Gewollte« zerbricht. Das war-
nende Gewissen hat die Funktion der momentweisen Regelung
eines Freibleibens von Verschuldungen. Die Erfahrung eines
»warnenden« Gewissens sieht nur wieder die Ruftendenz des
Gewissens so weit, als sie für die Verständigkeit des Man
zugänglich bleibt.
Das an dritter Stelle genannte Bedenken beruft sich darauf,
daß
die alltägliche Gewissenserfahrung so etwas wie ein
Aufgerufen-
werden zum Schuldigsein nicht kennt. Das muß zugegeben wer-
den. Verbürgt die alltägliche Gewissenserfahrung aber damit
schon, daß in ihr der volle mögliche Rufgehalt der
Gewissens-
stimme gehört ist? Folgt daraus, daß die auf die vulgäre
Gewis-
senserfahrung gegründeten Gewissenstheorien für die Analyse
des
Phänomens sich des ange- 293
messenen ontologischen Horizonts vergewissert haben? Zeigt
nicht vielmehr eine wesenhafte Seinsart des Daseins, das
Verfal-
len, daß sich dieses Seiende zunächst und zumeist ontisch
aus
dem Horizont des Besorgens versteht, ontologisch aber das
Sein
im Sinne von Vorhandenheit bestimmt? Daraus erwächst aber
eine zweifache Verdeckung des Phänomens: Die Theorie sieht
eine in ihrer Seinsart zumeist sogar ganz unbestimmte
Abfolge
von Erlebnissen oder »psychischen Vorgängen«. Der Erfahrung
begegnet das Gewissen als Richter und Mahner, mit dem das
Dasein rechnend verhandelt.
Daß Kant seiner Gewissensinterpretation die »Gerichtshofvor-
stellung« als Leitidee zugrundelegt, ist nicht zufällig,
sondern
durch die Idee des Sittengesetzes nahegelegt – wenngleich
sein
Begriff der Moralität von Nützlichkeitsmoral und Eudaimonis-
mus weit entfernt bleibt. Auch die Werttheorie, mag sie
formal
oder material angesetzt sein, hat eine »Metaphysik der
Sitten«,
das heißt Ontologie des Daseins und der Existenz zur
unausge-
sprochenen ontologischen Voraussetzung. Das Dasein gilt als
Seiendes, das zu besorgen ist, welches Besorgen den Sinn der
»Wertverwirklichung« bzw. Normerfüllung hat.
Die Berufung auf den Umkreis dessen, was die alltägliche
Gewissenserfahrung als einzige Instanz für die
Gewissensinterpre-
tation kennt, wird sich erst dann ins Recht setzen können,
wenn
sie zuvor bedacht hat, ob in ihr das Gewissen überhaupt eigent-
lich zugänglich werden kann.
Damit verliert auch der weitere Einwand seine Kraft, die
exi-
stenziale Interpretation übersähe, daß sich der Gewissensruf
je
auf eine bestimmte »verwirklichte« oder gewollte Tat
beziehe.
Daß der Ruf häufig in solcher Ruftendenz erfahren wird, kann
wiederum nicht geleugnet werden. Die Frage bleibt nur, ob
diese
Ruferfahrung den Ruf sich völlig »ausrufen« läßt. Die
verstän-
dige Auslegung mag vermeinen, sich an die »Tatsachen« zu
hal-
ten, und hat am Ende doch schon durch ihre Verständigkeit
die
Erschließungstragweite des Rufes eingeschränkt. So wenig das
»gute« Gewissen sich in den Dienst eines »Pharisäismus«
stellen
läßt, so wenig darf die Funktion des »schlechten« Gewissens
herabgedrückt werden auf ein Anzeigen vorhandener oder ein
Abdrängen möglicher Verschuldungen. Gleich als wäre das
Dasein ein »Haushalt«, dessen Verschuldungen nur ordentlich
ausgeglichen zu werden brauchen, damit das Selbst als
unbeteilig-
ter Zuschauer »neben« diesen Erlebnisabläufen stehen kann.
Wenn aber für den Ruf die Bezogenheit auf faktisch »vorhan-
dene« Schuld oder faktisch gewollte schuldbare Tat nicht
primär
ist und da- 294
her das »rügende« und »warnende« Gewissen keine ursprüng-
lichen Ruffunktionen ausdrücken, dann wird damit auch dem
erstgenannten Bedenken der Boden entzogen, die existenziale
Interpretation verkenne die »wesentlich« kritische Leistung
des
Gewissens. Auch dieses Bedenken entspringt einer in gewissen
Grenzen echten Sicht auf das Phänomen. Denn in der Tat läßt
sich im Rufgehalt nichts aufweisen, was die Stimme »positiv«
empfiehlt und gebietet. Aber wie wird diese vermißte
Positivität
der Gewissensleistung verstanden? Folgt aus ihr der
»negative«
Charakter des Gewissens?
Vermißt wird ein »positiver« Gehalt im Gerufenen aus der
Erwartung einer jeweilig brauchbaren Angabe verfügbarer und
berechenbarer sicherer Möglichkeiten des »Handelns«. Diese
Erwartung gründet im Auslegungshorizont des verständigen
Besorgens, der das Existieren des Daseins unter die Idee
eines
regelbaren Geschäftsganges zwingt. Solche Erwartungen, die
zum
Teil auch der Forderung einer materialen Wertethik gegenüber
einer »nur« formalen unausgesprochen zugrundeliegen, werden
allerdings durch das Gewissen enttäuscht. Dergleichen »prak-
tische« Anweisungen gibt der Gewissensruf nicht, einzig
deshalb,
weil er das Dasein zur Existenz, zum eigensten
Selbstseinkönnen,
aufruft. Mit den erwarteten, eindeutig verrechenbaren
Maximen
würde das Gewissen der Existenz nichts Geringeres versagen
als –
die Möglichkeit zu handeln. Weil das Gewissen offenbar in
dieser
Weise nicht »positiv« sein kann, fungiert es aber auch nicht
in
derselben Weise »nur negativ«. Der Ruf erschließt nichts,
was
positiv oder negativ sein könnte als Besorgbares, weil er
ein
ontologisch völlig anderes Sein meint, die Existenz. Im
existenzi-
alen Sinne dagegen gibt der rechtverstandene Ruf das »Posi-
tivste«, das heißt die eigenste Möglichkeit, die das Dasein
sich
vorgeben kann, als vorrufender Rückruf in das jeweils
faktische
Selbstseinkönnen. Den Ruf eigentlich hören, bedeutet, sich
in das
faktische Handeln bringen. Die vollzureichende
Interpretation
des im Ruf Gerufenen gewinnen wir aber erst dadurch, daß die
existenziale Struktur herausgestellt wird, die im eigentlich
hören-
den Anrufverstehen als solchem liegt.
Zuvor galt es zu zeigen, wie die Phänomene, die der vulgären
Gewissensauslegung allein vertraut sind, ontologisch
angemessen
verstanden, auf den ursprünglichen Sinn des Gewissensrufes
zurückweisen; sodann, daß die vulgäre Auslegung der
Begrenzt-
heit der verfallenden Selbstauslegung des Daseins entspringt
und
– weil das Verfallen zur Sorge selbst gehört – auch bei
aller
Selbstverständlichkeit keineswegs zufällig ist. 295
Die ontologische Kritik der vulgären Gewissensauslegung
könnte dem Mißverständnis unterliegen, als wollte mit dem
Nachweis der existenzialen Nichtursprünglichkeit der
alltäglichen
Gewissenserfahrung etwas über die existenzielle »moralische
Qualität« des in ihr sich haltenden Daseins geurteilt
werden. So
wenig die Existenz notwendig und direkt beeinträchtigt wird
durch ein ontologisch unzureichendes Gewissensverständnis,
so
wenig ist durch eine existenzial angemessene Interpretation
des
Gewissens das existenzielle Verstehen des Rufes
gewährleistet.
Der Ernst ist in der vulgären Gewissenserfahrung nicht
weniger
möglich als der Unernst in einem ursprünglicheren
Gewissensver-
ständnis. Gleichwohl erschließt die existenzial
ursprünglichere
Interpretation auch Möglichkeiten ursprünglicheren
existenziellen
Verstehens, solange ontologisches Begreifen sich nicht von
der
ontischen Erfahrung abschnüren läßt.
§ 60. Die existenziale Struktur des im Gewissen bezeugten
eigentlichen Seinkönnens
Die existenziale Interpretation des Gewissens soll eine im
Dasein selbst seiende Bezeugung seines eigensten Seinkönnens
herausstellen. Die Weise, nach der das Gewissen bezeugt, ist
kein
indifferentes Kundgeben, sondern vorrufender Aufruf zum
Schul-
digsein. Das so Bezeugte wird »erfaßt« im Hören, das den Ruf
in
dem von ihm selbst intendierten Sinne unverstellt versteht.
Das
Anrufverstehen als Seinsmodus des Daseins gibt erst den
phäno-
menalen Bestand des im Gewissensruf Bezeugten. Das
eigentliche
Rufverstehen charakterisierten wir als
Gewissen-haben-wollen.
Dieses In-sich-handeln-lassen des eigensten Selbst aus ihm
selbst
in seinem Schuldigsein repräsentiert phänomenal das im
Dasein
selbst bezeugte eigentliche Seinkönnen. Dessen existenziale
Struk-
tur muß nunmehr freigelegt werden. Nur so dringen wir zu der
im Dasein selbst erschlossenen Grundverfassung der
Eigentlich-
keit seiner Existenz vor.
Gewissen-haben-wollen ist als Sich-verstehen im eigensten
Seinkönnen eine Weise der Erschlossenheit des Daseins. Außer
durch Verstehen wird diese durch Befindlichkeit und Rede
kon-
stituiert. Existenzielles Verstehen besagt: sich entwerfen
auf die je
eigenste faktische Möglichkeit des In-der-Welt-sein-könnens.
Sein-können aber ist nur verstanden im Existieren in dieser
Mög-
lichkeit.
Welche Stimmung entspricht solchem Verstehen? Das Rufver-
stehen erschließt das eigene Dasein in der Unheimlichkeit
seiner
Vereinze- 296
lung. Die im Verstehen mitenthüllte Unheimlichkeit wird
genuin
erschlossen durch die ihm zugehörige Befindlichkeit der
Angst.
Das Faktum der Gewissensangst ist eine phänomenale Bewäh-
rung dafür, daß das Dasein im Rufverstehen vor die
Unheimlich-
keit seiner selbst gebracht ist. Das Gewissenhabenwollen
wird
Bereitschaft zur Angst. Das dritte Wesensmoment der
Erschlos-
senheit ist die Rede. Dem Ruf als ursprünglicher Rede des
Daseins entspricht nicht eine Gegenrede – etwa gar im Sinne
eines
verhandelnden Beredens dessen, was das Gewissen sagt. Das
verstehende Hören des Rufes versagt sich die Gegenrede nicht
deshalb, weil es von einer »dunklen Macht« überfallen ist,
die es
niederzwingt, sondern weil es sich den Rufgehalt un-verdeckt
zueignet. Der Ruf stellt vor das ständige Schuldigsein und
holt so
das Selbst aus dem lauten Gerede der Verständigkeit des Man
zurück. Demnach ist der zum Gewissen-haben-wollen gehörende
Modus der artikulierenden Rede die Verschwiegenheit. Schwei-
gen wurde als wesenhafte Möglichkeit der Rede
charakterisiert1.
Wer schweigend zu verstehen geben will, muß »etwas zu sagen
haben«. Das Dasein gibt sich im Anruf sein eigenstes
Seinkönnen
zu verstehen. Daher ist dieses Rufen ein Schweigen. Die
Gewis-
sensrede kommt nie zur Verlautbarung. Das Gewissen ruft nur
schweigend, das heißt der Ruf kommt aus der Lautlosigkeit
der
Unheimlichkeit und ruft das aufgerufene Dasein als still zu
wer-
dendes in die Stille seiner selbst zurück. Das
Gewissen-haben-
wollen versteht daher diese schweigende Rede einzig
angemessen
in der Verschwiegenheit. Sie entzieht dem verständigen
Gerede
des Man das Wort.
Das schweigende Reden des Gewissens nimmt die verständige
Gewissensauslegung, die sich »streng an Tatsachen hält«, zum
Anlaß, das Gewissen als überhaupt nicht feststellbar und
vorhan-
den auszugeben. Daß man, nur lautes Gerede hörend und
verste-
hend, keinen Ruf »konstatieren« kann, wird dem Gewissen
zuge-
schoben mit der Ausrede, es sei »stumm« und offenbar nicht
vorhanden. Mit dieser Auslegung verdeckt das Man nur das ihm
eigene Überhören des Rufes und die verkürzte Reichweite
seines
»Hörens«.
Die im Gewissen-haben-wollen liegende Erschlossenheit des
Daseins wird demnach konstituiert durch die Befindlichkeit
der
Angst, durch das Verstehen als Sichentwerfen auf das
eigenste
Schuldigsein und durch die Rede als Verschwiegenheit. Diese
ausgezeichnete, im Dasein selbst durch sein Gewissen
bezeugte
eigentliche Erschlossenheit – das
1 Vgl. § 34, S. 164. 297
verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste
Schuldigsein – nennen wir die Entschlossenheit.
Die Entschlossenheit ist ein ausgezeichneter Modus der
Erschlossenheit des Daseins. Die Erschlossenheit aber wurde
früher1 existenzial interpretiert als die ursprüngliche
Wahrheit.
Diese ist primär keine Qualität des »Urteils« noch überhaupt
eines bestimmten Verhaltens, sondern ein wesenhaftes
Konstitu-
tivum des In-der-Welt-seins als solchen. Wahrheit muß als
fun-
damentales Existenzial begriffen werden. Die ontologische
Klärung des Satzes: »Dasein ist in der Wahrheit« hat die ur-
sprüngliche Erschlossenheit dieses Seienden als Wahrheit der
Existenz angezeigt und für deren Umgrenzung auf die Analyse
der Eigentlichkeit des Daseins verwiesen2.
Nunmehr ist mit der Entschlossenheit die ursprünglichste,
weil
eigentliche Wahrheit des Daseins gewonnen. Die
Erschlossenheit
des Da erschließt gleichursprünglich das je ganze
In-der-Welt-
sein, das heißt die Welt, das In-Sein und das Selbst, das
als »ich
bin« dieses Seiende ist. Mit der Erschlossenheit von Welt
ist je
schon innerweltliches Seiendes entdeckt. Die Entdecktheit
des
Zuhandenen und Vorhandenen gründet in der Erschlossenheit
der Welt3; denn die Freigabe der jeweiligen
Bewandtnisganzheit
des Zuhandenen verlangt ein Vorverstehen der Bedeutsamkeit.
Sie verstehend, weist sich das besorgende Dasein umsichtig
auf
das begegnende Zuhandene an. Das Verstehen der Bedeutsamkeit
als Erschlossenheit der jeweiligen Welt gründet wiederum im
Verstehen des Worumwillen, darauf alles Entdecken der
Bewandtnisganzheit zurückgeht. Das Umwillen des Unterkom-
mens, des Unterhalts, des Fortkommens sind nächste und stän-
dige Möglichkeiten des Daseins, auf die sich dieses Seiende,
dem
es um sein Sein geht, je schon entworfen hat. In sein »Da«
gewor-
fen, ist das Dasein faktisch je auf eine bestimmte – seine –
»Welt«
angewiesen. In eins damit sind die nächsten faktischen
Entwürfe
von der besorgenden Verlorenheit in das Man geführt. Diese
kann vom je eigenen Dasein angerufen, der Anruf kann
verstan-
den werden in der Weise der Entschlossenheit. Diese
eigentliche
Erschlossenheit modifiziert aber dann gleichursprünglich die
in
ihr fundierte Entdecktheit der »Welt« und die
Erschlossenheit des
Mitdaseins der Anderen. Die zuhandene »Welt« wird nicht »in-
haltlich« eine andere, der Kreis der Anderen
1 Vgl. § 44, S.
212 ff.
2 Vgl. a. a. O.
S. 221.
3 Vgl. § 18, S.
83 ff. 298
wird nicht ausgewechselt, und doch ist das verstehende
besor-
gende Sein zum Zuhandenen und das fürsorgende Mitsein mit
den Anderen jetzt aus deren eigenstem Selbstseinkönnen
heraus
bestimmt.
Die Entschlossenheit löst als eigentliches Selbstsein das
Dasein
nicht von seiner Welt ab, isoliert es nicht auf ein
freischwebendes
Ich. Wie sollte sie das auch – wo sie doch als eigentliche
Erschlos-
senheit nichts anderes als das In-der-Welt-sein eigentlich
ist. Die
Entschlossenheit bringt das Selbst gerade in das jeweilige
besor-
gende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende
Mit-
sein mit den Anderen.
Aus dem Worumwillen des selbstgewählten Seinkönnens gibt
sich das entschlossene Dasein frei für seine Welt. Die
Entschlos-
senheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die
Möglichkeit,
die mitseienden Anderen »sein« zu lassen in ihrem eigensten
Seinkönnen und dieses in der vorspringend-befreienden
Fürsorge
mitzuerschließen. Das entschlossene Dasein kann zum »Gewis-
sen« der Anderen werden. Aus dem eigentlichen Selbstsein der
Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche
Miteinander,
nicht aber aus den zweideutigen und eifersüchtigen
Verabredun-
gen und den redseligen Verbrüderungen im Man und dem, was
man unternehmen will.
Die Entschlossenheit ist ihrem ontologischen Wesen nach je
die
eines jeweiligen faktischen Daseins. Das Wesen dieses
Seienden
ist seine Existenz. Entschlossenheit »existiert« nur als
verstehend-
sich-entwerfender Entschluß. Aber woraufhin erschließt sich
das
Dasein in der Entschlossenheit? Wozu soll es sich
entschließen?
Die Antwort vermag nur der Entschluß selbst zu geben. Es
wäre
ein völliges Mißverstehen des Phänomens der
Entschlossenheit,
wollte man meinen, es sei lediglich ein aufnehmendes
Zugreifen
gegenüber vorgelegten und anempfohlenen Möglichkeiten. Der
Entschluß ist gerade erst das erschließende Entwerfen und
Bestimmen der jeweiligen faktischen Möglichkeit. Zur
Entschlos-
senheit gehört notwendig die Unbestimmtheit, die jedes
faktisch-
geworfene Seinkönnen des Daseins charakterisiert. Ihrer
selbst
sicher ist die Entschlossenheit nur als Entschluß. Aber die
exi-
stenzielle, jeweils erst im Entschluß sich bestimmende Unbe-
stimmtheit der Entschlossenheit hat gleichwohl ihre
existenziale
Bestimmtheit.
Das Wozu der Entschlossenheit ist ontologisch vorgezeichnet
in
der Existenzialität des Daseins überhaupt als Seinkönnen in
der
Weise der besorgenden Fürsorge. Als Sorge aber ist das
Dasein
durch Faktizität und Verfallen determiniert. Erschlossen in
sei-
nem »Da«, hält es sich gleichursprünglich in der Wahrheit
und
Unwahrheit1. Das gilt »eigent-
1 Vgl. § 44 b, S. 222. 299
lich« gerade von der Entschlossenheit als der eigentlichen
Wahr-
heit. Sie eignet sich die Unwahrheit eigentlich zu. Das
Dasein ist
je schon und demnächst vielleicht wieder in der
Unentschlossen-
heit. Dieser Titel drückt nur das Phänomen aus, das als
Ausgelie-
fertsein an die herrschende Ausgelegtheit des Man
interpretiert
wurde. Das Dasein wird als Man-selbst von der verständigen
Zweideutigkeit der Öffentlichkeit »gelebt«, in der sich
niemand
entschließt, und die doch schon immer beschlossen hat. Die
Ent-
schlossenheit bedeutet Sich-aufrufen-lassen aus der
Verlorenheit
in das Man. Die Unentschlossenheit des Man bleibt gleichwohl
in
Herrschaft, nur vermag sie die entschlossene Existenz nicht
anzu-
fechten. Unentschlossenheit meint als Gegenbegriff zu der
exi-
stenzial verstandenen Entschlossenheit nicht eine
ontisch-psychi-
sche Beschaffenheit im Sinne eines Belastetseins mit
Hemmungen.
Auch der Entschluß bleibt auf das Man und seine Welt
angewie-
sen. Das zu verstehen, gehört mit zu dem, was er erschließt,
sofern die Entschlossenheit erst dem Dasein die eigentliche
Durchsichtigkeit gibt. In der Entschlossenheit geht es dem
Dasein
um sein eigenstes Seinkönnen, das als geworfenes nur auf
bestimmte faktische Möglichkeiten sich entwerfen kann. Der
Entschluß entzieht sich nicht der »Wirklichkeit«, sondern
ent-
deckt erst das faktisch Mögliche, so zwar, daß er es
dergestalt,
wie es als eigenstes Seinkönnen im Man möglich ist,
ergreift. Die
existenziale Bestimmtheit des je möglichen entschlossenen
Daseins umfaßt die konstitutiven Momente des bisher übergan-
genen existenzialen Phänomens, das wir Situation nennen.
In dem Terminus Situation (Lage – »in der Lage sein«)
schwingt eine räumliche Bedeutung mit. Wir werden nicht ver-
suchen wollen, sie aus dem existenzialen Begriff
auszumerzen.
Denn sie liegt auch im »Da« des Daseins. Zum
In-der-Welt-sein
gehört eine eigene Räumlichkeit, die durch die Phänomene der
Ent-fernung und Ausrichtung charakterisiert ist. Das Dasein
»räumt ein«, sofern es faktisch existiert1. Die
daseinsmäßige
Räumlichkeit aber, auf Grund deren sich die Existenz je
ihren
»Ort« bestimmt, gründet in der Verfassung des
In-der-Welt-seins.
Das primäre Konstitutivum dieser Verfassung ist die
Erschlossen-
heit. So wie die Räumlichkeit des Da in der Erschlossenheit
grün-
det, so hat die Situation ihre Fundamente in der
Entschlossenheit.
Die Situation ist das je in der Entschlossenheit
erschlossene Da,
als welches das existierende Seiende da ist. Die Situation
ist nicht
ein vorhandener Rahmen, in dem das Dasein vorkommt, oder in
den es sich auch nur selbst brächte. Weit entfernt von einem
vor-
1 Vgl. §§ 23 u.
24, S. 104 ff. 300
handenen Gemisch der begegnenden Umstände und Zufälle, ist
die Situation nur durch und in der Entschlossenheit.
Entschlossen
für das Da, als welches das Selbst existierend zu sein hat,
erschließt sich ihm erst der jeweilige faktische
Bewandtnischarak-
ter der Umstände. Nur der Entschlossenheit kann das aus der
Mit- und Umwelt zu-fallen, was wir Zufälle nennen.
Dem Man dagegen ist die Situation wesenhaft verschlossen. Es
kennt nur die »allgemeine Lage«, verliert sich an die
nächsten
»Gelegenheiten« und bestreitet das Dasein aus der
Verrechnung
der »Zufälle«, die es, sie verkennend, für die eigene
Leistung hält
und ausgibt.
Die Entschlossenheit bringt das Sein des Da in die Existenz
sei-
ner Situation. Die Entschlossenheit aber umgrenzt die
existenziale
Struktur des im Gewissen bezeugten eigentlichen Seinkönnens,
des Gewissen-haben-wollens. In ihm erkannten wir das
angemes-
sene Anrufverstehen. Daraus wird vollends deutlich, daß der
Gewissensruf, wenn er zum Seinkönnen aufruft, kein leeres
Exi-
stenzideal vorhält, sondern in die Situation vorruft. Diese
exi-
stenziale Positivität des rechtverstandenen Gewissensrufes
macht
zugleich einsichtig, inwiefern die Einschränkung der
Ruftendenz
auf vorgekommene und vorgehabte Verschuldungen den
Erschließungscharakter des Gewissens verkennt und uns nur
scheinbar das konkrete Verständnis seiner Stimme vermittelt.
Die
existenziale Interpretation des Anrufverstehens als
Entschlossen-
heit enthüllt das Gewissen als die im Grunde des Daseins
beschlossene Seinsart, in der es sich selbst – das eigenste
Seinkön-
nen bezeugend – seine faktische Existenz ermöglicht.
Dies unter dem Titel Entschlossenheit herausgestellte Phäno-
men wird kaum mit einem leeren »Habitus« und einer unbe-
stimmten »Velleität« zusammengeworfen werden können. Die
Entschlossenheit stellt sich nicht erst, kenntnisnehmend,
eine
Situation vor, sondern hat sich schon in sie gestellt. Als
entschlos-
senes handelt das Dasein schon. Wir vermeiden den Terminus
»Handeln« absichtlich. Denn einmal müßte er doch wieder so
weit gefaßt werden, daß die Aktivität auch die Passivität
des
Widerstandes umgreift. Zum andern legt er das
daseinsontologi-
sche Mißverständnis nahe, als sei die Entschlossenheit ein
beson-
deres Verhalten des praktischen Vermögens gegenüber einem
theoretischen. Sorge aber als besorgende Fürsorge umfaßt das
Sein des Daseins so ursprünglich und ganz, daß sie in der
Schei-
dung von theoretischem und praktischem Verhalten je schon
als
Ganzes vorausgesetzt werden muß und aus diesen Vermögen
nicht erst zusammengebaut werden kann mit Hilfe einer
notwen-
dig grundlosen, weil existenzial 301
ungegründeten Dialektik. Die Entschlossenheit aber ist nur
die in
der Sorge gesorgte und als Sorge mögliche Eigentlichkeit
dieser
selbst.
Die faktischen existenziellen Möglichkeiten in ihren
Hauptzü-
gen und Zusammenhängen darzustellen und nach ihrer
existenzi-
alen Struktur zu interpretieren, fällt in den Aufgabenkreis
der
thematischen existenzialen Anthropologie1. Für die
fundamentalontologische Absicht der vorliegenden
Untersuchung
genügt die existenziale Umgrenzung des im Gewissen aus dem
Dasein selbst für es selbst bezeugten eigentlichen
Seinkönnens.
Mit der Herausarbeitung der Entschlossenheit als des ver-
schwiegenen, angstbereiten Sichentwerfens auf das eigenste
Schuldigsein ist die Untersuchung in den Stand gesetzt, den
ontologischen Sinn des gesuchten eigentlichen
Ganzseinkönnens
des Daseins zu umgrenzen. Eigentlichkeit des Daseins ist
jetzt
weder ein leerer Titel noch eine erfundene Idee. Aber auch
so
bleibt noch das existenzial deduzierte eigentliche Sein zum
Tode
als eigentliches Ganzseinkönnen ein rein existenzialer
Entwurf,
dem die daseinsmäßige Bezeugung fehlt. Erst wenn diese
gefun-
den ist, genügt die Untersuchung der in ihrer Problematik
gefor-
derten Aufweisung eines existenzial bewährten und geklärten
eigentlichen Ganzseinkönnens des Daseins. Denn nur dann,
wenn
dieses Seiende in seiner Eigentlichkeit und Ganzheit
phänomenal
zugänglich geworden ist, kommt die Frage nach dem Sinn des
Seins dieses Seienden, zu dessen Existenz Seinsverständnis
über-
haupt gehört, auf einen probehaltigen Boden.
Drittes Kapitel
Das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins und die
Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge
§ 61. Vorzeichnung des methodischen Schrittes von der
Umgrenzung des eigentlichen daseinsmäßigen Ganzseins zur
phänomenalen Freilegung der Zeitlichkeit
Existenzial entworfen wurde ein eigentliches Ganzseinkönnen
des Daseins. Die Auseinanderlegung des Phänomens enthüllte
das
eigent-
1 In der Richtung dieser Problematik hat zum ersten Mal K.
Jaspers
ausdrücklich die Aufgabe einer Weltanschauungslehre erfaßt
und
durchgeführt. Vgl. seine Psychologie der Weltanschauungen,
3. Aufl.,
1925. Hier wird das, »was der Mensch sei«, erfragt und
bestimmt aus
dem, was er wesenhaft sein kann (vgl. das Vorwort zur 1.
Aufl.). Daraus
erhellt die grundsätzliche 302
liche Sein zum Tode als das Vorlaufen1. In seiner
existenziellen
Bezeugung wurde das eigentliche Seinkönnen des Daseins als
Entschlossenheit aufgezeigt und zugleich existenzial
interpretiert.
Wie sollen beide Phänomene zusammengebracht werden? Führte
der ontologische Entwurf des eigentlichen Ganzseinkönnens
nicht
in eine Dimension des Daseins, die von dem Phänomen der Ent-
schlossenheit weit abliegt? Was soll der Tod mit der
»konkreten
Situation« des Handelns gemein haben? Verführt der Versuch,
die Entschlossenheit und das Vorlaufen zusammenzuzwingen,
nicht zu einer unerträglichen, völlig unphänomenologischen
Kon-
struktion, die nicht einmal mehr den Charakter eines
phänome-
nal gegründeten ontologischen Entwurfs für sich beanspruchen
darf?
Ein äußerliches Zusammenbinden beider Phänomene verbietet
sich von selbst. Noch bleibt als methodisch einzig möglicher
Weg, von dem in seiner existenziellen Möglichkeit bezeugten
Phänomen der Entschlossenheit auszugehen und zu fragen:
weist
die Entschlossenheit in ihrer eigensten existenziellen
Seinstendenz
selbst vor auf die vorlaufende Entschlossenheit als ihre
eigenste
eigentliche Möglichkeit? Wenn sich die Entschlossenheit
ihrem
eigenen Sinne nach erst dann in ihre Eigentlichkeit gebracht
hätte, sobald sie sich nicht auf beliebige und je nur
nächste Mög-
lichkeiten entwirft, sondern auf die äußerste, die allem
faktischen
Seinkönnen des Daseins vorgelagert ist und als solche in
jedes
faktisch ergriffene Seinkönnen des Daseins mehr oder minder
unverstellt hereinsteht? Wenn die Entschlossenheit als
eigentliche
Wahrheit des Daseins erst im Vorlaufen zum Tode die ihr
zuge-
hörige eigentliche Gewißheit erreichte? Wenn im Vorlaufen
zum
Tode erst alle faktische »Vorläufigkeit« des Entschließens
eigent-
lich verstanden, das heißt existenziell eingeholt wäre?
Solange die existenziale Interpretation nicht vergißt, daß
das
ihr vorgegebene thematische Seiende die Seinsart des Daseins
hat
und sich nicht aus vorhandenen Stücken zu einem Vorhandenen
zusammenstücken läßt, müssen sich ihre Schritte insgesamt
von
der Idee der Existenz leiten lassen. Das bedeutet für die
Frage
nach dem möglichen Zusammenhang zwischen Vorlaufen und
Entschlossenheit nichts weniger als die Forderung, diese
existen-
zialen Phänomene auf die in
existenzial-ontologisdie Bedeutung der »Grenzsituationen«.
Die
philosophische Tendenz der »Psychologie der
Weltanschauungen« wird
völlig verkannt, wenn man sie lediglich als Nachschlagewerk
für
»Weltanschauungstypen« »verwendet«.
1 Vgl. § 58, S. 280 ff. 303
ihnen vorgezeichneten existenziellen Möglichkeiten zu
entwerfen
und diese existenzial »zu Ende zu denken«. Dadurch verliert
die
Herausarbeitung der vorlaufenden Entschlossenheit als eines
existenziell möglichen eigentlichen Ganzseinkönnens den
Charak-
ter einer willkürlichen Konstruktion. Sie wird zur
interpretieren-
den Befreiung des Daseins für seine äußerste
Existenzmöglichkeit.
Mit diesem Schritt bekundet die existenziale Interpretation
zugleich ihren eigensten methodischen Charakter. Bisher
wurden
– von gelegentlich notwendigen Bemerkungen abgesehen – aus-
drückliche methodische Erörterungen zurückgestellt. Es galt,
erst
einmal »vorzugehen« zu den Phänomenen. Vor der Freilegung
des Seinssinnes des in seinem phänomenalen Grundbestande
enthüllten Seienden bedarf der Gang der Untersuchung eines
Aufenthaltes, nicht zu Zwecken der »Ruhe«, sondern um der
Untersuchung den verschärften Antrieb zu verschaffen.
Echte Methode gründet im angemessenen Vorblick auf die
Grundverfassung des zu erschließenden »Gegenstandes« bzw.
Gegenstandsbezirkes. Echte methodische Besinnung – die von
leeren Erörterungen der Technik wohl zu unterscheiden ist –
gibt
deshalb zugleich Aufschluß über die Seinsart des
thematischen
Seienden. Die Klärung der methodischen Möglichkeiten, Erfor-
dernisse und Grenzen der existenzialen Analytik überhaupt
sichert ihrem grund-legenden Schritt, der Enthüllung des Seins-
sinnes der Sorge, erst die notwendige Durchsichtigkeit. Die
Inter-
pretation des ontologischen Sinnes der Sorge aber muß sich
auf
dem Grunde der vollen und ständigen phänomenologischen Ver-
gegenwärtigung der bislang herausgestellten existenzialen Verfas-
sung des Daseins vollziehen.
Das Dasein ist ontologisch grundsätzlich von allem Vorhande-
nen und Realen verschieden. Sein »Bestand« gründet nicht in
der
Substanzialität einer Substanz, sondern in der
»Selbständigkeit«
des existierenden Selbst, dessen Sein als Sorge begriffen
wurde.
Das in der Sorge mitbeschlossene Phänomen des Selbst bedarf
einer ursprünglichen und eigentlichen existenzialen
Umgrenzung
gegenüber der vorbereitenden Aufweisung des uneigentlichen
Man-selbst. Damit geht eine Fixierung der möglichen
ontologi-
schen Fragen zusammen, die überhaupt an das »Selbst« zu
rich-
ten sind, wenn anders es weder Substanz noch Subjekt ist.
Das dergestalt erst hinreichend geklärte Phänomen der Sorge
befragen wir dann auf seinen ontologischen Sinn. Die Bestim-
mung dieses Sinnes wird zur Freilegung der Zeitlichkeit.
Dieser
Aufweis führt 304
nicht in abgelegene, gesonderte Bezirke des Daseins, sondern
er
begreift nur den phänomenalen Gesamtbestand der existenzialen
Grundverfassung des Daseins in den letzten Fundamenten
seiner
eigenen ontologischen Verständlichkeit. Phänomenal ursprüng-
lich wird die Zeitlichkeit erfahren am eigentlichen Ganzsein
des
Daseins, am Phänomen der vorlaufenden Entschlossenheit. Wenn
sich die Zeitlichkeit hierin ursprünglich bekundet, dann ist
ver-
mutlich die Zeitlichkeit der vorlaufenden Entschlossenheit
ein
ausgezeichneter Modus ihrer selbst. Zeitlichkeit kann sich
in
verschiedenen Möglichkeiten und in verschiedener Weise
zeitigen.
Die Grundmöglichkeiten der Existenz, Eigentlichkeit und
Unei-
gentlichkeit des Daseins, gründen ontologisch in möglichen
Zeiti-
gungen der Zeitlichkeit.
Wenn schon der ontologische Charakter seines eigenen Seins
dem Dasein bei der Vorherrschaft des verfallenden Seinsver-
ständnisses (Sein als Vorhandenheit) fernliegt, dann noch
mehr
die ursprünglichen Fundamente dieses Seins. Daher darf nicht
verwundern, wenn auf den ersten Blick die Zeitlichkeit nicht
dem
entspricht, was dem vulgären Verständnis als »Zeit«
zugänglich
ist. Der Zeitbegriff der vulgären Zeiterfahrung und die ihr
ent-
wachsende Problematik können deshalb nicht unbesehen als
Kriterien der Angemessenheit einer Zeitinterpretation
fungieren.
Vielmehr muß die Untersuchung sich vorgängig mit dem ur-
sprünglichen Phänomen der Zeitlichkeit vertraut machen, um
erst
aus ihm die Notwendigkeit und die Art des Ursprungs des
vulgä-
ren Zeitverständnisses und ebenso den Grund seiner
Herrschaft
aufzuhellen.
Die Sicherung des ursprünglichen Phänomens der Zeitlichkeit
vollzieht sich durch den Nachweis, daß alle bislang
herausgestell-
ten fundamentalen Strukturen des Daseins hinsichtlich ihrer
möglichen Ganzheit, Einheit und Entfaltung im Grunde »zeit-
lich« und als Modi der Zeitigung der Zeitlichkeit zu
begreifen
sind. So erwächst der existenzialen Analytik aus der
Freilegung
der Zeitlichkeit die Aufgabe, die vollzogene Analyse des
Daseins
zu wiederholen im Sinne einer Interpretation der
wesentlichen
Strukturen auf ihre Zeitlichkeit. Die Grundrichtungen der
damit
geforderten Analysen zeichnet die Zeitlichkeit selbst vor.
Das
Kapitel erhält demnach folgende Einteilung: Das existenziell
eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins als vorlaufende Ent-
schlossenheit (§ 62); die für eine Interpretation des
Seinssinnes
der Sorge gewonnene hermeneutische Situation und der
methodi-
sche Charakter der existenzialen Analytik überhaupt (§ 63);
Sorge und Selbstheit (§ 64); die Zeitlichkeit als der
ontologische
Sinn der Sorge (§ 65); 305
die Zeitlichkeit des Daseins und die aus ihr entspringenden
Auf-
gaben einer ursprünglichen Wiederholung der existenzialen
Analyse (§ 66).
§ 62. Das existenziell eigentliche Ganzseinkönnen des
Daseins als
vorlaufende Entschlossenheit
Inwiefern führt die Entschlossenheit, ihrer eigensten
Seinsten-
denz entsprechend »zu Ende gedacht«, auf das eigentliche
Sein
zum Tode? Wie ist der Zusammenhang zwischen dem Gewissen-
haben-wollen und dem existenzial entworfenen eigentlichen
Ganzseinkönnen des Daseins zu begreifen? Ergibt das Zusam-
menschweißen beider ein neues Phänomen? Oder bleibt es bei
der
in ihrer existenziellen Möglichkeit bezeugten
Entschlossenheit, so
zwar, daß sie durch das Sein zum Tode eine existenzielle
Modali-
sierung erfahren kann? Was besagt aber, das Phänomen der
Ent-
schlossenheit existenzial »zu Ende denken«?
Die Entschlossenheit wurde charakterisiert als das
sich-Angst-
zumutende, verschwiegene Sichentwerfen auf das eigenste
Schul-
digsein. Dieses gehört zum Sein des Daseins und bedeutet:
nichti-
ger Grund-sein einer Nichtigkeit. Das zum Sein des Daseins
gehö-
rende »schuldig« läßt weder Vermehrung noch Verminderung zu.
Es liegt vor jeder Quantifizierung, wenn diese überhaupt
einen
Sinn hat. Wesenhaft schuldig ist das Dasein auch nicht
zuweilen
und dann wieder nicht schuldig. Das Gewissen-haben-wollen
entschließt sich für dieses Schuldigsein. Im eigenen Sinne
der
Entschlossenheit liegt es, sich auf dieses Schuldigsein zu
entwer-
fen, als welches das Dasein ist, solange es ist. Die
existenzielle
Übernahme dieser »Schuld« in der Entschlossenheit wird dem-
nach nur dann eigentlich vollzogen, wenn sich die
Entschlossen-
heit in ihrem Erschließen des Daseins so durchsichtig
geworden
ist, daß sie das Schuldigsein als ständiges versteht. Dieses
Verste-
hen aber ermöglicht sich nur dergestalt, daß sich das Dasein
das
Seinkönnen »bis zu seinem Ende« erschließt. Das Zu-Ende-sein
des Daseins besagt jedoch existenzial: Sein zum Ende. Die
Ent-
schlossenheit wird eigentlich das, was sie sein kann, als
verste-
hendes Sein zum Ende, d. h. als Vorlaufen in den Tod. Die
Ent-
schlossenheit »hat« nicht lediglich einen Zusammenhang mit
dem
Vorlaufen als einem anderen ihrer selbst. Sie birgt das
eigentliche
Sein zum Tode in sich als die mögliche existenzielle
Modalität
ihrer eigenen Eigentlichkeit. Diesen »Zusammenhang« gilt es
phänomenal zu verdeutlichen.
Entschlossenheit besagt: Sichvorrufenlassen auf das eigenste
Schuldigsein. Das Schuldigsein gehört zum Sein des Daseins
selbst, das wir primär als Seinkönnen bestimmten. Das Dasein
»ist« ständig schul- 306
dig, kann nur heißen, es hält sich in diesem Sein je als
eigentliches
oder uneigentliches Existieren. Das Schuldigsein ist keine
nur
bleibende Eigenschaft eines ständig Vorhandenen, sondern die
existenzielle Möglichkeit, eigentlich oder uneigentlich
schuldig zu
sein. Das »Schuldig« ist je nur im jeweiligen faktischen
Seinkön-
nen. Das Schuldigsein muß daher, weil zum Sein des Daseins
gehörend, als Schuldigseinkönnen begriffen werden. Die Ent-
schlossenheit entwirft sich auf dieses Seinkönnen, das heißt
ver-
steht sich in ihm. Dieses Verstehen hält sich demnach in
einer
ursprünglichen Möglichkeit des Daseins. Eigentlich hält es
sich in
ihr, wenn die Entschlossenheit das, was sie zu sein
tendiert, ur-
sprünglich ist. Das ursprüngliche Sein des Daseins aber zu
seinem
Seinkönnen enthüllten wir als Sein zum Tode, das heißt zu
der
charakterisierten ausgezeichneten Möglichkeit des Daseins.
Das
Vorlaufen erschließt diese Möglichkeit als Möglichkeit. Die
Ent-
schlossenheit wird deshalb erst als vorlaufende ein
ursprüngliches
Sein zum eigensten Seinkönnen des Daseins. Das »kann« des
Schuldigseinkönnens versteht die Entschlossenheit erst, wenn
sie
sich als Sein zum Tode »qualifiziert«.
Entschlossen übernimmt das Dasein eigentlich in seiner Exi-
stenz, daß es der nichtige Grund seiner Nichtigkeit ist. Den
Tod
begriffen wir existenzial als die charakterisierte
Möglichkeit der
Un-möglichkeit der Existenz, das heißt als schlechthinnige
Nich-
tigkeit des Daseins. Der Tod wird dem Dasein nicht bei
seinem
»Ende« angestückt, sondern als Sorge ist das Dasein der
gewor-
fene (das heißt nichtige) Grund seines Todes. Die das Sein
des
Daseins ursprünglich durchherrschende Nichtigkeit enthüllt
sich
ihm selbst im eigentlichen Sein zum Tode. Das Vorlaufen
macht
das Schuldigsein erst aus dem Grunde des ganzen Seins des
Daseins offenbar. Die Sorge birgt Tod und Schuld gleichur-
sprünglich in sich. Die vorlaufende Entschlossenheit
versteht erst
das Schuldigseinkönnen eigentlich und ganz, das heißt
ursprüng-
lich1.
1 Das ursprünglich zur Seinsverfassung des Daseins gehörende
Schuldig-sein ist vom theologisch verstandenen Status
corruptionis wohl
zu unterscheiden. Die Theologie kann in dem existenzial
bestimmten
Schuldigsein eine ontologische Bedingung seiner faktischen
Möglichkeit
finden. Die in der Idee dieses Status beschlossene Schuld
ist eine
faktische Verschuldung von völlig eigener Art. Sie hat ihre
eigene
Bezeugung, die jeder philosophischen Erfahrung grundsätzlich
verschlossen bleibt. Die existenziale Analyse des
Schuldigseins beweist
weder etwas für noch gegen die Möglichkeit der Sünde. Man
kann
streng genommen nicht einmal sagen, daß die Ontologie des
Daseins von
sich aus diese Möglichkeit überhaupt offen läßt, sofern sie
als
philosophisches Fragen grundsätzlich nichts von der Sünde
»weiß«. 307
Das Verstehen des Gewissensrufes enthüllt die Verlorenheit
in
das Man. Die Entschlossenheit holt das Dasein auf sein
eigenstes
Selbstseinkönnen zurück. Eigentlich und ganz durchsichtig
wird
das eigene Seinkönnen im verstehenden Sein zum Tode als der
eigensten Möglichkeit.
Der Ruf des Gewissens übergeht im Anruf alles »weltliche«
Ansehen und Können des Daseins. Unnachsichtig vereinzelt er
das Dasein auf sein Schuldigseinkönnen, das eigentlich zu
sein er
ihm zumutet. Die ungebrochene Schärfe der wesenhaften
Verein-
zelung auf das eigenste Seinkönnen erschließt das Vorlaufen
zum
Tode als der unbezüglichen Möglichkeit. Die vorlaufende Ent-
schlossenheit läßt sich das Schuldigseinkönnen als eigenstes
unbezügliches ganz ins Gewissen schlagen.
Das Gewissen-haben-wollen bedeutet die Anrufbereitschaft auf
das eigenste Schuldigsein, das je schon das faktische Dasein
bestimmte vor jeder faktischen Verschuldung und nach ihrer
Tilgung. Dieses vorgängige und ständige Schuldigsein zeigt
sich
erst dann unverdeckt in seiner Vorgängigkeit, wenn diese
hinein-
gestellt wird in die Möglichkeit, die für das Dasein
schlechthin
unüberholbar ist. Wenn die Entschlossenheit vorlaufend die
Möglichkeit des Todes in ihr Seinkönnen eingeholt hat, kann
die
eigentliche Existenz des Daseins durch nichts mehr überholt
wer-
den.
Mit dem Phänomen der Entschlossenheit wurden wir vor die
ursprüngliche Wahrheit der Existenz geführt. Entschlossen
ist das
Dasein ihm selbst in seinem jeweiligen faktischen Seinkönnen
enthüllt, so zwar, daß es selbst dieses Enthüllen und
Enthülltsein
ist. Zur Wahrheit gehört ein ihr je entsprechendes
Für-wahr-hal-
ten. Die ausdrückliche Zueignung des Erschlossenen bzw. Ent-
deckten ist das Gewißsein. Die ursprüngliche Wahrheit der
Exi-
stenz verlangt ein gleichursprüngliches Gewißsein als
Sich-halten
in dem, was die Entschlossenheit erschließt. Sie gibt sich
die
jeweilige faktische Situation und bringt sich in sie. Die
Situation
läßt sich nicht vorausberechnen und vorgeben wie ein
Vorhande-
nes, das auf eine Erfassung wartet. Sie wird nur erschlossen
in
einem freien, zuvor unbestimmten, aber der Bestimmbarkeit
offe-
nen Sichentschließen. Was bedeutet dann die solcher Entschlos-
senheit zugehörige Gewißheit? Sie soll sich in dem durch den
Entschluß Erschlossenen halten. Dies besagt aber: sie kann
sich
gerade nicht auf die Situation versteifen, sondern muß
verstehen,
daß der Entschluß seinem eigenen Erschließungssinn nach frei
und offen gehalten werden muß für die jeweilige faktische
Mög-
lichkeit. Die Ge- 308
wißheit des Entschlusses bedeutet: Sichfreihalten für seine
mög-
liche und je faktisch notwendige Zurücknahme. Solches Für-
wahr-halten der Entschlossenheit (als Wahrheit der Existenz)
läßt
jedoch keineswegs in die Unentschlossenheit zurückfallen. Im
Gegenteil: dieses Für-wahr-halten als entschlossenes
Sich-frei-
halten für die Zurücknahme ist die eigentliche
Entschlossenheit
zur Wiederholung ihrer selbst. Damit ist aber gerade die
Verlo-
renheit in die Unentschlossenheit existenziell untergraben.
Das
zur Entschlossenheit gehörende Für-wahr-halten tendiert
seinem
Sinne nach darauf, sich ständig, das heißt für das ganze
Seinkön-
nen des Daseins freizuhalten. Diese ständige Gewißheit wird
der
Entschlossenheit nur so gewährleistet, daß sie sich zu der
Mög-
lichkeit verhält, deren sie schlechthin gewiß sein kann. In
seinem
Tod muß sich das Dasein schlechthin »zurücknehmen«. Dessen
ständig gewiß, das heißt vorlaufend, gewinnt die
Entschlossenheit
ihre eigentliche und ganze Gewißheit.
Das Dasein ist aber gleichursprünglich in der Unwahrheit.
Die
vorlaufende Entschlossenheit gibt ihm zugleich die
ursprüngliche
Gewißheit seiner Verschlossenheit. Vorlaufend entschlossen
hält
sich das Dasein offen für die ständige, aus dem Grunde des
eige-
nen Seins mögliche Verlorenheit in die Unentschlossenheit
des
Man. Die Unentschlossenheit ist als ständige Möglichkeit des
Daseins mitgewiß. Die sich selbst durchsichtige
Entschlossenheit
versteht, daß sich die Unbestimmtheit des Seinkönnens je nur
bestimmt im Entschluß auf die jeweilige Situation. Sie weiß
um
die Unbestimmtheit, die ein Seiendes, das existiert,
durchherrscht.
Dieses Wissen aber muß, wenn es der eigentlichen
Entschlossen-
heit entsprechen will, selbst aus einem eigentlichen
Erschließen
entspringen. Die Unbestimmtheit des eigenen, obzwar im
Entschluß je gewiß gewordenen Seinkönnens offenbart sich
aber
erst ganz im Sein zum Tode. Das Vorlaufen bringt das Dasein
vor
eine Möglichkeit, die ständig gewiß und doch jeden
Augenblick
unbestimmt bleibt in dem, wann die Möglichkeit zur
Unmöglich-
keit wird. Sie macht offenbar, daß dieses Seiende in die
Unbe-
stimmtheit seiner »Grenzsituation« geworfen ist, zu der ent-
schlossen, das Dasein sein eigentliches Ganzseinkönnen
gewinnt.
Die Unbestimmtheit des Todes erschließt sich ursprünglich in
der
Angst. Diese ursprüngliche Angst aber trachtet die
Entschlossen-
heit sich zuzumuten. Sie räumt jede Verdeckung von der
Überlas-
senheit des Daseins an es selbst weg. Das Nichts, davor die
Angst
bringt, enthüllt die Nichtigkeit, die das Dasein in seinem
Grunde
bestimmt, der selbst ist als Geworfenheit in den Tod. 309
Die Analyse enthüllte der Reihe nach die aus dem
eigentlichen
Sein zum Tode als der eigensten, unbezüglichen,
unüberholbaren,
gewissen und dennoch unbestimmten Möglichkeit erwachsenden
Momente der Modalisierung, darauf die Entschlossenheit aus
ihr
selbst tendiert. Sie ist eigentlich und ganz, was sie sein
kann, nur
als vorlaufende Entschlossenheit.
Umgekehrt aber erreichte erst die Interpretation des »Zusam-
menhangs« zwischen Entschlossenheit und Vorlaufen das volle
existenziale Verständnis des Vorlaufens selbst. Bislang
konnte es
nur als ontologischer Entwurf gelten. Jetzt zeigte sich: das
Vor-
laufen ist keine erdichtete und dem Dasein aufgezwungene
Mög-
lichkeit, sondern der Modus eines im Dasein bezeugten
existen-
ziellen Seinkönnens, den es sich zumutet, wenn anders es
sich als
entschlossenes eigentlich versteht. Das Vorlaufen »ist«
nicht als
freischwebende Verhaltung, sondern muß begriffen werden als
die in der existenziell bezeugten Entschlossenheit
verborgene und
sonach mitbezeugte Möglichkeit ihrer Eigentlichkeit. Das
eigent-
liche »Denken an den Tod« ist das existenziell sich
durchsichtig
gewordene Gewissen-haben-wollen.
Wenn die Entschlossenheit als eigentliche auf den durch das
Vorlaufen umgrenzten Modus tendiert, das Vorlaufen aber das
eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins ausmacht, dann ist in
der existenziell bezeugten Entschlossenheit ein eigentliches
Ganz-
seinkönnen des Daseins mitbezeugt. Die Frage nach dem Ganz-
seinkönnen ist eine faktisch-existenzielle. Das Dasein
beantwor-
tet sie als entschlossenes. Die Frage nach dem
Ganzseinkönnen
des Daseins hat jetzt den anfänglich1 gezeigten Charakter
völlig
abgestreift, als sei sie lediglich eine theoretische,
methodische
Frage der Daseinsanalytik, entsprungen aus dem Bemühen um
eine vollständige »Gegebenheit« des ganzen Daseins. Die
anfangs
nur ontologisch-methodisch erörterte Frage der
Daseinsganzheit
hatte ihr Recht, aber nur weil dessen Grund auf eine
ontische
Möglichkeit des Daseins zurückgeht.
Die Aufhellung des »Zusammenhangs« zwischen Vorlaufen
und Entschlossenheit im Sinne der möglichen Modalisierung
dieser durch jenes wurde zur phänomenalen Aufweisung eines
eigentlichen Ganzseinkönnens des Daseins. Wenn mit diesem
Phänomen eine Seinsweise des Daseins getroffen ist, in der
es sich
zu und vor sich selbst bringt, dann muß es der alltäglichen,
ver-
ständigen Daseinsauslegung des Man ontisch und ontologisch
unverständlich bleiben. Es wäre Mißverstand,
1 Vgl. § 45, S.
231 ff. 310
diese existenzielle Möglichkeit als »unbewiesene«
wegzuschieben
oder aber theoretisch »beweisen« zu wollen. Dennoch bedarf
das
Phänomen des Schutzes vor den gröbsten Verkehrungen.
Die vorlaufende Entschlossenheit ist kein Ausweg, erfunden,
um den Tod zu »überwinden«, sondern das dem Gewissensruf
folgende Verstehen, das dem Tod die Möglichkeit freigibt,
der
Existenz des Daseins mächtig zu werden und jede flüchtige
Selbstverdeckung im Grunde zu zerstreuen. Das als Sein zum
Tode bestimmte Gewissen-haben-wollen bedeutet auch keine
weltflüchtige Abgeschiedenheit, sondern bringt illusionslos
in die
Entschlossenheit des »Handelns«. Die vorlaufende
Entschlossen-
heit entstammt auch nicht einer die Existenz und ihre
Möglich-
keiten überfliegenden »idealistischen« Zumutung, sondern
ent-
springt dem nüchternen Verstehen faktischer Grundmöglichkei-
ten des Daseins. Mit der nüchternen Angst, die vor das
verein-
zelte Seinkönnen bringt, geht die gerüstete Freude an dieser
Möglichkeit zusammen. In ihr wird das Dasein frei von den
»Zufälligkeiten« des Unterhaltenwerdens, die sich die
geschäftige
Neugier primär aus den Weltbegebenheiten verschafft. Die
Ana-
lyse dieser Grundstimmungen überschreitet jedoch die
Grenzen,
die der vorliegenden Interpretation durch ihr
fundamentalontolo-
gisches Ziel gezogen sind.
Aber liegt der durchgeführten ontologischen Interpretation
der
Existenz des Daseins nicht eine bestimmte ontische
Auffassung
von eigentlicher Existenz, ein faktisches Ideal des Daseins
zugrunde? Das ist in der Tat so. Dieses Faktum darf nicht
nur
nicht geleugnet und gezwungenerweise zugestanden, es muß in
seiner positiven Notwendigkeit aus dem thematischen Gegen-
stand der Untersuchung begriffen werden. Philosophie wird
ihre
»Voraussetzungen« nie abstreiten wollen, aber auch nicht
bloß
zugeben dürfen. Sie begreift die Voraussetzungen, und bringt
in
eins mit ihnen das, wofür sie Voraussetzungen sind, zu
eindring-
licherer Entfaltung. Diese Funktion hat die jetzt geforderte
methodische Besinnung.
§ 63. Die für eine Interpretation des Seinssinnes der Sorge
gewonnene hermeneutische Situation und der methodische
Charakter der existenzialen Analytik überhaupt
Mit der vorlaufenden Entschlossenheit ist das Dasein
hinsicht-
lich seiner möglichen Eigentlichkeit und Ganzheit phänomenal
sichtbar gemacht. Die für die Auslegung des Seinssinnes der
Sorge
zuvor unzureichende hermeneutische Situation1 hat die gefor-
derte Ursprüng-
1 Vgl. § 45, S. 232. 311
lichkeit erhalten. Das Dasein ist ursprünglich, das heißt
hinsicht-
lich seines eigentlichen Ganzseinkönnens in die Vorhabe
gestellt;
die leitende Vor-sicht, die Idee der Existenz, hat durch die
Klä-
rung des eigensten Seinkönnens ihre Bestimmtheit gewonnen;
mit
der konkret ausgearbeiteten Seinsstruktur des Daseins ist
seine
ontologische Eigenart gegenüber allem Vorhandenen so
deutlich
geworden, daß der Vorgriff auf die Existenzialität des
Daseins
eine genügende Artikulation besitzt, um die begriffliche
Ausarbei-
tung der Existenzialien sicher zu leiten.
Der bisher durchlaufene Weg der Analytik des Daseins wurde
zur konkreten Demonstration der eingangs nur hingeworfenen
These1: Das Seiende, das wir je selbst sind, ist ontologisch
das
Fernste. Der Grund dazu liegt in der Sorge selbst. Das
verfallende
Sein beim Nächstbesorgten der »Welt« führt die alltägliche
Daseinsauslegung und verdeckt ontisch das eigentliche Sein
des
Daseins, um damit der auf dieses Seiende gerichteten
Ontologie
die angemessene Basis zu versagen. Deshalb ist die
ursprüngliche
phänomenale Vorgabe dieses Seienden nichts weniger als
selbst-
verständlich, wenn auch die Ontologie zunächst dem Zuge der
alltäglichen Daseinsauslegung folgt. Die Freilegung des
ursprüng-
lichen Seins des Daseins muß ihm vielmehr im Gegenzug zur
verfallenden ontisch-ontologischen Auslegungstendenz
abgerun-
gen werden.
Nicht nur die Aufweisung der elementarsten Strukturen des
In-
der-Welt-seins, die Umgrenzung des Weltbegriffes, die
Klärung
des nächsten und durchschnittlichen Wer dieses Seienden, des
Man-selbst, die Interpretation des »Da«, sondern vor allem
die
Analysen von Sorge, Tod, Gewissen und Schuld zeigen, wie
sich
im Dasein selbst die besorgende Verständigkeit des
Seinkönnens
und seiner Erschließung, das heißt Verschließung bemächtigt
hat.
Die Seinsart des Daseins fordert daher von einer
ontologischen
Interpretation, die sich die Ursprünglichkeit der
phänomenalen
Aufweisung zum Ziel gesetzt hat, daß sie sich das Sein
dieses
Seienden gegen seine eigene Verdeckungstendenz erobert. Die
existenziale Analyse hat daher für die Ansprüche bzw. die
Genügsamkeit und beruhigte Selbstverständlichkeit der
alltäg-
lichen Auslegung ständig den Charakter einer Gewaltsamkeit.
Dieser Charakter zeichnet zwar die Ontologie des Daseins
beson-
ders aus, er eignet aber jeder Interpretation, weil das in
ihr sich
ausbildende Verstehen die Struktur des
1 Vgl. § 5, S. 15. 312
Entwerfens hat. Aber gibt es hierfür nicht je eine eigene
Leitung
und Regelung? Woher sollen aber die ontologischen Entwürfe
die
Evidenz der phänomenalen Angemessenheit für ihre »Befunde«
nehmen? Die ontologische Interpretation entwirft
vorgegebenes
Seiendes auf das ihm eigene Sein, um es hinsichtlich seiner
Struk-
tur auf den Begriff zu bringen. Wo sind die Wegweiser für
die
Entwurfsrichtung, damit sie überhaupt auf das Sein treffe?
Und
wenn gar das Seiende, das für die existenziale Analytik
thema-
tisch wird, in seiner Weise zu sein das ihm zugehörige Sein
ver-
birgt? Die Beantwortung der Fragen muß sich zunächst auf die
in
ihnen geforderte Klärung der Analytik des Daseins
beschränken.
Zum Sein des Daseins gehört Selbstauslegung. Im umsichtig-
besorgenden Entdecken der »Welt« ist das Besorgen
mitgesichtet.
Dasein versteht sich faktisch immer schon in bestimmten
existen-
ziellen Möglichkeiten, mögen die Entwürfe auch nur der Ver-
ständigkeit des Man entstammen. Existenz ist, ob
ausdrücklich
oder nicht, ob angemessen oder nicht, irgendwie
mitverstanden.
Jedes ontische Verstehen hat seine wenn auch nur
vor-ontologi-
schen, das heißt nicht theoretisch-thematisch begriffenen
»Ein-
schlüsse«. Jede ontologisch ausdrückliche Frage nach dem
Sein
des Daseins ist durch die Seinsart des Daseins schon
vorbereitet.
Aber gleichwohl, woran ist abzunehmen, was die »eigentliche«
Existenz des Daseins ausmacht? Ohne ein existenzielles
Verstehen
bleibt doch alle Analyse der Existenzialität bodenlos. Liegt
der
durchgeführten Interpretation der Eigentlichkeit und
Ganzheit
des Daseins nicht eine ontische Auffassung von Existenz
zugrunde, die möglich sein mag, aber doch nicht für jeden
ver-
bindlich zu sein braucht? Die existenziale Interpretation
wird nie
einen Machtspruch über existenzielle Möglichkeiten und Ver-
bindlichkeiten übernehmen wollen. Aber muß sie sich nicht
selbst
rechtfertigen hinsichtlich der existenziellen Möglichkeiten,
mit
denen sie der ontologischen Interpretation den ontischen
Boden
gibt? Wenn das Sein des Daseins wesenhaft Seinkönnen ist und
Freisein für seine eigensten Möglichkeiten und wenn es je
nur in
der Freiheit für sie bzw. in der Unfreiheit gegen sie
existiert, ver-
mag dann die ontologische Interpretation anderes als
ontische
Möglichkeiten (Weisen des Seinkönnens) zugrundezulegen und
diese auf ihre ontologische Möglichkeit zu entwerfen? Und
wenn
das Dasein sich zumeist aus der Verlorenheit in das Besorgen
der
»Welt« auslegt, ist dann nicht die im Gegenzug dazu
gewonnene
Bestimmung der ontisch-existenziellen Möglichkeiten und die
darauf gegründete 313
existenziale Analyse die solchem Seienden angemessene Weise
seiner Erschließung? Wird dann nicht die Gewaltsamkeit des
Entwurfs zur Freigabe des unverstellten phänomenalen Bestandes
des Daseins?
Die »gewaltsame« Vorgabe von Möglichkeiten der Existenz
mag methodisch gefordert sein, läßt sie sich aber dem freien
Belieben entziehen? Wenn die Analytik als existenziell
eigent-
liches Seinkönnen die vorlaufende Entschlossenheit
zugrundelegt,
zu welcher Möglichkeit das Dasein selbst aufruft und gar aus
dem Grunde seiner Existenz, ist diese Möglichkeit dann eine
beliebige? Ist die Seinsweise, gemäß der sich das Seinkönnen
des
Daseins zu seiner ausgezeichneten Möglichkeit, dem Tod,
verhält,
eine zufällig aufgegriffene? Hat das In-der-Welt-sein eine
höhere
Instanz seines Seinkönnens als seinen Tod?
Der ontisch-ontologische Entwurf des Daseins auf ein eigent-
liches Ganzseinkönnen mag sogar unbeliebig sein,
rechtfertigt
sich damit schon die an diesem Phänomen vollzogene
existenziale
Interpretation? Woher nimmt sie den Leitfaden, wenn nicht
aus
einer »vorausgesetzten« Idee von Existenz überhaupt? Wodurch
regelten sich die Schritte der Analyse der uneigentlichen
Alltäg-
lichkeit, es sei denn durch den angesetzten Existenzbegriff?
Und
wenn wir sagen, das Dasein »verfalle« und deshalb sei ihm
die
Eigentlichkeit des Seinkönnens gegen diese Seinstendenz
abzurin-
gen – aus welcher Blickstellung wird da gesprochen? Ist
nicht
schon alles, wenngleich dämmerig, erhellt durch das Licht
der
»vorausgesetzten« Existenzidee? Woher nimmt sie ihr Recht?
War der sie anzeigende erste Entwurf führungslos?
Keineswegs.
Die formale Anzeige der Existenzidee war geleitet von dem im
Dasein selbst liegenden Seinsverständnis. Ohne jede
ontologische
Durchsichtigkeit enthüllt es doch: das Seiende, das wir
Dasein
nennen, bin ich je selbst und zwar als Seinkönnen, dem es
darum
geht, dieses Seiende zu sein. Das Dasein versteht sich,
obgleich
ohne zureichende ontologische Bestimmtheit, als In-der-Welt-
sein. So seiend begegnet ihm Seiendes von der Seinsart des
Zuhandenen und Vorhandenen. Mag der Unterschied von Exi-
stenz und Realität noch so weit von einem ontologischen
Begriff
entfernt sein, mag das Dasein sogar zunächst die Existenz
als
Realität verstehen, es ist nicht nur vorhanden, sondern hat
sich,
in welcher mythischen und magischen Auslegung auch immer, je
schon verstanden. Denn sonst »lebte« es nicht in einem
Mythos
und besorgte nicht in Ritus und Kultus seine Magie. Die
ange-
setzte Existenzidee ist die existenziell unverbindliche
Vorzeich-
nung der formalen Struktur des Daseinsverständnisses
überhaupt. 314
Unter der Leitung dieser Idee vollzog sich die vorbereitende
Analyse der nächsten Alltäglichkeit bis zur ersten
begrifflichen
Umgrenzung der Sorge. Dieses Phänomen ermöglichte die ver-
schärfte Fassung der Existenz und der ihr zugehörigen Bezüge
zu
Faktizität und Verfallen. Die Umgrenzung der Sorgestruktur
gab
die Basis für eine erste ontologische Unterscheidung von
Existenz
und Realität1. Dies führte zu der These: Die Substanz des
Men-
schen ist die Existenz2.
Aber selbst diese formale und existenziell unverbindliche
Exi-
stenzidee birgt doch schon einen bestimmten, wenn auch unge-
hobenen ontologischen »Gehalt« in sich, der ebenso wie die
dagegen abgegrenzte Idee von Realität eine Idee von Sein
über-
haupt »voraussetzt«. Nur in deren Horizont kann sich die
Unter-
scheidung zwischen Existenz und Realität vollziehen. Beide
meinen doch Sein.
Soll aber die ontologisch geklärte Idee des Seins überhaupt
nicht erst gewonnen werden durch die Ausarbeitung des zum
Dasein gehörenden Seinsverständnisses? Dieses jedoch läßt
sich
ursprünglich nur fassen auf dem Grunde einer ursprünglichen
Interpretation des Daseins am Leitfaden der Existenzidee.
Wird
so nicht endlich ganz offenkundig, daß sich das aufgerollte
fun-
damentalontologische Problem in einem »Zirkel« bewegt?
Zwar zeigten wir schon bei der Analyse der Struktur des Ver-
stehens überhaupt, daß, was mit dem unangemessenen Ausdruck
»Zirkel« bemängelt wird, zum Wesen und zu der Auszeichnung
des Verstehens selbst gehört3. Trotzdem muß die Untersuchung
jetzt mit Rücksicht auf die Klärung der hermeneutischen
Situa-
tion der fundamentalontologischen Problematik ausdrücklich
auf
das »Zirkelargument« zurückkommen. Der gegen die
existenziale
Interpretation vorgebrachte »Zirkeleinwand« will sagen: die
Idee
der Existenz und des Seins überhaupt wird »vorausgesetzt«
und
»darnach« das Dasein interpretiert, um daraus die Idee des
Seins
zu gewinnen. Allein was bedeutet das »Voraussetzen«? Wird
mit
der Idee der Existenz ein Satz angesetzt, aus dem wir nach
den
formalen Regeln der Konsequenz weitere Sätze über das Sein
des
Daseins deduzieren? Oder hat dieses Voraus-setzen den
Charak-
ter des verstehenden Entwerfens, so zwar, daß die solches
Verste-
hen ausbildende Interpretation das Auszulegende
1 Vgl. § 43, S.
200 ff.
2 Vgl. S. 212 und S. 117.
3 Vgl. § 32, S.
152 ff. 315
gerade erst selbst zu Wort kommen läßt, damit es von sich
aus
entscheide, ob es als dieses Seiende die Seinsverfassung
hergibt,
auf welche es im Entwurf formalanzeigend erschlossen wurde?
Kann überhaupt Seiendes hinsichtlich seines Seins anders zu
Wort
kommen? In der existenzialen Analytik kann ein »Zirkel« im
Beweis nicht einmal »vermieden« werden, weil sie überhaupt
nicht nach Regeln der »Konsequenzlogik« beweist. Was die
Ver-
ständigkeit, vermeinend, der höchsten Strenge
wissenschaftlicher
Untersuchung zu genügen, mit der Vermeidung des »Zirkels« zu
beseitigen wünscht, ist nichts Geringeres als die
Grundstruktur
der Sorge. Ursprünglich durch sie konstituiert, ist das
Dasein je
schon sich-selbst-vorweg. Seiend hat es sich je schon auf
bestimmte Möglichkeiten seiner Existenz entworfen und in
sol-
chen existenziellen Entwürfen vorontologisch so etwas wie
Exi-
stenz und Sein mitentworfen. Kann aber dann dieses dem
Dasein
wesenhafte Entwerfen der Forschung versagt werden, die, wie
alle Forschung selbst eine Seinsart des erschließenden
Daseins,
das zur Existenz gehörige Seinsverständnis ausbilden und zu
Begriff bringen will?
Der »Zirkeleinwand« kommt aber selbst aus einer Seinsart des
Daseins. Der Verständigkeit des besorgenden Aufgehens im Man
bleibt so etwas wie ein Entwerfen, und gar ein
ontologisches,
notwendig befremdend, weil sie sich »grundsätzlich« dagegen
sperrt. Verständigkeit besorgt nur, sei es »theoretisch«
oder
»praktisch«, das umsichtig übersehbare Seiende. Das
Auszeich-
nende der Verständigkeit liegt darin, daß sie meint, nur das
»tat-
sächliche« Seiende zu erfahren, um sich eines Verstehens von
Sein
entschlagen zu können. Sie verkennt, daß Seiendes nur dann »tat-
sächlich« erfahren werden kann, wenn das Sein schon verstan-
den, wenngleich nicht begriffen ist. Verständigkeit
mißversteht
das Verstehen. Und deshalb muß sie auch das, was über die
Reichweite ihres Verständnisses hinausliegt, bzw. das
Hinausge-
hen dazu, notwendig als »gewaltsam« ausgeben.
Die Rede vom »Zirkel« des Verstehens ist der Ausdruck der
doppelten Verkennung: 1. Daß Verstehen selbst eine Grundart
des Seins des Daseins ausmacht. 2. Daß dieses Sein als Sorge
konstituiert ist. Den Zirkel leugnen, ihn verheimlichen oder
gar
überwinden wollen, heißt, diese Verkennung endgültig
verfesti-
gen. Die Bemühung muß vielmehr darauf zielen, ursprünglich
und ganz in diesen »Kreis« zu springen, um sich schon im
Ansatz
der Daseinsanalyse den vollen Blick auf das zirkelhafte Sein
des
Daseins zu sichern. Nicht zu viel, sondern zu wenig wird für
die
Ontologie des Daseins »vorausge- 316
setzt«, wenn man von einem weltlosen Ich »ausgeht«, um ihm
dann ein Objekt und eine ontologisch grundlose Beziehung zu
diesem zu verschaffen. Zu kurz trägt der Blick, wenn »das
Leben« zum Problem gemacht und dann auch gelegentlich der
Tod berücksichtigt wird. Künstlich dogmatisch beschnitten
ist
der thematische Gegenstand, wenn man sich »zunächst« auf ein
»theoretisches Subjekt« beschränkt, um es dann »nach der
prak-
tischen Seite« in einer beigefügten »Ethik« zu ergänzen.
Das mag zur Klärung des existenzialen Sinnes der hermeneuti-
schen Situation einer ursprünglichen Analytik des Daseins
genü-
gen. Mit der Herausstellung der vorlaufenden
Entschlossenheit ist
das Dasein hinsichtlich seiner eigentlichen Ganzheit in die
Vor-
habe gebracht. Die Eigentlichkeit des Selbstseinkönnens
verbürgt
die Vor-sicht auf die ursprüngliche Existenzialität, und
diese
sichert die Prägung der angemessenen existenzialen
Begrifflich-
keit.
Die Analyse der vorlaufenden Entschlossenheit führte
zugleich
auf das Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen
Wahrheit.
Früher wurde gezeigt, wie das zunächst und zumeist
herrschende
Seinsverständnis das Sein im Sinne von Vorhandenheit
begreift
und so das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit verdeckt1.
Wenn es aber Sein nur »gibt«, sofern Wahrheit »ist«, und je
nach
der Art der Wahrheit das Seinsverständnis sich abwandelt,
dann
muß die ursprüngliche und eigentliche Wahrheit das
Verständnis
des Seins des Daseins und des Seins überhaupt gewährleisten.
Die
ontologische »Wahrheit« der existenzialen Analyse bildet
sich
aus auf dem Grunde der ursprünglichen existenziellen
Wahrheit.
Nicht jedoch bedarf diese notwendig jener. Die
ursprünglichste,
grundlegende existenziale Wahrheit, der die
fundamentalontolo-
gische Problematik – die Seinsfrage überhaupt vorbereitend –
zustrebt, ist die Erschlossenheit des Seinssinnes der Sorge.
Für die
Freilegung dieses Sinnes bedarf es der ungeschmälerten
Bereithal-
tung des vollen Strukturbestandes der Sorge.
§ 64. Sorge und Selbstheit
Die Einheit der konstitutiven Momente der Sorge, der
Existen-
zialität, Faktizität und Verfallenheit, ermöglichte die
erste onto-
logische Umgrenzung der Ganzheit des Strukturganzen des
Daseins. Die Sorge-
1 Vgl. § 44 b, S. 219 ff. 317
Struktur wurde auf die existenziale Formel gebracht:
Sich-vor-
weg-schon-sein-in (einer Welt) als Sein-bei (innerweltlich
begeg-
nendem Seienden). Die Ganzheit der Sorgestruktur erwächst
nicht erst einer Verkoppelung, gleichwohl ist sie
gegliedert1. Die-
ses ontologische Ergebnis mußten wir daraufhin abschätzen,
wieweit es den Forderungen einer ursprünglichen
Interpretation
des Daseins genügt2. Die Besinnung ergab, daß weder das
ganze
Dasein noch sein eigentliches Seinkönnen zum Thema gemacht
war. Der Versuch jedoch, das ganze Dasein phänomenal zu fas-
sen, schien gerade an der Sorgestruktur zu scheitern. Das
Sich-
vorweg gab sich als ein Noch-nicht. Das im Sinne eines
Ausstan-
des charakterisierte Sichvorweg enthüllte sich der
genuin-existen-
zialen Betrachtung aber als Sein zum Ende, das jedes Dasein
im
Grunde seines Seins ist. Imgleichen machten wir deutlich,
daß die
Sorge im Gewissensruf das Dasein zu seinem eigensten
Seinkön-
nen aufruft. Das Anrufverstehen offenbarte sich –
ursprünglich
verstanden – als vorlaufende Entschlossenheit. Sie
beschließt ein
eigentliches Ganzseinkönnen des Daseins in sich. Die
Sorgestruk-
tur spricht nicht gegen ein mögliches Ganzsein, sondern ist
die
Bedingung der Möglichkeit solchen existenziellen
Seinkönnens.
Im Zuge dieser Analysen wurde deutlich, daß im Phänomen der
Sorge die existenzialen Phänomene von Tod, Gewissen und
Schuld verankert liegen. Die Gliederung der Ganzheit des
Struk-
tur ganzen ist noch reicher und damit die existenziale Frage
nach
der Einheit dieser Ganzheit noch dringlicher geworden.
Wie sollen wir diese Einheit begreifen? Wie kann das Dasein
einheitlich in den genannten Weisen und Möglichkeiten seines
Seins existieren? Offenbar nur so, daß es dieses Sein in
seinen
wesenhaften Möglichkeiten selbst ist, daß je ich dieses
Seiende
bin. Das »Ich« scheint die Ganzheit des Strukturganzen
»zusam-
menzuhalten«. Das »Ich« und das »Selbst« wurden von jeher in
der »Ontologie« dieses Seienden als der tragende Grund (Sub-
stanz bzw. Subjekt) begriffen. Die vorliegende Analytik
stieß
denn auch schon bei der vorbereitenden Charakteristik der
All-
täglichkeit auf die Frage nach dem Wer des Daseins. Es
zeigte
sich, zunächst und zumeist ist das Dasein nicht es selbst,
sondern
im Man-selbst verloren. Dieses ist eine existenzielle
Modifikation
des eigentlichen Selbst. Die Frage nach der ontologischen
Verfas-
sung der Selbstheit blieb unbeantwortet. Zwar wurde
1 Vgl. §
41, S. 191 ff.
2 Vgl. §
45, S. 231 ff. 318
schon grundsätzlich der Leitfaden des Problems fixiert1:
wenn
das Selbst zu den wesenhaften Bestimmungen des Daseins
gehört,
dessen »Essenz« aber in der Existenz liegt, dann müssen
Ichheit
und Selbstheit existenzial begriffen werden. Negativ zeigte
sich
denn auch, daß die ontologische Charakteristik des Man jede
Verwendung von Kategorien der Vorhandenheit (Substanz) ver-
bietet. Grundsätzlich wurde klar: die Sorge ist ontologisch
nicht
aus Realität abzuleiten oder mit Kategorien der Realität
aufzu-
bauen2. Die Sorge birgt schon das Phänomen des Selbst in
sich,
wenn anders die These zurecht besteht, der Ausdruck »Selbst-
sorge« in Anmessung an Fürsorge als Sorge für Andere sei
eine
Tautologie3. Dann verschärft sich aber das Problem der
ontologi-
schen Bestimmung der Selbstheit des Daseins zur Frage nach
dem
existenzialen »Zusammenhang« zwischen Sorge und Selbstheit.
Die Aufklärung der Existenzialität des Selbst nimmt ihren
»natürlichen« Ausgang von der alltäglichen Selbstauslegung
des
Daseins, das sich über »sich selbst« ausspricht im
Ich-sagen. Eine
Verlautbarung ist dabei nicht notwendig. Mit »Ich« meint
dieses
Seiende sich selbst. Der Gehalt dieses Ausdrucks gilt als
schlecht-
hin einfach. Er meint je nur mich und nichts weiter. Als
dieses
Einfache ist das »Ich« auch keine Bestimmung anderer Dinge,
selbst nicht Prädikat, sondern das absolute »Subjekt«. Das
im
Ich-sagen Aus- und An-gesprochene wird immer als dasselbe
sich
Durchhaltende angetroffen. Die Charaktere der »Simplizität«,
»Substantialität« und »Personalität«, die Kant zum Beispiel
sei-
ner Lehre »Von den Paralogismen der reinen Vernunft«4
zugrundegelegt, entspringen einer echten
vorphänomenologischen
Erfahrung. Die Frage bleibt, ob das ontisch dergestalt
Erfahrene
ontologisch mit Hilfe der genannten »Kategorien«
interpretiert
werden darf.
Zwar zeigt Kant in strenger Anmessung an den im Ich-sagen
gegebenen phänomenalen Bestand, daß die aus den genannten
Charakteren erschlossenen ontischen Thesen über die
Seelensub-
stanz ohne Recht sind. Aber hierdurch wird lediglich eine
onti-
sche Fehlerklärung des Ich abgewiesen. Damit ist jedoch
keines-
wegs die ontologische Interpretation der Selbstheit gewonnen
oder auch nur gesichert und positiv vorbereitet. Wenngleich
Kant
strenger als seine Vorgänger den phänomenalen Gehalt des
Ich-
sagens festzuhalten sucht, so gleitet er
1 Vgl. § 25, S.
114 ff.
2 Vgl. § 43 c, S.
211.
3 Vgl. § 41, S. 193.
4 Vgl. Kritik der reinen Vernunft 2. A. [B] S. 399; vor
allem die
Bearbeitung in der 1. Aufl. [A] S. 348 ff. 319
doch wieder in dieselbe unangemessene Ontologie des
Substanzi-
alen zurück, deren ontische Fundamente er theoretisch dem
Ich
abgesprochen hat. Das soll genauer gezeigt werden, um
dadurch
den ontologischen Sinn des Ansatzes der Analyse der
Selbstheit
im Ich-sagen zu fixieren. Die Kantische Analyse des »Ich
denke«
soll jetzt nur soweit zur Illustration beigezogen werden,
als es für
die Klärung der genannten Problematik gefordert ist1.
Das »Ich« ist ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe
begleitet.
Mit ihm wird »nichts weiter, als ein transzendentales
Subjekt der
Gedanken vorgestellt«. Das »Bewußtsein an sich (ist) nicht
sowohl eine Vorstellung ..., sondern eine Form derselben
über-
haupt«2. Das »Ich denke« ist »die Form der Apperzeption, die
jeder Erfahrung anhängt und ihr vorgeht«3.
Kant faßt den phänomenalen Gehalt des »Ich« mit Recht in
den Ausdruck »Ich denke« oder, wenn die Einbeziehung der
»praktischen Person« in die »Intelligenz« mitbeachtet wird,
als
»Ich handle«. Das Ich-sagen muß im Sinne Kants als
Ich-denke-
sagen gefaßt werden. Kant sucht den phänomenalen Gehalt des
Ich als res cogitans zu fixieren. Wenn er dabei dieses Ich
»logi-
sches Subjekt« nennt, so besagt das nicht, das Ich überhaupt
sei
ein bloß auf logischem Wege gewonnener Begriff. Das Ich ist
vielmehr das Subjekt des logischen Verhaltens, des
Verbindens.
Das »Ich denke« besagt: Ich verbinde. Alles Verbinden ist
»Ich
verbinde«. In jedem Zusammennehmen und Beziehen liegt immer
schon das Ich zugrunde – Øpoke?menon. Daher ist das
Subjektum
»Bewußtsein an sich« und keine Vorstellung, vielmehr die
»Form« derselben. Das will sagen: das Ich denke ist kein
Vorge-
stelltes, sondern die formale Struktur des Vorstellens als
solchen,
wodurch so etwas wie Vorgestelltes erst möglich wird. Form
der
Vorstellung meint weder einen Rahmen noch einen allgemeinen
Begriff, sondern das, was als eƒdoj jedes Vorgestellte und
Vor-
stellen zu dem macht, was es ist. Das Ich, als Form der
Vorstel-
lung verstanden, besagt dasselbe wie: es ist »logisches
Subjekt«.
Das Positive an der Kantischen Analyse ist ein Doppeltes:
ein-
mal sieht er die Unmöglichkeit der ontischen Rückführung des
Ich auf eine
1 Zur Analyse der transzendentalen Apperzeption vgl. jetzt:
M.
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik. 2. unveränderte
Auflage 1951, III. Abschnitt.
2 Kr. d. r. V. 2. A. [B] S. 404.
3 a. a. O. A. S. 354. 320
Substanz, zum anderen hält er das Ich als »Ich denke« fest.
Gleichwohl faßt er dieses Ich wieder als Subjekt und damit
in
einem ontologisch unangemessenen Sinne. Denn der
ontologische
Begriff des Subjekts charakterisiert nicht die Selbstheit
des Ich
qua Selbst, sondern die Selbigkeit und Beständigkeit eines
immer
schon Vorhandenen. Das Ich ontologisch als Subjekt
bestimmen,
besagt, es als ein immer schon Vorhandenes ansetzen. Das
Sein
des Ich wird verstanden als Realität der res cogitans1.
Woran liegt es aber, daß Kant den echten phänomenalen
Ansatz beim »Ich denke« ontologisch nicht auswerten kann und
zum »Sub-
1 Daß Kant den ontologischen Charakter des Selbst der Person
im
Grunde doch innerhalb des Horizontes der unangemessenen
Ontologie
des innerweltlich Vorhandenen, als »Substanziale« gefaßt
hat, wird
deutlich aus dem Material, das H. Heimsoeth verarbeitete in
seinem
Aufsatz: Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der
Kantischen
Philosophie. (Sonderdruck aus Immanuel Kant. Festschrift zur
zweiten
Jahrhundertfeier seines Geburtstages. 1924.) Die Tendenz des
Aufsatzes
geht über einen nur historischen Bericht hinaus und zielt
auf das
»kategoriale« Problem der Personalität. Heimsoeth sagt: »Zu
wenig
wird ja immer noch die enge Ineinanderarbeit von
theoretischer und
praktischer Vernunft, wie Kant sie übt und plant, beachtet.
Zu wenig
achtet man darauf, wie hier sogar die Kategorien (im
Gegensatz zu ihrer
naturalistischen Erfüllung in den »Grundsätzen«)
ausdrücklich Geltung
behalten und unter dem Primat der praktischen Vernunft eine
neue, vom
naturalistischen Rationalismus losgelöste Anwendung finden
sollen
(Substanz zum Beispiel in »Person« und personaler
Unsterblichkeitsdauer, Kausalität als »Kausalität aus
Freiheit«,
Wechselwirkung in der »Gemeinschaft der vernünftigen Wesen«
usw.).
Sie dienen einem neuen Zugang zum Unbedingten als
gedankliche
Fixierungsmittel, ohne darum rationalisierende
Gegenstandserkenntnis
geben zu wollen.« S. 31f. – Aber hier ist doch das
eigentliche
ontologische Problem übersprungen. Die Frage kann nicht
ausbleiben,
ob diese »Kategorien« ursprüngliche Geltung behalten können
und nur
anders angewendet zu werden brauchen oder ob sie nicht von
Grund aus
die ontologische Problematik des Daseins verkehren. Auch
wenn die
theoretische Vernunft in die praktische eingebaut wird,
bleibt das
existenzial-ontologische Problem des Selbst nicht nur
ungelöst, sondern
ungestellt. Auf welchem ontologischen Boden soll sich denn
die
»Ineinanderarbeit« von theoretischer und praktischer
Vernunft
vollziehen? Bestimmt das theoretische Verhalten die Seinsart
der Person
oder das praktische oder keines von beiden – und welches
dann?
Offenbaren die Paralogismen trotz ihrer fundamentalen
Bedeutung nicht
die ontologische Bodenlosigkeit der Problematik des Selbst
von
Descartes’ res cogitans bis zu Hegels Begriff des Geistes?
Man braucht
gar nicht »naturalistisch« und »rationalistisch« zu denken
und kann
doch in einer nur verhängnisvolleren – weil scheinbar
selbstverständlichen Botmäßigkeit der Ontologie des
»Substanzialen«
stehen. – Vgl. als wesentliche Ergänzung des genannten
Aufsatzes:
Heimsoeth, Die metaphysischenMotive in 321
jekt«, das heißt zum Substanziale zurückfallen muß? Das Ich
ist
nicht nur »Ich denke« sondern »Ich denke etwas«. Allein
betont
Kant nicht selbst immer wieder, das Ich bleibe auf seine
Vorstel-
lungen bezogen und sei ohne sie nichts?
Diese Vorstellungen aber sind für ihn das »Empirische«, das
vom Ich »begleitet« wird, die Erscheinungen, denen es
»anhängt«. Kant zeigt aber nirgends die Seinsart dieses
»Anhän-
gens« und »Begleitens«. Im Grunde aber wird sie verstanden
als
ständiges Mitvorhandensein des Ich mit seinen Vorstellungen.
Kant vermied zwar die Abschnürung des Ich vom Denken, ohne
jedoch das »Ich denke« selbst in seinem vollen
Wesensbestande
als »Ich denke etwas« anzusetzen und vor allem ohne die
ontolo-
gische »Voraussetzung« für das »Ich denke etwas« als
Grundbe-
stimmtheit des Selbst zu sehen. Denn auch der Ansatz des
»Ich
denke etwas« ist ontologisch unterbestimmt, weil das »Etwas«
unbestimmt bleibt. Wird darunter verstanden ein
inner-weltliches
Seiendes, dann liegt darin unausgesprochen die Voraussetzung
von Welt; und gerade dieses Phänomen bestimmt die
Seinsverfas-
sung des Ich mit, wenn anders es soll so etwas sein können
wie
»Ich denke etwas«. Das Ich-sagen meint das Seiende, das je
ich
bin als: »Ich-bin-in-einer-Welt«. Kant sah das Phänomen der
Welt nicht und war konsequent genug, die »Vorstellungen« vom
apriorischen Gehalt des »Ich denke« fernzuhalten. Aber damit
wurde das Ich wieder auf ein isoliertes Subjekt, das in
ontolo-
gisch völlig unbestimmter Weise Vorstellungen begleitet,
zurück-
gedrängt1.
Im Ich-sagen spricht sich das Dasein als In-der-Welt-sein
aus.
Aber meint denn das alltägliche Ich-sagen sich als
in-der-Welt-
seiend? Hier ist zu scheiden. Wohl meint das Dasein
ich-sagend
das Seiende, das es je selbst ist. Die alltägliche
Selbstauslegung
hat aber die Tendenz, sich von der besorgten »Welt« her zu
ver-
stehen. Im ontischen Sich-meinen versieht es sich bezüglich der
Seinsart des Seienden, das es selbst ist. Und das gilt
vornehmlich
von der Grundverfassung des Daseins, dem In-der-Welt-sein2.
der Ausbildung des kritischen Idealismus. Kantstudien Bd.
XXIX
(1924), S. 121 ff. Zur Kritik an Kants Ich-begriff vgl. auch:
Max Scheler,
Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.
II. Teil.
Dieses Jahrbuch Bd. II (1916), S. 246 ff. Über »Person« und
das »Ich«
der transzendentalen Apperzeption.
1 Vgl. die phänomenologische Kritik an Kants »Widerlegung
des
Idealismus«. § 43 a, S. 202 ff.
2 Vgl. §§ 12 und 13, S. 52 ff. 322
Wodurch ist dieses »flüchtige« Ich-sagen motiviert? Durch
das
Verfallen des Daseins, als welches es vor sich selbst flieht
in das
Man. Die »natürliche« Ich-Rede vollzieht das Man-selbst. Im
»Ich« spricht sich das Selbst aus, das ich zunächst und
zumeist
nicht eigentlich bin. Für das Aufgehen in der alltäglichen
Vielfäl-
tigkeit und dem Sich-jagen des Besorgten zeigt sich das
Selbst des
selbstvergessenen Ich-besorge als das ständig selbige, aber
unbe-
stimmt-leere Einfache. Ist man doch das, was man besorgt.
Daß
die »natürliche« ontische Ich-Rede den phänomenalen Gehalt
des
im Ich gemeinten Daseins übersieht, gibt der ontologischen
Inter-
pretation des Ich kein Recht, dieses Übersehen mitzumachen
und
der Problematik des Selbst einen unangemessenen
»kategorialen«
Horizont aufzuzwingen.
Allerdings gewinnt die ontologische Interpretation des »Ich«
keineswegs dadurch schon die Lösung des Problems, daß sie
der
alltäglichen Ich-Rede die Gefolgschaft versagt, wohl aber
die
Vorzeichnung der Richtung, in der weitergefragt werden muß.
Das Ich meint das Seiende, das man »in-der-Welt-seiend« ist.
Das
Schon-sein-in-einer-Welt als
Sein-bei-innerweltlich-Zuhandenem
besagt aber gleichursprünglich Sich-vorweg. »Ich« meint das
Seiende, dem es um das Sein des Seienden, das es ist, geht.
Mit
»Ich« spricht sich die Sorge aus, zunächst und zumeist in
der
»flüchtigen« Ich-Rede des Besorgens. Das Man-selbst sagt am
lautesten und häufigsten Ich-Ich, weil es im Grunde nicht
eigent-
lich es selbst ist und dem eigentlichen Seinkönnen
ausweicht.
Wenn die ontologische Verfassung des Selbst sich weder auf
eine
Ichsubstanz noch auf ein »Subjekt« zurückleiten läßt,
sondern
umgekehrt das alltäglich-flüchtige Ich-Ich-sagen aus dem
eigent-
lichen Seinkönnen verstanden werden muß, dann folgt hieraus
noch nicht der Satz: Das Selbst ist dann der ständig
vorhandene
Grund der Sorge. Die Selbstheit ist existenzial nur
abzulesen am
eigentlichen Selbstseinkönnen, das heißt an der
Eigentlichkeit des
Seins des Daseins als Sorge. Aus ihr erhält die Ständigkeit
des
Selbst als vermeintliche Beharrlichkeit des Subjektum seine
Auf-
klärung. Das Phänomen des eigentlichen Seinkönnens öffnet
aber
auch den Blick für die Ständigkeit des Selbst in dem Sinn
des
Standgewonnenhabens. Die Ständigkeit des Selbst im Doppel-
sinne der beständigen Standfestigkeit ist die eigentliche
Gegen-
möglichkeit zur Unselbst-ständigkeit des unentschlossenen
Ver-
fallens. Die Selbst-ständigkeit bedeutet existenzial nichts
anderes
als die vorlaufende Entschlossenheit. Die ontologische
Struktur
dieser enthüllt die Existenzialität der Selbstheit des Selbst.
Das Dasein ist eigentlich selbst in der ursprünglichen
Verein-
zelung der verschwiegenen, sich Angst zumutenden
Entschlossen-
heit. Das 323
eigentliche Selbstsein sagt als schweigendes gerade nicht
»Ich-
Ich«, sondern »ist« in der Verschwiegenheit das geworfene
Sei-
ende, als welches es eigentlich sein kann. Das Selbst, das
die Ver-
schwiegenheit der entschlossenen Existenz enthüllt, ist der
ursprüngliche phänomenale Boden für die Frage nach dem Sein
des »Ich«. Die phänomenale Orientierung am Seinssinn des
eigentlichen Selbstseinkönnens setzt erst in den Stand zu
erörtern,
welches ontologische Recht der Substanzialität, Simplizität
und
Personalität als Charakteren der Selbstheit zugewiesen
werden
kann. Die ontologische Frage nach dem Sein des Selbst muß
her-
ausgedreht werden aus der durch das vorherrschende Ich-sagen
ständig nahegelegten Vorhabe eines beharrlich vorhandenen
Selbstdinges.
Die Sorge bedarf nicht der Fundierung in einem Selbst, sondern
die Existenzialität als Konstitutivum der Sorge gibt die
ontologi-
sche Verfassung der Selbst-ständigkeit des Daseins, zu der,
dem
vollen Strukturgehalt der Sorge entsprechend, das faktische
Ver-
fallensein in die Unselbst-ständigkeit gehört. Die vollbegriffene
Sorgestruktur schließt das Phänomen der Selbstheit ein.
Dessen
Klärung vollzieht sich als Interpretation des Sinnes der
Sorge, als
welche die Seinsganzheit des Daseins bestimmt wurde.
§ 65. Die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge
Die Kennzeichnung des »Zusammenhangs« zwischen Sorge
und Selbstheit hatte nicht nur die Klärung des
Sonderproblems
der Ich-heit zum Ziel, sie sollte der letzten Vorbereitung
der phä-
nomenalen Erfassung der Ganzheit des Strukturganzen des
Daseins dienen. Es bedarf der ungebrochenen Disziplin der
exi-
stenzialen Fragestellung, soll nicht doch zuletzt die
Seinsart des
Daseins sich für den ontologischen Blick in einen,
wenngleich
ganz indifferenten Modus der Vorhandenheit verkehren. Das
Dasein wird »wesentlich« in der eigentlichen Existenz, die
sich
als vorlaufende Entschlossenheit konstituiert. Dieser Modus
der
Eigentlichkeit der Sorge enthält die ursprüngliche
Selbst-ständig-
keit und Ganzheit des Daseins. Im unzerstreuten, existenzial
ver-
stehenden Blick auf sie muß sich die Freilegung des
ontologischen
Sinnes des Seins des Daseins vollziehen.
Was wird ontologisch mit dem Sinn der Sorge gesucht? Was
bedeutet Sinn? Das Phänomen begegnete der Untersuchung im
Zusam- 324
menhang der Analyse von Verstehen und Auslegung1. Danach ist
Sinn das, worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält, ohne
daß
es selbst ausdrücklich und thematisch in den Blick kommt.
Sinn
bedeutet das Woraufhin des primären Entwurfs, aus dem her
etwas als das, was es ist, in seiner Möglichkeit begriffen
werden
kann. Das Entwerfen erschließt Möglichkeiten, das heißt
solches,
das ermöglicht.
Das Woraufhin eines Entwurfs freilegen, besagt, das er-
schließen, was das Entworfene ermöglicht. Diese Freilegung
ver-
langt methodisch, dem einer Auslegung zugrundeliegenden,
meist
unausdrücklichen Entwurf so nachzugehen, daß das im Entwer-
fen Entworfene hinsichtlich seines Woraufhin erschlossen und
faßbar wird. Den Sinn der Sorge herausstellen, heißt dann:
den
der ursprünglichen existenzialen Interpretation des Daseins
zugrundeliegenden und sie leitenden Entwurf so verfolgen,
daß in
seinem Entworfenen dessen Woraufhin sichtbar wird. Das Ent-
worfene ist das Sein des Daseins und zwar erschlossen in
dem,
was es als eigentliches Ganzseinkönnen konstituiert. Das
Wor-
aufhin dieses Entworfenen, des erschlossenen, so
konstituierten
Seins, ist das, was diese Konstitution des Seins als Sorge
selbst
ermöglicht. Mit der Frage nach dem Sinn der Sorge ist
gefragt:
was ermöglicht die Ganzheit des gegliederten Strukturganzen
der
Sorge in der Einheit ihrer ausgefalteten Gliederung?
Streng genommen bedeutet Sinn das Woraufhin des primären
Entwurfs des Verstehens von Sein. Das sich selbst
erschlossene
In-der-Welt-sein versteht mit dem Sein des Seienden, das es
selbst
ist, gleichursprünglich das Sein des innerweltlich
entdeckten Sei-
enden, wenngleich unthematisch und sogar noch undifferenziert
in seinen primären Modi der Existenz und Realität. Alle
ontische
Erfahrung von Seiendem, das umsichtige Berechnen des Zuhan-
denen sowohl wie das positiv wissenschaftliche Erkennen des
Vorhandenen, gründen in jeweils mehr oder minder
durchsichti-
gen Entwürfen des Seins des entsprechenden Seienden. Diese
Entwürfe aber bergen in sich ein Woraufhin, aus dem sich
gleich-
sam das Verstehen von Sein nährt.
Wenn wir sagen: Seiendes »hat Sinn«, dann bedeutet das, es
ist
in seinem Sein zugänglich geworden, das allererst, auf sein
Wor-
aufhin entworfen, »eigentlich« »Sinn hat«. Das Seiende »hat«
nur Sinn, weil es, als Sein im vorhinein erschlossen, im
Entwurf
des Seins, das heißt, aus dessen Woraufhin verständlich
wird. Der
primäre Entwurf
1 Vgl. § 32, S. 148 ff., besonders S. 151 f. 325
des Verstehens von Sein »gibt« den Sinn. Die Frage nach dem
Sinn des Seins eines Seienden macht das Woraufhin des allem
Sein von Seiendem zugrundeliegenden Seinsverstehens zum
Thema.
Das Dasein ist ihm selbst hinsichtlich seiner Existenz
eigentlich
oder uneigentlich erschlossen. Existierend versteht es sich,
so
zwar, daß dieses Verstehen kein pures Erfassen darstellt,
sondern
das existenzielle Sein des faktischen Seinkönnens ausmacht.
Das
erschlossene Sein ist das eines Seienden, dem es um dieses
Sein
geht. Der Sinn dieses Seins, das heißt der Sorge, der diese
in ihrer
Konstitution ermöglicht, macht ursprünglich das Sein des
Sein-
könnens aus. Der Seinssinn des Daseins ist nicht ein freischwe-
bendes Anderes und »Außerhalb« seiner selbst, sondern das
sich
verstehende Dasein selbst. Was ermöglicht das Sein des
Daseins
und damit dessen faktische Existenz?
Das Entworfene des ursprünglichen existenzialen Entwurfs der
Existenz enthüllte sich als vorlaufende Entschlossenheit.
Was
ermöglicht dieses eigentliche Ganzsein des Daseins
hinsichtlich
der Einheit seines gegliederten Strukturganzen? Formal
existen-
zial gefaßt, ohne jetzt ständig den vollen Strukturgehalt zu
nen-
nen, ist die vorlaufende Entschlossenheit das Sein zum
eigensten
ausgezeichneten Seinkönnen. Dergleichen ist nur so möglich,
daß
das Dasein überhaupt in seiner eigensten Möglichkeit auf
sich
zukommen kann und die Möglichkeit in diesem Sich-auf-sich-
zukommenlassen als Möglichkeit aushält, das heißt existiert.
Das
die ausgezeichnete Möglichkeit aushaltende, in ihr sich auf
sich
Zukommen-lassen ist das ursprüngliche Phänomen der Zukunft.
Wenn zum Sein des Daseins das eigentliche bzw. uneigentliche
Sein zum Tode gehört, dann ist dieses nur möglich als
zukünfti-
ges in dem jetzt angezeigten und noch näher zu bestimmenden
Sinn. »Zukunft« meint hier nicht ein Jetzt, das, noch nicht
»wirklich« geworden, einmal erst sein wird, sondern die
Kunft,
in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich
zukommt. Das Vorlaufen macht das Dasein eigentlich
zukünftig,
so zwar, daß das Vorlaufen selbst nur möglich ist, sofern
das
Dasein als seiendes überhaupt schon immer auf sich zukommt,
das heißt in seinem Sein überhaupt zukünftig ist.
Die vorlaufende Entschlossenheit versteht das Dasein in
seinem
wesenhaften Schuldigsein. Dieses Verstehen besagt, das
Schuldig-
sein existierend übernehmen, als geworfener Grund der
Nichtig-
keit sein. Übernahme der Geworfenheit aber bedeutet, das
Dasein
in dem, wie es je schon war, eigentlich sein. Die Übernahme
der
Geworfenheit ist aber nur so möglich, daß das zukünftige
Dasein
sein eigenstes »wie 326
es je schon war«, das heißt sein »Gewesen«, sein kann. Nur
sofern Dasein überhaupt ist als ich bin-gewesen, kann es
zukünf-
tig auf sich selbst so zukommen, daß es zurück-kommt.
Eigent-
lich zukünftig ist das Dasein eigentlich gewesen. Das
Vorlaufen in
die äußerste und eigenste Möglichkeit ist das verstehende
Zurückkommen auf das eigenste Gewesen. Dasein kann nur
eigentlich gewesen sein, sofern es zukünftig ist. Die
Gewesenheit
entspringt in gewisser Weise der Zukunft.
Die vorlaufende Entschlossenheit erschließt die jeweilige
Situa-
tion des Da so, daß die Existenz handelnd das faktisch
umwelt-
lich Zuhandene umsichtig besorgt. Das entschlossene Sein bei
dem Zuhandenen der Situation, das heißt das handelnde
Begegnenlassen des umweltlich Anwesenden ist nur möglich in
einem Gegenwärtigen dieses Seienden. Nur als Gegenwart im
Sinne des Gegenwärtigens kann die Entschlossenheit sein, was
sie
ist: das unverstellte Begegnenlassen dessen, was sie
handelnd
ergreift.
Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die Entschlos-
senheit gegenwärtigend in die Situation. Die Gewesenheit
ent-
springt der Zukunft, so zwar, daß die gewesene (besser gewe-
sende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt. Dies
dergestalt
als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen
nennen wir die Zeitlichkeit. Nur sofern das Dasein als
Zeitlich-
keit bestimmt ist, ermöglicht es ihm selbst das
gekennzeichnete
eigentliche Ganzseinkönnen der vorlaufenden
Entschlossenheit.
Zeitlichkeit enthüllt sich als der Sinn der eigentlichen
Sorge.
Der phänomenale, aus der Seinsverfassung der vorlaufenden
Entschlossenheit geschöpfte Gehalt dieses Sinnes erfüllt die
Bedeutung des Terminus Zeitlichkeit. Der terminologische
Gebrauch dieses Ausdrucks muß zunächst alle aus dem vulgären
Zeitbegriff sich andrängenden Bedeutungen von »Zukunft«,
»Vergangenheit« und »Gegenwart« fernhalten. Das gilt auch
von
den Begriffen einer »subjektiven« und »objektiven«, bzw.
»immanenten« und »transzendenten« »Zeit«. Sofern sich das
Dasein selbst zunächst und zumeist uneigentlich versteht,
darf
vermutet werden, daß die »Zeit« des vulgären Zeitverstehens
zwar ein echtes Phänomen darstellt, aber ein abkünftiges. Es
entspringt der uneigentlichen Zeitlichkeit, die selbst ihren
eigenen
Ursprung hat. Die Begriffe der »Zukunft«, »Vergangenheit«
und
»Gegenwart« sind zunächst aus dem uneigentlichen Zeitverste-
hen erwachsen. Die terminologische Umgrenzung der ent-
sprechenden ursprünglichen und eigent- 327
lichen Phänomene kämpft mit derselben Schwierigkeit, der
alle
ontologische Terminologie verhaftet bleibt. Gewaltsamkeiten
sind in diesem Untersuchungsfelde nicht Willkür, sondern
sach-
gegründete Notwendigkeit. Um jedoch den Ursprung der unei-
gentlichen Zeitlichkeit aus der ursprünglichen und
eigentlichen
lückenlos aufweisen zu können, bedarf es erst einer
konkreten
Ausarbeitung des nur erst roh gekennzeichneten
ursprünglichen
Phänomens.
Wenn die Entschlossenheit den Modus der eigentlichen Sorge
ausmacht, sie selbst aber nur durch die Zeitlichkeit möglich
ist,
dann muß das im Hinblick auf die Entschlossenheit gewonnene
Phänomen selbst nur eine Modalität der Zeitlichkeit
darstellen,
die überhaupt Sorge als solche ermöglicht. Die Seinsganzheit
des
Daseins als Sorge besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in (einer
Welt)
als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Bei der
ersten
Fixierung dieser gegliederten Struktur wurde darauf
hingewiesen,
daß mit Rücksicht auf diese Gliederung die ontologische
Frage
noch weiter zurückgetrieben werden müsse bis zur Freilegung
der
Einheit der Ganzheit der Strukturmannigfaltigkeit1. Die
ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur liegt in der
Zeitlichkeit.
Das Sich-vorweg gründet in der Zukunft. Das Schon-sein-in...
bekundet in sich die Gewesenheit. Das Sein-bei... wird
ermöglicht
im Gegenwärtigen. Hierbei verbietet es sich nach dem
Gesagten
von selbst, das »Vor« im »Vorweg« und das »Schon« aus dem
vulgären Zeitverständnis zu fassen. Das »Vor« meint nicht
das
»Vorher« im Sinne des »Noch-nicht-jetzt – aber später«;
eben-
sowenig bedeutet das »Schon« ein »nicht-mehr-jetzt – aber
frü-
her«. Hätten die Ausdrücke »Vor« und »Schon« diese zeithafte
Bedeutung, die sie auch haben können, dann wäre mit der
Zeit-
lichkeit der Sorge gesagt, sie sei etwas, das »früher« und
»spä-
ter«, »noch nicht« und »nicht mehr« zumal ist. Die Sorge
wäre
dann begriffen als Seiendes, das »in der Zeit« vorkommt und
abläuft. Das Sein eines Seienden vom Charakter des Daseins
würde zu einem Vorhandenen. Wenn dergleichen unmöglich ist,
dann muß die zeithafte Bedeutung der genannten Ausdrücke
eine
andere sein. Das »vor« und »vorweg« zeigt die Zukunft an,
als
welche sie überhaupt erst ermöglicht, daß Dasein so sein
kann,
daß es ihm um sein Seinkönnen geht. Das in der Zukunft grün-
dende Sichentwerfen auf das »Umwillen seiner selbst« ist ein
Wesenscharakter der Existenzialität. Ihr primärer Sinn ist
die
Zukunft.
1 Vgl. § 41, S. 196. 328
Imgleichen meint das »Schon« den existenzialen zeitlichen
Seinssinn des Seienden, das, sofern es ist, je schon
Geworfenes ist.
Nur weil Sorge in der Gewesenheit gründet, kann das Dasein
als
das geworfene Seiende, das es ist, existieren. »Solange« das
Dasein faktisch existiert, ist es nie vergangen, wohl aber
immer
schon gewesen im Sinne des »ich bin-gewesen«. Und es kann
nur
gewesen sein, solange es ist. Vergangen dagegen nennen wir
Sei-
endes, das nicht mehr vorhanden ist. Daher kann sich das
Dasein
existierend nie als vorhandene Tatsache feststellen, die
»mit der
Zeit« entsteht und vergeht und stückweise schon vergangen
ist.
Es »findet sich« immer nur als geworfenes Faktum. In der
Befindlichkeit wird das Dasein von ihm selbst überfallen als
das
Seiende, das es, noch seiend, schon war, das heißt gewesen
stän-
dig ist. Der primäre existenziale Sinn der Faktizität liegt
in der
Gewesenheit. Die Formulierung der Sorgestruktur zeigt mit
den
Ausdrücken »Vor« und »Schon« den zeitlichen Sinn von
Existen-
zialität und Faktizität an.
Dagegen fehlt eine solche Anzeige für das dritte
konstitutive
Moment der Sorge: das verfallende Sein-bei... Das soll nicht
bedeuten, das Verfallen gründe nicht auch in der
Zeitlichkeit,
sondern andeuten, daß das Gegenwärtigen, in dem das
Verfallen
an das besorgte Zuhandene und Vorhandene primär gründet, im
Modus der ursprünglichen Zeitlichkeit eingeschlossen bleibt
in
Zukunft und Gewesenheit. Entschlossen hat sich das Dasein
gerade zurückgeholt aus dem Verfallen, um desto eigentlicher
im
»Augenblick« auf die erschlossene Situation »da« zu sein.
Die Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit von Existenz,
Faktizität
und Verfallen und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit
der
Sorgestruktur. Die Momente der Sorge sind durch keine Anhäu-
fung zusammengestückt, so wenig wie die Zeitlichkeit selbst
sich
erst aus Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart »mit der Zeit«
zusammensetzt. Die Zeitlichkeit »ist« überhaupt kein
Seiendes.
Sie ist nicht, sondern zeitigt sich. Warum wir gleichwohl
nicht
umhinkönnen zu sagen: »Zeitlichkeit ‘ist’ – der Sinn der
Sorge«,
»Zeitlichkeit ‘ist’ – so und so bestimmt«, das kann erst
verständ-
lich gemacht werden aus der geklärten Idee des Seins und des
»ist« überhaupt. Zeitlichkeit zeitigt und zwar mögliche
Weisen
ihrer selbst. Diese ermöglichen die Mannigfaltigkeit der
Seins-
modi des Daseins, vor allem die Grundmöglichkeit der eigent-
lichen und uneigentlichen Existenz.
Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen
Charaktere des »Auf-sich-zu«, des »Zurück auf«, des
»Begegnenlassens 329
von«. Die Phänomene des zu..., auf..., bei... offenbaren die
Zeit-
lichkeit als das œkstatikÒn schlechthin. Zeitlichkeit ist
das
ursprüngliche »Außer-sich« an und für sich selbst. Wir
nennen
daher die charakterisierten Phänomene Zukunft, Gewesenheit,
Gegenwart die Ekstasen der Zeitlichkeit. Sie ist nicht
vordem ein
Seiendes, das erst aus sich heraustritt, sondern ihr Wesen
ist Zei-
tigung in der Einheit der Ekstasen. Das Charakteristische
der
dem vulgären Verständnis zugänglichen »Zeit« besteht u. a.
gerade darin, daß in ihr als einer puren, anfangs- und
endlosen
Jetzt-folge der ekstatische Charakter der ursprünglichen
Zeitlich-
keit nivelliert ist. Diese Nivellierung selbst gründet aber
ihrem
existenzialen Sinne nach in einer bestimmten möglichen
Zeiti-
gung, gemäß der die Zeitlichkeit als uneigentliche die
genannte
»Zeit« zeitigt. Wenn daher die der Verständigkeit des
Daseins
zugängliche »Zeit« als nicht ursprünglich und vielmehr
entsprin-
gend aus der eigentlichen Zeitlichkeit nachgewiesen wird,
dann
rechtfertigt sich gemäß dem Satze, a potiori fit
denominatio, die
Benennung der jetzt freigelegten Zeitlichkeit als
ursprüngliche
Zeit.
Bei der Aufzählung der Ekstasen haben wir immer die Zukunft
an erster Stelle genannt. Das soll anzeigen, daß die Zukunft
in
der ekstatischen Einheit der ursprünglichen und eigentlichen
Zeitlichkeit einen Vorrang hat, wenngleich die Zeitlichkeit
nicht
erst durch eine Anhäufung und Abfolge der Ekstasen entsteht,
sondern je in der Gleichursprünglichkeit derselben sich
zeitigt.
Aber innerhalb dieser sind die Modi der Zeitigung
verschieden.
Und die Verschiedenheit liegt darin, daß sich die Zeitigung
aus
den verschiedenen Ekstasen primär bestimmen kann. Die
ursprüngliche und eigentliche Zeitlichkeit zeitigt sich aus
der
eigentlichen Zukunft, so zwar, daß sie zukünftig gewesen al-
lererst die Gegenwart weckt. Das primäre Phänomen der ur-
sprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft.
Der
Vorrang der Zukunft wird sich entsprechend der modifizierten
Zeitigung der uneigentlichen Zeitlichkeit selbst abwandeln,
aber
auch noch in der abkünftigen »Zeit« zum Vorschein kommen.
Die Sorge ist Sein zum Tode. Die vorlaufende
Entschlossenheit
bestimmten wir als das eigentliche Sein zu der
charakterisierten
Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit des Daseins.
In
solchem Sein zu seinem Ende existiert das Dasein eigentlich
ganz
als das Seiende, das es »geworfen in den Tod« sein kann. Es hat
nicht ein Ende, an dem es nur aufhört, sondern existiert
endlich.
Die eigentliche Zukunft, die primär die Zeitlichkeit
zeitigt, die
den Sinn der vorlaufen- 330
den Entschlossenheit ausmacht, enthüllt sich damit selbst
als
endliche. Allein »geht« trotz des Nichtmehrdaseins meiner
selbst
»die Zeit nicht weiter«? Und kann nicht unbeschränkt vieles
noch »in der Zukunft« liegen und aus ihr ankommen?
Die Fragen sind zu bejahen. Trotzdem enthalten sie keinen
Einwand gegen die Endlichkeit der ursprünglichen
Zeitlichkeit –
weil sie überhaupt nicht mehr von dieser handeln. Die Frage
ist
nicht, was »in einer weitergehenden Zeit« noch alles
geschehen
und was für ein Auf-sich-Zukommen-lassen »aus dieser Zeit«
begegnen kann, sondern wie das Auf-sich-Zukommen selbst als
solches ursprünglich bestimmt ist. Seine Endlichkeit besagt
nicht
primär ein Aufhören, sondern ist ein Charakter der Zeitigung
selbst. Die ursprüngliche und eigentliche Zukunft ist das
Auf-
sich-zu, auf sich, existierend als die unüberholbare
Möglichkeit
der Nichtigkeit. Der ekstatische Charakter der
ursprünglichen
Zukunft liegt gerade darin, daß sie das Seinkönnen schließt,
das
heißt selbst geschlossen ist und als solche das
entschlossene exi-
stenzielle Verstehen der Nichtigkeit ermöglicht. Das
ursprüng-
liche und eigentliche Auf-sich-zukommen ist der Sinn des
Existie-
rens in der eigensten Nichtigkeit. Mit der These von der ur-
sprünglichen Endlichkeit der Zeitlichkeit wird nicht
bestritten,
daß »die Zeit weiter geht«, sondern sie soll lediglich den
phäno-
menalen Charakter der ursprünglichen Zeitlichkeit
festhalten, der
sich im Entworfenen des ursprünglichen existenzialen
Entwurfs
des Daseins selbst zeigt.
Die Versuchung dazu, die Endlichkeit der ursprünglichen und
eigentlichen Zukunft und damit der Zeitlichkeit zu
übersehen,
bzw. sie »a priori« für unmöglich zu halten, entspringt aus
dem
ständigen Vordrängen des vulgären Zeitverständnisses. Wenn
dieses mit Recht eine endlose Zeit und nur diese kennt, dann
ist
damit noch nicht erwiesen, daß es diese Zeit und ihre
»Unend-
lichkeit« auch schon versteht. Was besagt: die Zeit »geht
weiter«
und »vergeht weiter«? Was bedeutet das »in der Zeit«
überhaupt
und das »in« und »aus der Zukunft« im besondern? In welchem
Sinne ist »die Zeit« endlos? Dergleichen verlangt
Aufklärung,
wenn die vulgären Einwände gegen die Endlichkeit der
ursprüng-
lichen Zeit nicht bodenlos bleiben wollen. Diese Aufklärung
aber
läßt sich nur bewerkstelligen, wenn hinsichtlich der
Endlichkeit
und Un-endlichkeit eine angemessene Fragestellung gewonnen
ist.
Diese jedoch entspringt dem verstehenden Blick auf das ur-
sprüngliche Phänomen der Zeit. Das Problem kann nicht
lauten:
wie wird die »abgeleitete« unendliche Zeit, »in der« das
Vorhan-
dene entsteht 331
und vergeht, zur ursprünglichen endlichen Zeitlichkeit,
sondern
wie entspringt aus der endlichen eigentlichen Zeitlichkeit
die
uneigentliche, und wie zeitigt diese als uneigentliche aus
der end-
lichen eine un-endliche Zeit? Nur weil die ursprüngliche
Zeit
endlich ist, kann sich die »abgeleitete« als un-endliche
zeitigen. In
der Ordnung der verstehenden Erfassung wird die Endlichkeit
der
Zeit erst dann völlig sichtbar, wenn die »endlose Zeit«
herausge-
stellt ist, um ihr gegenübergestellt zu werden.
Die bisherige Analyse der ursprünglichen Zeitlichkeit fassen
wir in folgenden Thesen zusammen: Zeit ist ursprünglich als
Zeitigung der Zeitlichkeit, als welche sie die Konstitution
der
Sorgestruktur ermöglicht. Die Zeitlichkeit ist wesenhaft
eksta-
tisch. Zeitlichkeit zeitigt sich ursprünglich aus der
Zukunft. Die
ursprüngliche Zeit ist endlich.
Doch kann die Interpretation der Sorge als Zeitlichkeit
nicht
auf die bisher gewonnene schmale Basis beschränkt bleiben,
wenngleich sie die ersten Schritte im Blick auf das
ursprüngliche
eigentliche Ganzsein des Daseins vollzog. Die These, der
Sinn des
Daseins ist die Zeitlichkeit, muß sich am konkreten Bestand
der
herausgestellten Grundverfassung dieses Seienden bewähren.
§ 66. Die Zeitlichkeit des Daseins und die aus ihr
entspringenden
Aufgaben einer ursprünglicheren Wiederholung der
existenzialen
Analyse
Das freigelegte Phänomen der Zeitlichkeit verlangt nicht nur
eine weiterausgreifende Bewährung seiner konstitutiven Mäch-
tigkeit, es kommt selbst dadurch erst hinsichtlich der
Grundmög-
lichkeiten der Zeitigung in den Blick. Die Nachweisung der
Möglichkeit der Seinsverfassung des Daseins auf dem Grunde
der
Zeitlichkeit nennen wir kurz, obzwar nur vorläufig, die
»zeit-
liche« Interpretation.
Die nächste Aufgabe ist, über die zeitliche Analyse des
eigent-
lichen Ganzseinkönnens des Daseins und eine allgemeine
Charak-
teristik der Zeitlichkeit der Sorge hinaus, die
Uneigentlichkeit des
Daseins in ihrer spezifischen Zeitlichkeit sichtbar zu
machen. Die
Zeitlichkeit zeigte sich zuerst an der vorlaufenden
Entschlossen-
heit. Sie ist der eigentliche Modus der Erschlossenheit, die
sich
zumeist in der Uneigentlichkeit der verfallenden Selbstauslegung
des Man hält. Die Charakteristik der Zeitlichkeit der
Erschlos-
senheit überhaupt führt zum zeitlichen Verständnis des
nächsten
besorgenden In-der-Welt-seins und damit der
durchschnittlichen
Indifferenz des Daseins, bei der die existenziale Analytik
zuerst 332
ansetzte1. Wir nannten die durchschnittliche Seinsart des
Daseins,
darin es sich zunächst und zumeist hält, die Alltäglichkeit.
Durch
die Wiederholung der früheren Analyse muß sich die
Alltäglich-
keit in ihrem zeitlichen Sinne enthüllen, damit die in der
Zeitlich-
keit beschlossene Problematik an den Tag kommt und die
scheinbare »Selbstverständlichkeit« der vorbereitenden
Analysen
vollends verschwindet. Die Zeitlichkeit soll sich zwar an
allen
wesentlichen Strukturen der Grundverfassung des Daseins
bewähren. Das führt aber gleichwohl nicht zu einem
äußerlichen
schematischen Wiederdurchlaufen der vollzogenen Analysen in
ihrer dargestellten Folge. Der anders gerichtete Gang der
zeit-
lichen Analyse soll den Zusammenhang der früheren Betrach-
tungen deutlicher machen und die Zufälligkeit und scheinbare
Willkür aufheben. Über diese methodischen Notwendigkeiten
hinaus machen sich jedoch in dem Phänomen selbst liegende
Motive geltend, die zu einer anderen Gliederung der
wiederho-
lenden Analyse zwingen.
Die ontologische Struktur des Seienden, das ich je selbst
bin,
zentriert in der Selbständigkeit der Existenz. Weil das
Selbst
weder als Substanz noch als Subjekt begriffen werden kann,
son-
dern in der Existenz gründet, wurde die Analyse des
uneigent-
lichen Selbst, des Man, ganz im Zuge der vorbereitenden
Inter-
pretation des Daseins belassen2. Nachdem jetzt die
Selbstheit
ausdrücklich in die Struktur der Sorge und damit der
Zeitlichkeit
zurückgenommen ist, erhält die zeitliche Interpretation der
Selbst-ständigkeit und Unselbst-ständigkeit ein eigenes
Gewicht.
Sie bedarf einer gesonderten thematischen Durchführung. Sie
gibt
aber nicht nur erst die rechte Sicherung gegen die
Paralogismen
und die ontologisch unangemessenen Fragen nach dem Sein des
Ich überhaupt, sondern sie verschafft zugleich, ihrer
zentralen
Funktion entsprechend, einen ursprünglicheren Einblick in
die
Zeitigungsstruktur der Zeitlichkeit. Diese enthüllt sich als
die
Geschichtlichkeit des Daseins. Der Satz: das Dasein ist
geschicht-
lich, bewährt sich als existenzial-ontologische
Fundamentalaus-
sage. Sie ist weit entfernt von einer bloß ontischen
Feststellung
der Tatsache, daß das Dasein in einer »Weltgeschichte« vor-
kommt. Die Geschichtlichkeit des Daseins aber ist der Grund
eines möglichen historischen Verstehens, das seinerseits
wie-
derum die Möglichkeit zu einer eigens ergriffenen Ausbildung
der
Historie als Wissenschaft bei sich trägt.
Die zeitliche Interpretation der Alltäglichkeit und
Geschicht-
lichkeit festigt den Blick auf die ursprüngliche Zeit
ausreichend,
um sie selbst
1 Vgl. § 9,
S. 43.
2 Vgl. §§
25 ff., S. 113 ff. 333
als die Bedingung der Möglichkeit und Notwendigkeit der
alltäg-
lichen Zeiterfahrung aufzudecken. Das Dasein verwendet sich
als
Seiendes, dem es um sein Sein geht, primär, ob ausdrücklich
oder
nicht, für sich selbst. Zunächst und zumeist ist die Sorge
umsich-
tiges Besorgen. Umwillen seiner selbst sich verwendend, »ver-
braucht« sich das Dasein. Sichverbrauchend braucht das
Dasein
sich selbst, das heißt seine Zeit. Zeit brauchend rechnet es
mit
ihr. Das umsichtig-rechnende Besorgen entdeckt zunächst die
Zeit und führt zur Ausbildung einer Zeitrechnung. Das
Rechnen
mit der Zeit ist konstitutiv für das In-der-Welt-sein. Das
besor-
gende Entdecken der Umsicht läßt, mit seiner Zeit rechnend,
das
entdeckte Zuhandene und Vorhandene in die Zeit begegnen. Das
innerweltliche Seiende wird so als »in der Zeit seiend«
zugäng-
lich. Wir nennen die Zeitbestimmtheit des innerweltlichen
Seien-
den die Innerzeitigkeit. Die an ihr zunächst ontisch
gefundene
»Zeit« wird die Basis der Ausformung des vulgären und
traditio-
nellen Zeitbegriffes. Die Zeit als Innerzeitigkeit aber
entspringt
einer wesenhaften Zeitigungsart der ursprünglichen
Zeitlichkeit.
Dieser Ursprung sagt, die Zeit, »in der« Vorhandenes
entsteht
und vergeht, ist ein echtes Zeitphänomen und keine Veräußer-
lichung einer »qualitativen Zeit« zum Raum, wie die ontologisch
völlig unbestimmte und unzureichende Zeitinterpretation
Berg-
sons glauben machen will.
Die Ausarbeitung der Zeitlichkeit des Daseins als
Alltäglich-
keit, Geschichtlichkeit und Innerzeitigkeit gibt erst den
rück-
sichtslosen Einblick in die Verwicklungen einer
ursprünglichen
Ontologie des Daseins. Als In-der-Welt-sein existiert das
Dasein
faktisch mit und bei innerweltlich begegnendem Seienden. Das
Sein des Daseins empfängt daher seine umfassende
ontologische
Durchsichtigkeit erst im Horizont des geklärten Seins des
nicht-
daseinsmäßigen Seienden, das heißt auch dessen, was, nicht
zuhanden und nicht vorhanden, nur »besteht«. Die
Interpretation
der Abwandlungen des Seins alles dessen, von dem wir sagen,
es
ist, bedarf aber einer zuvor hinreichend erhellten Idee von
Sein
überhaupt. Solange diese nicht gewonnen ist, bleibt auch die
wiederholende zeitliche Analyse des Daseins unvollständig
und
mit Unklarheiten behaftet – um von den sachlichen
Schwierigkei-
ten nicht weitläufig zu reden. Die existenzial-zeitliche
Analyse des
Daseins verlangt ihrerseits eine erneute Wiederholung im
Rah-
men der grundsätzlichen Diskussion des Seinsbegriffes. 334
Viertes Kapitel
Zeitlichkeit und Alltäglichkeit
§ 67. Der Grundbestand der existenzialen Verfassung des
Daseins und die Vorzeichnung ihrer zeitlichen Interpretation
Die vorbereitende Analyse1 hat eine Mannigfaltigkeit von
Phä-
nomenen zugänglich gemacht, die bei aller Konzentration auf
die
fundierende Strukturganzheit der Sorge dem phänomenologi-
schen Blick nicht entschwinden darf. Die ursprüngliche
Ganzheit
der Daseinsverfassung schließt als gegliederte eine solche
Man-
nigfaltigkeit so wenig aus, daß sie dergleichen fordert.
Ursprüng-
lichkeit der Seinsverfassung deckt sich nicht mit der
Einfachheit
und Einzigkeit eines letzten Aufbauelements. Der
ontologische
Ursprung des Seins des Daseins ist nicht »geringer« als das,
was
ihm entspringt, sondern er überragt es vorgängig an
Mächtigkeit,
und alles »Entspringen« im ontologischen Felde ist
Degeneration.
Das ontologische Vordringen zum »Ursprung« kommt nicht zu
ontischen Selbstverständlichkeiten für den »gemeinen
Verstand«,
sondern ihm öffnet sich gerade die Fragwürdigkeit alles
Selbst-
verständlichen.
Um die in der vorbereitenden Analyse gewonnenen Phänomene
in den phänomenologischen Blick zurückzubringen, muß ein
Hinweis auf ihre durchlaufenen Stadien genügen. Die Umgren-
zung der Sorge ergab sich aus der Analyse der
Erschlossenheit,
die das Sein des »Da« konstituiert. Die Klärung dieses
Phäno-
mens bedeutete die vorläufige Interpretation der
Grundverfas-
sung des Daseins, des In-der-Weltseins. Mit dessen
Kennzeich-
nung setzte die Untersuchung ein, um von Anfang an gegenüber
den unangemessenen, meist nicht ausdrücklichen ontologischen
Vorbestimmungen des Daseins einen zureichenden phänomenalen
Horizont zu sichern. Das In-der-Welt-sein wurde zunächst im
Hinblick auf das Phänomen der Welt charakterisiert. Und zwar
schritt die Explikation von der ontisch-ontologischen
Kennzeich-
nung des »in« der Umwelt Zuhandenen und Vorhandenen fort
zur Abhebung der Innerweltlichkeit, um an dieser das
Phänomen
der Weltlichkeit überhaupt sichtbar zu machen. Die Struktur
der
Weltlichkeit, die Bedeutsamkeit, aber erwies sich als
verklammert
mit dem, worauf sich das wesenhaft zur Erschlossenheit
gehörige
Verstehen entwirft, mit dem Seinkönnen des Daseins, worum-
willen es existiert.
Die zeitliche Interpretation des alltäglichen Daseins soll
bei den
Strukturen ansetzen, in denen sich die Erschlossenheit
konstitu-
iert.
1 Vgl. Abschnitt I, S. 41-230. 335
Das sind: Verstehen, Befindlichkeit, Verfallen und Rede. Die
im
Hinblick auf diese Phänomene freizulegenden Modi der Zeiti-
gung der Zeitlichkeit geben den Boden, um die Zeitlichkeit
des
In-der-Welt-seins zu bestimmen. Das führt erneut auf das
Phä-
nomen der Welt und erlaubt eine Umgrenzung der spezifisch
zeitlichen Problematik der Weltlichkeit. Sie muß sich
bewähren
durch die Charakteristik des nächst alltäglichen
In-der-Welt-
seins, des verfallenden umsichtigen Besorgens. Dessen
Zeitlichkeit
ermöglicht die Modifikation der Umsicht zum hinsehenden Ver-
nehmen und dem darin gründenden theoretischen Erkennen. Die
dergestalt heraustretende Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins
erweist sich zugleich als Fundament der spezifischen
Räumlich-
keit des Daseins. Die zeitliche Konstitution von Entfernung
und
Ausrichtung ist zu zeigen. Das Ganze dieser Analysen
enthüllt
eine Zeitigungsmöglichkeit der Zeitlichkeit, in der die
Uneigent-
lichkeit des Daseins ontologisch gründet, und führt vor die
Frage,
wie der zeitliche Charakter der Alltäglichkeit, der
zeitliche Sinn
des bisher ständig gebrauchten »Zunächst und Zumeist« ver-
standen werden soll. Die Fixierung dieses Problems macht
deut-
lich, daß und inwiefern die bis dahin erreichte Klärung des
Phä-
nomens nicht zureicht.
Das vorliegende Kapitel erhält sonach folgende Gliederung:
die
Zeitlichkeit der Erschlossenheit überhaupt (§ 68); die
Zeitlichkeit
des In-der-Welt-seins und das Problem der Transzendenz (§
69);
die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit (§ 70); der
zeitliche Sinn der Alltäglichkeit des Daseins (§ 71).
§ 68. Die Zeitlichkeit der Erschlossenheit überhaupt
Die hinsichtlich ihres zeitlichen Sinnes charakterisierte
Ent-
schlossenheit repräsentiert eine eigentliche Erschlossenheit
des
Daseins. Diese konstituiert ein Seiendes dergestalt, daß es
existie-
rend sein »Da« selbst sein kann. Die Sorge wurde mit
Rücksicht
auf ihren zeitlichen Sinn nur erst in den Grundzügen gekenn-
zeichnet. Ihre konkrete zeitliche Konstitution aufweisen,
besagt,
im einzelnen ihre Strukturmomente, das heißt Verstehen,
Befind-
lichkeit, Verfallen und Rede, zeitlich interpretieren. Jedes
Verste-
hen hat seine Stimmung. Jede Befindlichkeit ist verstehend.
Das
befindliche Verstehen hat den Charakter des Verfallens. Das
verfallend gestimmte Verstehen artikuliert sich bezüglich
seiner
Verständlichkeit in der Rede. Die jeweilige zeitliche
Konstitution
der genannten Phänomene führt je auf die eine Zeitlichkeit
zurück, als welche sie die mögliche Struktureinheit von
Verste-
hen, Befindlichkeit, Verfallen und Rede verbürgt. 336
a) Die Zeitlichkeit des Verstehens1
Mit dem Terminus Verstehen meinen wir ein fundamentales
Existenzial; weder eine bestimmte Art von Erkennen,
unterschie-
den etwa von Erklären und Begreifen, noch überhaupt ein
Erken-
nen im Sinne des thematischen Erfassens. Wohl aber
konstituiert
das Verstehen das Sein des Da dergestalt, daß ein Dasein auf
dem
Grunde des Verstehens die verschiedenen Möglichkeiten der
Sicht, des Sichumsehens, des Nurhinsehens, existierend
ausbilden
kann. Alles Erklären wurzelt als verstehendes Entdecken des
Unverständlichen im primären Verstehen des Daseins.
Ursprünglich existenzial gefaßt, besagt Verstehen:
entwerfend-
sein zu einem Seinkönnen, worumwillen je das Dasein
existiert.
Das Verstehen erschließt das eigene Seinkönnen dergestalt,
daß
das Dasein verstehend je irgendwie weiß, woran es mit ihm
selbst
ist. Dieses »Wissen« aber ist kein Entdeckthaben einer
Tatsache,
sondern das Sichhalten in einer existenziellen Möglichkeit. Das
entsprechende Nichtwissen besteht nicht in einem
Unterbleiben
des Verstehens, sondern muß als defizienter Modus der
Entwor-
fenheit des Seinkönnens gelten. Die Existenz kann fragwürdig
sein. Damit das »In-Frage-stehen« möglich wird, bedarf es
einer
Erschlossenheit. Dem entwerfenden Sichverstehen in einer
exi-
stenziellen Möglichkeit liegt die Zukunft zugrunde als
Auf-sich-
zukommen aus der jeweiligen Möglichkeit, als welche je das
Dasein existiert. Zukunft ermöglicht ontologisch ein
Seiendes,
das so ist, daß es verstehend in seinem Seinkönnen
existiert. Das
im Grunde zukünftige Entwerfen erfaßt primär nicht die
entwor-
fene Möglichkeit thematisch in einem Meinen, sondern wirft
sich
in sie als Möglichkeit. Verstehend ist das Dasein je, wie es
sein
kann. Als ursprüngliches und eigentliches Existieren ergab
sich
die Entschlossenheit. Zunächst und zumeist freilich bleibt
das
Dasein unentschlossen, das heißt in seinem eigensten
Seinkönnen,
dahin es sich je nur in der Vereinzelung bringt, verschlossen.
Darin liegt: die Zeitlichkeit zeitigt sich nicht ständig aus
der
eigentlichen Zukunft. Diese Unständigkeit besagt jedoch
nicht,
die Zeitlichkeit ermangele zuweilen der Zukunft, sondern:
die
Zeitigung dieser ist abwandelbar.
Für die terminologische Kennzeichnung der eigentlichen
Zukunft halten wir den Ausdruck Vorlaufen fest. Er zeigt an,
daß
das Dasein, eigentlich existierend, sich als eigenstes
Seinkönnen
auf sich zu-
1 Vgl. § 31, S.
142 ff. 337
kommen läßt, daß sich die Zukunft erst selbst gewinnen muß,
nicht aus einer Gegenwart, sondern aus der uneigentlichen
Zukunft. Der formal indifferente Terminus für die Zukunft
liegt
in der Bezeichnung des ersten Strukturmoments der Sorge, im
Sich-vorweg. Dasein ist faktisch ständig sich-vorweg, aber
unständig, der existenziellen Möglichkeit nach, vorlaufend.
Wie soll dagegen die uneigentliche Zukunft abgehoben wer-
den? Dieser ekstatische Modus kann sich, entsprechend wie
die
eigentliche Zukunft an der Entschlossenheit, nur im
ontologi-
schen Rückgang vom alltäglich besorgenden, uneigentlichen
Ver-
stehen zu seinem existenzial-zeitlichen Sinn enthüllen. Als
Sorge
ist das Dasein wesenhaft sich-vorweg. Zunächst und zumeist
versteht sich das besorgende In-der-Welt-sein aus dem, was
es
besorgt. Das uneigentliche Verstehen entwirft sich auf das
Besorgbare, Tunliche, Dringliche, Unumgängliche der
Geschäfte
der alltäglichen Beschäftigung. Das Besorgte aber ist, wie
es ist,
umwillen des sorgenden Seinkönnens. Dieses läßt das Dasein
im
besorgenden Sein beim Besorgten auf sich zukommen. Das
Dasein kommt nicht primär in seinem eigensten, unbezüglichen
Seinkönnen auf sich zu, sondern es ist besorgend seiner
gewärtig
aus dem, was das Besorgte ergibt oder versagt. Aus dem
Besorg-
ten her kommt das Dasein auf sich zu. Die uneigentliche
Zukunft
hat den Charakter des Gewärtigens. Das besorgende
Sichverste-
hen als Man-selbst aus dem, was man betreibt, hat in diesem
ekstatischen Modus der Zukunft den »Grund« seiner Möglich-
keit. Und nur weil das faktische Dasein seines Seinkönnens
derge-
stalt aus dem Besorgten gewärtig ist, kann es erwarten und
war-
ten auf... Das Gewärtigen muß schon je den Horizont und Um-
kreis erschlossen haben, aus dem etwas erwartet werden kann.
Das Erwarten ist ein im Gewärtigen fundierter Modus der Zu-
kunft, die sich eigentlich zeitigt als Vorlaufen. Daher
liegt im
Vorlaufen ein ursprünglicheres Sein zum Tode als im
besorgten
Erwarten seiner.
Das Verstehen ist als Existieren im wie immer entworfenen
Seinkönnen primär zukünftig. Aber es zeitigte sich nicht,
wäre es
nicht zeitlich, das heißt, gleichursprünglich durch
Gewesenheit
und Gegenwart bestimmt. Die Art, wie die letztgenannte Ekstase
das uneigentliche Verstehen mitkonstituiert, wurde im rohen
schon deutlich. Das alltägliche Besorgen versteht sich aus
dem
Seinkönnen, das ihm aus möglichem Erfolg und Mißerfolg mit
Rücksicht auf das je Besorgte entgegenkommt. Der uneigent-
lichen Zukunft, dem Gewärtigen, entspricht ein eigenes Sein
beim
Besorgten. Der ekstatische Modus dieser 338
Gegen-wart enthüllt sich, wenn wir diese Ekstase im Modus
der
eigentlichen Zeitlichkeit zur Vergleichung beiziehen. Zum
Vor-
laufen der Entschlossenheit gehört eine Gegenwart, gemäß der
ein Entschluß die Situation erschließt. In der
Entschlossenheit ist
die Gegenwart aus der Zerstreuung in das nächst Besorgte
nicht
nur zurückgeholt, sondern wird in der Zukunft und
Gewesenheit
gehalten. Die in der eigentlichen Zeitlichkeit gehaltene,
mithin
eigentliche Gegenwart nennen wir den Augenblick. Dieser Ter-
minus muß im aktiven Sinne als Ekstase verstanden werden. Er
meint die entschlossene, aber in der Entschlossenheit
gehaltene
Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an
besorg-
baren Möglichkeiten, Umständen begegnet. Das Phänomen des
Augenblicks kann grundsätzlich nicht aus dem Jetzt
aufgeklärt
werden. Das Jetzt ist ein zeitliches Phänomen, das der Zeit
als
Innerzeitigkeit zugehört: das Jetzt, »in dem« etwas
entsteht, ver-
geht oder vorhanden ist. »Im Augenblick« kann nichts vorkom-
men, sondern als eigentliche Gegen-wart läßt er erst
begegnen,
was als Zuhandenes oder Vorhandenes »in einer Zeit« sein
kann1.
Im Unterschied vom Augenblick als eigentlicher Gegenwart
nennen wir die uneigentliche das Gegenwärtigen. Formal ver-
standen ist jede Gegenwart gegenwärtigend, aber nicht jede
»augenblicklich«. Wenn wir den Ausdruck Gegenwärtigen ohne
Zusatz gebrauchen, ist immer das uneigentliche,
augenblicklos-
unentschlossene gemeint. Das Gegenwärtigen wird erst aus der
zeitlichen Interpretation des Verfallens an die besorgte
»Welt«
deutlich werden, das in ihm seinen existenzialen Sinn hat.
Sofern
aber das uneigentliche Verstehen das Seinkönnen aus dem
Besorgbaren entwirft, heißt das, es zeitigt sich aus dem
Gegen-
wärtigen. Dagegen zeitigt sich der Augenblick umgekehrt aus
der
eigentlichen Zukunft.
Das uneigentliche Verstehen zeitigt sich als
gegenwärtigendes
Gewärtigen, dessen ekstatischer Einheit eine entsprechende
Gewesenheit
1 S. Kierkegaard hat das existenzielle Phänomen des
Augenblicks wohl
am eindringlichsten gesehen, was nicht schon bedeutet, daß
ihm auch die
existenziale Interpretation entsprechend gelungen ist. Er
bleibt am
vulgären Zeitbegriff haften und bestimmt den Augenblick mit
Hilfe von
Jetzt und Ewigkeit. Wenn K. von »Zeitlichkeit« spricht,
meint er das
»In-der-Zeit-sein« des Menschen. Die Zeit als
Innerzeitigkeit kennt nur
das Jetzt, aber nie einen Augenblick. Wird dieser aber
existenziell
erfahren, dann ist eine ursprünglichere Zeitlichkeit, obzwar
existenzial
unausdrücklich, vorausgesetzt. Bezüglich des »Augenblicks«
vgl. K.
Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen. 3. unveränderte
Auflage
1925, S. 108 ff. und hierzu das »Referat Kierkegaards« S.
419-432. 339
zugehören muß. Das eigentliche Auf-sich-zukommen der vorlau-
fenden Entschlossenheit ist zumal ein Zurückkommen auf das
eigenste, in seine Vereinzelung geworfene Selbst. Diese
Ekstase
ermöglicht es, daß das Dasein entschlossen das Seiende, das
es
schon ist, übernehmen kann. Im Vorlaufen holt sich das
Dasein
wieder in das eigenste Seinkönnen vor. Das eigentliche
Gewesen-
sein nennen wir die Wiederholung. Das uneigentliche
Sichentwer-
fen auf die aus dem Besorgten, es gegenwärtigend,
geschöpften
Möglichkeiten ist aber nur so möglich, daß sich das Dasein
in
seinem eigensten geworfenen Seinkönnen vergessen hat. Dies
Vergessen ist nicht nichts oder nur das Fehlen von
Erinnerung,
sondern ein eigener, »positiver« ekstatischer Modus der
Gewe-
senheit. Die Ekstase (Entrückung) des Vergessens hat den
Cha-
rakter des sich selbst verschlossenen Ausrückens vor dem ei-
gensten Gewesen, so zwar, daß dieses Ausrücken vor...
ekstatisch
das Wovor verschließt und in eins damit sich selbst.
Vergessen-
heit als uneigentliche Gewesenheit bezieht sich hiermit auf
das
geworfene, eigene Sein; sie ist der zeitliche Sinn der
Seinsart, ge-
mäß der ich zunächst und zumeist gewesen – bin. Und nur auf
dem Grunde dieses Vergessens kann das besorgende, gewärti-
gende Gegenwärtigen behalten und zwar das
nichtdaseinsmäßige,
umweltlich begegnende Seiende. Diesem Behalten entspricht
ein
Nichtbehalten, das ein »Vergessen« im abgeleiteten Sinne
dar-
stellt.
Wie die Erwartung erst auf dem Grunde des Gewärtigens mög-
lich ist, so die Erinnerung auf dem Grunde des Vergessens
und
nicht umgekehrt; denn im Modus der Vergessenheit
»erschließt«
die Gewesenheit primär den Horizont, in den hinein das an
die
»Äußerlichkeit« des Besorgten verlorene Dasein sich erinnern
kann. Das vergessend-gegenwärtigende Gewärtigen ist eine
eigene ekstatische Einheit, gemäß der sich das uneigentliche
Ver-
stehen hinsichtlich seiner Zeitlichkeit zeitigt. Die Einheit
dieser
Ekstasen verschließt das eigentliche Seinkönnen und ist
sonach
die existenziale Bedingung der Möglichkeit der
Unentschlossen-
heit. Obzwar sich das uneigentliche, besorgende Verstehen
aus
dem Gegenwärtigen des Besorgten bestimmt, vollzieht sich
doch
die Zeitigung des Verstehens primär in der Zukunft.
b) Die Zeitlichkeit der Befindlichkeit1
Das Verstehen ist nie freischwebend, sondern immer befind-
liches. Das Da wird je gleichursprünglich durch Stimmung
erschlossen, bzw.
1 Vgl. § 29, S. 134 ff. 340
verschlossen. Die Gestimmtheit bringt das Dasein vor seine
Geworfenheit, so zwar, daß diese gerade nicht als solche
erkannt,
sondern in dem, »wie einem ist«, weit ursprünglicher
erschlossen
ist. Das Geworfensein besagt existenzial: sich so oder so
befin-
den. Die Befindlichkeit gründet daher in der Geworfenheit.
Stimmung repräsentiert die Weise, in der ich je das
geworfene
Seiende primär bin. Wie läßt sich die zeitliche Konstitution
der
Gestimmtheit sichtbar machen? Wie wird aus der ekstatischen
Einheit der jeweiligen Zeitlichkeit der existenziale
Zusammen-
hang zwischen Befindlichkeit und Verstehen einsichtig?
Die Stimmung erschließt in der Weise der Hinkehr und Abkehr
vom eigenen Dasein. Das Bringen vor das Daß der eigenen
Geworfenheit – ob eigentlich enthüllend oder uneigentlich
ver-
deckend – wird existenzial nur möglich, wenn das Sein des
Da-
seins seinem Sinne nach ständig gewesen ist. Das Bringen vor
das
geworfene Seiende, das man selbst ist, schafft nicht erst
das
Gewesen, sondern dessen Ekstase ermöglicht erst das
Sich-finden
in der Weise des Sich-befindens. Das Verstehen gründet
primär in
der Zukunft, die Befindlichkeit dagegen zeitigt sich primär
in der
Gewesenheit. Stimmung zeitigt sich, das heißt ihre
spezifische
Ekstase gehört zu einer Zukunft und Gegenwart, so
allerdings,
daß die Gewesenheit die gleichursprünglichen Ekstasen
modifi-
ziert.
Wir betonten, daß die Stimmungen zwar ontisch bekannt, aber
nicht in ihrer ursprünglichen existenzialen Funktion erkannt
sind.
Sie gelten als flüchtige Erlebnisse, die das Ganze des
»Seelenzu-
standes« »färben«. Was für ein Beobachten den Charakter des
flüchtigen Auftauchens und Verschwindens hat, gehört zur ur-
sprünglichen Ständigkeit der Existenz. Aber gleichwohl, was
sollen Stimmungen mit der »Zeit« gemein haben? Daß diese
»Erlebnisse« kommen und gehen, »in der Zeit« ablaufen, ist
eine
triviale Feststellung; gewiß, und zwar eine
ontisch-psychologi-
sche. Zur Aufgabe steht jedoch, die ontologische Struktur
der
Gestimmtheit in ihrer existenzial-zeitlichen Konstitution
aufzu-
weisen. Und zwar kann es sich zunächst nur darum handeln,
die
Zeitlichkeit der Stimmung überhaupt erst einmal sichtbar zu
machen. Die These »Befindlichkeit gründet primär in der
Gewe-
senheit« besagt: der existenziale Grundcharakter der
Stimmung
ist ein Zurückbringen auf... Dieses stellt die Gewesenheit
nicht
erst her, sondern die Befindlichkeit offenbart für die
existenziale
Analyse je einen Modus der Gewesenheit. Die zeitliche
Interpre-
tation der Befindlichkeit kann daher nicht beabsichtigen,
die
Stimmungen aus der Zeitlichkeit zu deduzieren und in pure
Phä-
nomene der Zeitigung 341
aufzulösen. Es gilt lediglich, den Nachweis zu führen, daß
die
Stimmungen in dem, was sie und wie sie existenziell
»bedeuten«,
nicht möglich sind, es sei denn auf dem Grunde der
Zeitlichkeit.
Die zeitliche Interpretation beschränkt sich auf die schon
vorbe-
reitend analysierten Phänomene der Furcht und der Angst.
Wir beginnen die Analyse mit dem Aufweis der Zeitlichkeit
der
Furcht1. Sie wurde als uneigentliche Befindlichkeit
charakteri-
siert. Inwiefern ist der sie ermöglichende existenziale Sinn
die
Gewesenheit? Welcher Modus dieser Ekstase kennzeichnet die
spezifische Zeitlichkeit der Furcht? Diese ist Fürchten vor
einem
Bedrohlichen, das, dem faktischen Seinkönnen des Daseins ab-
träglich, im Umkreis des besorgten Zuhandenen und Vorhande-
nen sich in der beschriebenen Weise nähert. Das Fürchten
erschließt in der Weise der alltäglichen Umsicht ein
Drohendes.
Ein nur anschauendes Subjekt vermöchte dergleichen nie zu
ent-
decken. Aber ist dieses Erschließen des Fürchtens vor...
nicht ein
Auf-sich-zukommenlassen? Hat man die Furcht nicht mit Recht
als Erwartung eines ankommenden Übels (malum futurum)
bestimmt? Ist der primäre zeitliche Sinn der Furcht nicht
die Zu-
kunft und nichts weniger als die Gewesenheit? Unbestreitbar
»bezieht« sich das Fürchten nicht nur auf »Zukünftiges« in
der
Bedeutung des »in der Zeit« erst Ankünftigen, sondern dieses
Sichbeziehen selbst ist zukünftig im ursprünglich zeitlichen
Sinne.
Ein Gewärtigen gehört offenbar mit zur
existenzial-zeitlichen
Konstitution der Furcht. Das besagt zunächst aber nur, die
Zeit-
lichkeit der Furcht ist uneigentliche. Ist das Fürchten
vor... nur
ein Erwarten eines ankommenden Bedrohlichen? Erwarten eines
ankommenden Bedrohlichen braucht nicht schon Furcht zu sein
und ist es so wenig, daß ihm gerade der spezifische
Stimmungs-
charakter der Furcht fehlt. Dieser liegt darin, daß das
Gewärtigen
der Furcht das Bedrohliche auf das faktisch besorgende
Seinkön-
nen zurückkommen läßt. Zurück auf das Seiende, das ich bin,
kann das Bedrohliche nur gewärtigt und so das Dasein bedroht
werden, wenn das Worauf des Zurück auf... schon überhaupt
ekstatisch offen ist. Daß das fürchtende Gewärtigen »sich«
fürch-
tet, das heißt, daß das Fürchten vor... je ein Fürchten
um... ist,
darin liegt der Stimmungs- und Affektcharakter der Furcht.
Deren existenzial-zeitlicher Sinn wird konstituiert durch
ein Sich-
vergessen: das verwirrte Ausrücken vor dem eigenen
faktischen
Seinkönnen, als welches das bedrohte In-der-Welt-sein das
Zuhandene besorgt. Aristoteles be-
1 Vgl. § 30, S.
140 ff. 342
stimmt die Furcht mit Recht als lÚph tij ½ tarax?, als eine
Gedrücktheit bzw. Verwirrung1. Die Gedrücktheit zwingt das
Dasein auf seine Geworfenheit zurück, aber so, daß diese
gerade
verschlossen wird. Die Verwirrung gründet in einem
Vergessen.
Das vergessende Ausrücken vor einem faktischen,
entschlossenen
Seinkönnen hält sich an die Möglichkeiten des Sichrettens
und
Ausweichens, die zuvor umsichtig schon entdeckt sind. Das
sich
fürchtende Besorgen springt, weil sich vergessend und
deshalb
keine bestimmte Möglichkeit ergreifend, von der nächsten zur
nächsten. Alle »möglichen«, das heißt auch unmöglichen Mög-
lichkeiten bieten sich an. Bei keiner hält der Fürchtende,
die
»Umwelt« verschwindet nicht, sondern begegnet in einem Sich-
nicht-mehr-auskennen in ihr. Zum Sichvergessen in der Furcht
gehört dieses verwirrte Gegenwärtigen des Nächsten-Besten.
Daß
zum Beispiel die Bewohner eines brennenden Hauses oft das
Gleichgültigste, nächst Zuhandene »retten«, ist bekannt. Das
selbstvergessene Gegenwärtigen eines Gewirrs von schwebenden
Möglichkeiten ermöglicht die Verwirrung, als welche sie den
Stimmungscharakter der Furcht ausmacht. Die Vergessenheit
der
Verwirrung modifiziert auch das Gewärtigen und
charakterisiert
es als das gedrückte bzw. verwirrte Gewärtigen, das sich von
einem puren Erwarten unterscheidet.
Die spezifische ekstatische Einheit, die das Sichfürchten
exi-
stenzial ermöglicht, zeitigt sich primär aus dem
charakterisierten
Vergessen, das als Modus der Gewesenheit die zugehörige
Gegenwart und Zukunft in ihrer Zeitigung modifiziert. Die
Zeit-
lichkeit der Furcht ist ein gewärtigend-gegenwärtigendes Verges-
sen. Zunächst sucht die verständige Auslegung der Furcht,
gemäß
ihrer Orientierung auf das innerweltlich Begegnende, als das
Wovor der Furcht das »ankommende Übel« und diesem ent-
sprechend die Beziehung darauf als Erwartung zu bestimmen.
Was überdies zum Phänomen gehört, bleibt ein »Gefühl der
Lust
oder Unlust«.
Wie verhält sich zur Zeitlichkeit der Furcht die der Angst?
Wir
nannten dieses Phänomen eine Grundbefindlichkeit2. Sie
bringt
das Dasein vor sein eigenstes Geworfensein und enthüllt die
Unheimlichkeit des alltäglich vertrauten In-der-Welt-seins.
Die
Angst ist imgleichen wie die Furcht formal durch ein Wovor
des
Sichängstens und ein Worum bestimmt. Die Analyse zeigte
jedoch, daß diese beiden Phänomene sich decken. Das soll nicht
heißen, die strukturalen
1 Vgl. Rhetorik B 5, 1382 a 21.
2 Vgl. § 40, S. 184 ff. 343
Charaktere des Wovor und Worum seien verschmolzen, als
ängstete sich die Angst weder vor... noch um... Daß das
Wovor
und Worum sich decken, soll heißen: das sie erfüllende
Seiende
ist dasselbe, nämlich das Dasein. Im besonderen begegnet das
Wovor der Angst nicht als ein bestimmtes Besorgbares, die
Bedrohung kommt nicht aus dem Zuhandenen und Vorhande-
nen, vielmehr gerade daraus, daß alles Zuhandene und Vorhan-
dene einem schlechthin nichts mehr »sagt«. Es hat mit dem
um-
weltlichen Seienden keine Bewandtnis mehr. Die Welt, worin
ich
existiere, ist zur Unbedeutsamkeit herabgesunken, und die so
erschlossene Welt kann nur Seiendes freigeben im Charakter
der
Unbewandtnis. Das Nichts der Welt, davor die Angst sich
ängstet, besagt nicht, es sei in der Angst etwa eine
Abwesenheit
des innerweltlichen Vorhandenen erfahren. Es muß gerade
begegnen, damit es so gar keine Bewandtnis mit ihm haben und
es sich in einer leeren Erbarmungslosigkeit zeigen kann.
Darin
liegt jedoch: das besorgende Gewärtigen findet nichts,
woraus es
sich verstehen könnte, es greift ins Nichts der Welt; auf
die Welt
gestoßen, ist aber das Verstehen durch die Angst auf das In-der-
Welt-sein als solches gebracht, dieses Wovor der Angst ist
aber
zugleich ihr Worum. Das Sich-ängsten vor... hat weder den
Cha-
rakter einer Erwartung noch überhaupt einer Gewärtigung. Das
Wovor der Angst ist doch schon »da«, das Dasein selbst. Wird
dann die Angst nicht durch eine Zukunft konstituiert? Gewiß,
jedoch nicht durch die uneigentliche des Gewärtigens.
Die in der Angst erschlossene Unbedeutsamkeit der Welt ent-
hüllt die Nichtigkeit des Besorgbaren, das heißt die
Unmöglich-
keit des Sichentwerfens auf ein primär im Besorgten
fundiertes
Seinkönnen der Existenz. Das Enthüllen dieser Unmöglichkeit
bedeutet aber ein Aufleuchten-lassen der Möglichkeit eines
eigentlichen Seinkönnens. Welchen zeitlichen Sinn hat dieses
Enthüllen? Die Angst ängstet sich um das nackte Dasein als
in die
Unheimlichkeit geworfenes. Sie bringt zurück auf das pure
Daß
der eigensten, vereinzelten Geworfenheit. Dieses
Zurückbringen
hat nicht den Charakter des ausweichenden Vergessens, aber
auch nicht den einer Erinnerung. Allein ebensowenig liegt in
der
Angst schon eine wiederholende Übernahme der Existenz in den
Entschluß. Wohl dagegen bringt die Angst zurück auf die
Gewor-
fenheit als mögliche wiederholbare. Und dergestalt enthüllt
sie
mit die Möglichkeit eines eigentlichen Seinkönnens, das im
Wie-
derholen als zukünftiges auf das geworfene Da zurückkommen
muß. Vor die Wiederholbarkeit bringen ist der spezifische
eksta-
tische Modus der die Befindlichkeit der Angst
konstituierenden
Gewesenheit. 344
Das für die Furcht konstitutive Vergessen verwirrt und läßt
das
Dasein zwischen unergriffenen »weltlichen« Möglichkeiten
hin-
und hertreiben. Diesem ungehaltenen Gegenwärtigen gegenüber
ist die Gegenwart der Angst im Sichzurückbringen auf die
eigenste Geworfenheit gehalten. Angst kann sich ihrem
existenzi-
alen Sinne nach nicht an ein Besorgbares verlieren. Wenn
der-
gleichen in einer ihr ähnlichen Befindlichkeit geschieht,
dann ist
es die Furcht, die der alltägliche Verstand mit der Angst
zusam-
menwirft. Wenngleich die Gegenwart der Angst gehalten ist,
hat
sie doch nicht schon den Charakter des Augenblickes, der im
Entschluß sich zeitigt. Die Angst bringt nur in die Stimmung
eines
möglichen Entschlusses. Ihre Gegenwart hält den Augenblick,
als
welcher sie selbst und nur sie möglich ist, auf dem Sprung.
An der eigentümlichen Zeitlichkeit der Angst, daß sie ur-
sprünglich in der Gewesenheit gründet und aus ihr erst
Zukunft
und Gegenwart sich zeitigen, erweist sich die Möglichkeit
der
Mächtigkeit, durch die sich die Stimmung der Angst
auszeichnet.
In ihr ist das Dasein völlig auf seine nackte Unheimlichkeit
zurückgenommen und von ihr benommen. Diese Benommenheit
nimmt aber das Dasein nicht nur zurück aus den »weltlichen«
Möglichkeiten, sondern gibt ihm zugleich die Möglichkeit
eines
eigentlichen Seinkönnens.
Beide Stimmungen, Furcht und Angst, »kommen« jedoch nie
nur isoliert »vor« im »Erlebnisstrom«, sondern be-stimmen je
ein
Verstehen, bzw. sich aus einem solchen. Die Furcht hat ihre
Ver-
anlassung im umweltlich besorgten Seienden. Die Angst
dagegen
entspringt aus dem Dasein selbst. Die Furcht überfällt vom
Innerweltlichen her. Die Angst erhebt sich aus dem
In-der-Welt-
sein als geworfenem Sein zum Tode. Dieses »Aufsteigen« der
Angst aus dem Dasein besagt zeitlich verstanden: die Zukunft
und Gegenwart der Angst zeitigen sich aus einem
ursprünglichen
Gewesensein im Sinne des Zurückbringens auf die
Wiederholbar-
keit. Eigentlich aber kann die Angst nur aufsteigen in einem
ent-
schlossenen Dasein. Der Entschlossene kennt keine Furcht,
ver-
steht aber gerade die Möglichkeit der Angst als der
Stimmung,
die ihn nicht hemmt und verwirrt. Sie befreit von
»nichtigen«
Möglichkeiten und läßt freiwerden für eigentliche.
Obzwar beide Modi der Befindlichkeit, Furcht und Angst, pri-
mär in einer Gewesenheit gründen, so ist doch im Hinblick
auf
ihre je eigene Zeitigung im Ganzen der Sorge ihr Ursprung
ver-
schieden. Die Angst entspringt aus der Zukunft der
Entschlos-
senheit, die Furcht aus 345
der verlorenen Gegenwart, die furchtsam die Furcht
befürchtet,
um ihr so erst recht zu verfallen.
Aber gilt die These von der Zeitlichkeit der Stimmungen
nicht
vielleicht nur von den für die Analyse ausgewählten Phänome-
nen? Wie soll in der fahlen Ungestimmtheit, die den »grauen
Alltag« durchherrscht, ein zeitlicher Sinn gefunden werden?
Und
wie steht es um die Zeitlichkeit von Stimmungen und Affekten
wie Hoffnung, Freude, Begeisterung, Heiterkeit? Daß nicht
nur
Furcht und Angst in einer Gewesenheit existenzial fundiert
sind,
sondern auch andere Stimmungen, wird deutlich, wenn wir Phä-
nomene wie Überdruß, Traurigkeit, Schwermut, Verzweiflung
nur nennen. Allerdings ist ihre Interpretation auf die
breitere
Basis einer ausgearbeiteten existenzialen Analytik des
Daseins zu
stellen. Aber auch ein Phänomen wie die Hoffnung, das ganz
in
der Zukunft fundiert zu sein scheint, muß in entsprechender
Weise wie die Furcht analysiert werden. Man hat die Hoffnung
im Unterschied von der Furcht, die sich auf ein malum
futurum
bezieht, als Erwartung eines bonum futurum charakterisiert.
Entscheidend für die Struktur des Phänomens ist aber nicht
so
sehr der »zukünftige« Charakter dessen, worauf sich die
Hoff-
nung bezieht, als vielmehr der existenziale Sinn des Hoffens
selbst. Der Stimmungscharakter liegt auch hier primär im
Hoffen
als einem Für-sich-erhoffen. Der Hoffende nimmt sich
gleichsam
mit in die Hoffnung hinein und bringt sich dem Erhofften
entge-
gen. Das aber setzt ein Sich-gewonnen-haben voraus. Daß die
Hoffnung gegenüber der niederdrückenden Bangigkeit
erleichtert,
sagt nur, daß auch diese Befindlichkeit im Modus des
Gewesen-
seins auf die Last bezogen bleibt. Gehobene, besser hebende
Stimmung ist ontologisch nur möglich in einem
ekstatisch-zeit-
lichen Bezug des Daseins zum geworfenen Grunde seiner
selbst.
Die fahle Ungestimmtheit der Gleichgültigkeit vollends, die
an
nichts hängt und zu nichts drängt und sich dem überläßt, was
je
der Tag bringt, und dabei in gewisser Weise doch alles
mitnimmt,
demonstriert am eindringlichsten die Macht des Vergessens in
den alltäglichen Stimmungen des nächsten Besorgens. Das
Dahinleben, das alles »sein läßt«, wie es ist, gründet in
einem
vergessenden Sichüberlassen an die Geworfenheit. Es hat den
ekstatischen Sinn einer uneigentlichen Gewesenheit. Die
Gleich-
gültigkeit, die mit einer sichüberstürzenden Geschäftigkeit
zusammengehen kann, ist vom Gleichmut scharf zu trennen.
Diese Stimmung entspringt der Entschlossenheit, die augen-
blicklich ist auf die möglichen Situationen des im Vorlaufen
zum
Tode erschlossenen Ganzseinkönnens. 346
Nur Seiendes, das seinem Seinssinne nach sich befindet, das
heißt existierend je schon gewesen ist und in einem
ständigen
Modus der Gewesenheit existiert, kann affiziert werden.
Affek-
tion setzt ontologisch das Gegenwärtigen voraus, so zwar,
daß in
ihm das Dasein auf sich als gewesenes zurückgebracht werden
kann. Wie Reiz und Rührung der Sinne in einem Nur-Lebenden
ontologisch zu umgrenzen sind, wie und wo überhaupt das Sein
der Tiere zum Beispiel durch eine »Zeit« konstituiert wird,
bleibt
ein Problem für sich.
c) Die Zeitlichkeit des Verfallens1
Die zeitliche Interpretation des Verstehens und der
Befindlich-
keit stieß nicht nur auf eine je für das betr. Phänomen
primäre
Ekstase, sondern immer zugleich auf die ganze Zeitlichkeit.
Wie
die Zukunft primär das Verstehen, die Gewesenheit die Stim-
mung ermöglicht, so hat das dritte konstitutive
Strukturmoment
der Sorge, das Verfallen, seinen existenzialen Sinn in der
Gegen-
wart. Die vorbereitende Analyse des Verfallens begann mit
einer
Interpretation des Geredes, der Neugier und der
Zweideutigkeit2.
Die zeitliche Analyse des Verfallens soll denselben Gang
nehmen.
Wir schränken die Untersuchung jedoch ein auf eine
Betrachtung
der Neugier, weil an ihr die spezifische Zeitlichkeit des
Verfallens
am leichtesten zu sehen ist. Die Analyse des Geredes und der
Zweideutigkeit dagegen setzt schon die Klärung der zeitlichen
Konstitution der Rede und des Deutens (der Auslegung)
voraus.
Die Neugier ist eine ausgezeichnete Seinstendenz des
Daseins,
gemäß der es ein Sehenkönnen besorgt3. »Sehen« wird wie der
Begriff der Sicht nicht auf das Vernehmen durch die
»leiblichen
Augen« eingeschränkt. Das Vernehmen im weiteren Sinne läßt
das Zuhandene und Vorhandene an ihm selbst »leibhaftig« hin-
sichtlich seines Aussehens begegnen. Dieses Begegnenlassen
grün-
det in einer Gegenwart. Sie gibt überhaupt den ekstatischen
Horizont, innerhalb dessen Seiendes leibhaftig anwesend sein
kann. Die Neugier gegenwärtigt aber das Vorhandene nicht, um
es, bei ihm verweilend, zu verstehen, sondern sie sucht zu
sehen,
nur um zu sehen und gesehen zu haben. Als dieses sich in ihm
selbst verfangende Gegenwärtigen steht die Neugier in einer
ekstatischen Einheit mit einer entsprechenden Zukunft und
Gewesenheit. Die Gier nach dem Neuen ist zwar ein Vordringen
1 Vgl. § 38, S.
175 ff.
2 Vgl. §§
35 ff., S. 167 ff.
3 Vgl. § 36, S.
170 ff. 347
zu einem Noch-nicht-Gesehenen, aber so, daß das
Gegenwärtigen
sich dem Gewärtigen zu entziehen sucht. Die Neugier ist ganz
und gar uneigentlich zukünftig und dies wiederum dergestalt,
daß
sie nicht einer Möglichkeit gewärtig ist, sondern diese
schon nur
noch als Wirkliches in ihrer Gier begehrt. Die Neugier wird
kon-
stituiert durch ein ungehaltenes Gegenwärtigen, das, nur
gegen-
wärtigend, damit ständig dem Gewärtigen, darin es doch
ungehalten »gehalten« ist, zu entlaufen sucht. Die Gegenwart
»entspringt« dem zugehörigen Gewärtigen in dem betonten
Sinne
des Entlaufens. Das »entspringende« Gegenwärtigen der
Neugier
ist aber so wenig an die »Sache« hingegeben, daß es im
Gewin-
nen der Sicht auch schon wegsieht auf ein Nächstes. Das dem
Gewärtigen einer bestimmten ergriffenen Möglichkeit ständig
»entspringende« Gegenwärtigen ermöglicht ontologisch das
Unverweilen, das die Neugier auszeichnet. Das Gegenwärtigen
»entspringt« dem Gewärtigen nicht so, daß es sich gleichsam
ontisch verstanden von ihm ablöst und es ihm selbst
überläßt.
Das »Entspringen« ist eine ekstatische Modifikation des
Gewär-
tigens, so zwar, daß dieses dem Gegenwärtigen nachspringt.
Das
Gewärtigen gibt sich gleichsam selbst auf, es läßt auch
nicht mehr
uneigentliche Möglichkeiten des Besorgens aus dem Besorgten
auf sich zukommen, es sei denn nur solche für ein
ungehaltenes
Gegenwärtigen. Die ekstatische Modifizierung des Gewärtigens
durch das entspringende Gegenwärtigen zu einem nachspringen-
den ist die existenzial-zeitliche Bedingung der Möglichkeit
der
Zerstreuung.
Durch das nachspringende Gewärtigen wird das Gegenwärti-
gen mehr und mehr ihm selbst überlassen. Es gegenwärtigt um
der Gegenwart willen. So sich in sich selbst verfangend,
wird das
zerstreute Unverweilen zur Aufenthaltslosigkeit. Dieser
Modus
der Gegenwart ist das äußerste Gegenphänomen zum Augen-
blick. In jener ist das Dasein überall und nirgends. Dieser
bringt
die Existenz in die Situation und erschließt das eigentliche
»Da«.
Je uneigentlicher die Gegenwart ist, das heißt, je mehr das
Gegenwärtigen zu ihm »selbst« kommt, um so mehr flieht es
verschließend vor einem bestimmten Seinkönnen, um so weniger
kann aber dann die Zukunft auf das geworfene Seiende zurück-
kommen. Im »Entspringen« der Gegenwart liegt zugleich ein
wachsendes Vergessen. Daß die Neugier immer schon beim
Nächsten hält und das Vordem vergessen hat, ist nicht ein
Resul-
tat, das erst aus der Neugier sich ergibt, sondern die
ontologische
Bedingung für sie selbst.
Die aufgezeigten Charaktere des Verfallens: Versuchung, Be-
ruhigung, Entfremdung und Sichverfangen besagen hinsichtlich
des zeit- 348
lichen Sinnes, daß sich das »entspringende« Gegenwärtigen
seiner
ekstatischen Tendenz nach aus ihm selbst zu zeitigen sucht.
Das
Dasein verfängt sich, diese Bestimmung hat einen
ekstatischen
Sinn. Die Entrückung der Existenz im Gegenwärtigen bedeutet
ja
nicht, daß sich das Dasein von seinem Ich und Selbst ablöst.
Auch im extremsten Gegenwärtigen bleibt es zeitlich, das
heißt
gewärtigend, vergessend. Auch gegenwärtigend versteht sich
das
Dasein noch, wenngleich es seinem eigensten Seinkönnen, das
primär in der eigentlichen Zukunft und Gewesenheit gründet,
entfremdet ist. Sofern aber das Gegenwärtigen stets »Neues«
bietet, läßt es das Dasein nicht auf sich zurückkommen und
be-
ruhigt es ständig neu. Diese Beruhigung aber verstärkt
wiederum
die Tendenz zum Entspringen. Nicht die endlose Unübersehbar-
keit dessen, was noch nicht gesehen ist, »bewirkt« die
Neugier,
sondern die verfallende Zeitigungsart der entspringenden
Gegen-
wart. Auch wenn man alles gesehen hat, dann erfindet gerade
die
Neugier Neues.
Der Zeitigungsmodus des »Entspringens« der Gegenwart grün-
det im Wesen der Zeitlichkeit, die endlich ist. In das Sein
zum
Tode geworfen, flieht das Dasein zunächst und zumeist vor
dieser
mehr oder minder ausdrücklich enthüllten Geworfenheit. Die
Gegenwart entspringt ihrer eigentlichen Zukunft und Gewesen-
heit, um erst auf dem Umweg über sich das Dasein zur eigent-
lichen Existenz kommen zu lassen. Der Ursprung des
»Entsprin-
gens« der Gegenwart, das heißt des Verfallens in die
Verloren-
heit, ist die ursprüngliche, eigentliche Zeitlichkeit
selbst, die das
geworfene Sein zum Tode ermöglicht.
Die Geworfenheit, vor die das Dasein zwar eigentlich
gebracht
werden kann, um sich in ihr eigentlich zu verstehen, bleibt
ihm
gleichwohl hinsichtlich ihres ontischen Woher und Wie ver-
schlossen. Diese Verschlossenheit aber ist keineswegs nur
ein
tatsächlich bestehendes Nichtwissen, sondern konstituiert
die
Faktizität des Daseins. Sie bestimmt mit den ekstatischen
Charak-
ter der Überlassenheit der Existenz an den nichtigen Grund
ihrer
selbst.
Der Wurf des Geworfenseins in die Welt wird zunächst vom
Dasein nicht eigentlich aufgefangen; die in ihm liegende
»Bewegtheit« kommt nicht schon zum »Stehen« dadurch, daß
das Dasein nun »da ist«. Das Dasein wird in der Geworfenheit
mitgerissen, das heißt, als in die Welt Geworfenes verliert
es sich
an die »Welt« in der faktischen Angewiesenheit auf das zu
Besor-
gende. Die Gegenwart, die den existenzialen Sinn des Mitge-
nommenwerdens ausmacht, gewinnt von sich aus nie einen ande-
ren ekstatischen Horizont, es sei denn, sie werde 349
im Entschluß aus ihrer Verlorenheit zurückgeholt, um als
gehal-
tener Augenblick die jeweilige Situation und in eins damit
die
ursprüngliche »Grenzsituation« des Seins zum Tode zu er-
schließen.
d) Die Zeitlichkeit der Rede1
Die volle, durch Verstehen, Befindlichkeit und Verfallen
konsti-
tuierte Erschlossenheit des Da erhält durch die Rede die
Artikula-
tion. Daher zeitigt sich die Rede nicht primär in einer
bestimmten
Ekstase. Weil jedoch die Rede faktisch sich zumeist in der
Sprache ausspricht und zunächst in der Weise des besorgend-
beredenden Ansprechens der »Umwelt« spricht, hat allerdings
das Gegenwärtigen eine bevorzugte konstitutive Funktion.
Die Tempora ebenso wie die übrigen zeitlichen Phänomene der
Sprache, »Aktionsarten« und »Zeitstufen«, entspringen nicht
daraus, daß die Rede sich »auch« über »zeitliche«, das heißt
»in
der Zeit« begegnende Vorgänge ausspricht. Auch nicht darin
haben sie ihren Grund, daß das Sprechen »in einer
psychischen
Zeit« abläuft. Die Rede ist an ihr selbst zeitlich, sofern
alles
Reden über..., von... und zu... in der ekstatischen Einheit
der
Zeitlichkeit gründet. Die Aktionsarten sind verwurzelt in
der
ursprünglichen Zeitlichkeit des Besorgens, mag dieses auf
Inner-
zeitiges sich beziehen oder nicht. Mit Hilfe des vulgären
und
traditionellen Zeitbegriffes, zu dem die Sprachwissenschaft
not-
gedrungen greift, kann das Problem der
existenzial-zeitlichen
Struktur der Aktionsarten nicht einmal gestellt werden2.
Weil
aber die Rede je Bereden von Seiendem ist, wenngleich nicht
pri-
mär und vorwiegend im Sinne des theoretischen Aussagens,
kann
die Analyse der zeitlichen Konstitution der Rede und die
Explika-
tion der zeitlichen Charaktere der Sprachgebilde erst in
Angriff
genommen werden, wenn das Problem des grundsätzlichen
Zusammenhangs von Sein und Wahrheit aus der Problematik der
Zeitlichkeit aufgerollt ist. Dann läßt sich auch der
ontologische
Sinn des »ist« umgrenzen, das eine äußerliche Satz- und
Urteils-
theorie zur »Kopula« verunstaltet hat. Aus der Zeitlichkeit
der
Rede, das heißt des Daseins überhaupt, kann erst die
»Entste-
hung« der »Bedeutung« aufgeklärt und die Möglichkeit einer
Begriffsbildung ontologisch verständlich gemacht werden.
1 Vgl. § 34, S.
160 ff.
2 Vgl. u. a. Jak.
Wackernagel, Vorlesungen über Syntax. Bd. I (1920),
S. 15; besonders S. 149-210. Ferner G. Herbig, Aktionsart
und
Zeitstufe. Indogermanische Forschung Bd. VI (1896), S. 167 ff. 350
Das Verstehen gründet primär in der Zukunft (Vorlaufen bzw.
Gewärtigen). Die Befindlichkeit zeitigt sich primär in der
Gewe-
senheit (Wiederholung bzw. Vergessenheit). Das Verfallen ist
zeitlich primär in der Gegenwart (Gegenwärtigen bzw. Augen-
blick) verwurzelt. Gleichwohl ist das Verstehen je
»gewesende«
Gegenwart. Gleichwohl zeitigt sich die Befindlichkeit als
»gegen-
wärtigende« Zukunft. Gleichwohl »entspringt« die Gegenwart
aus, bzw. ist gehalten von einer gewesenden Zukunft. Daran
wird
sichtbar: Die Zeitlichkeit zeitigt sich in jeder Ekstase
ganz, das
heißt in der ekstatischen Einheit der jeweiligen vollen
Zeitigung
der Zeitlichkeit gründet die Ganzheit des Strukturganzen von
Existenz, Faktizität und Verfallen, das ist die Einheit der
Sorge-
struktur.
Die Zeitigung bedeutet kein »Nacheinander« der Ekstasen. Die
Zukunft ist nicht später als die Gewesenheit und diese nicht
frü-
her als die Gegenwart. Zeitlichkeit zeitigt sich als
gewesende-
gegenwärtigende Zukunft.
Die Erschlossenheit des Da und die existenziellen Grundmög-
lichkeiten des Daseins, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit,
sind
in der Zeitlichkeit fundiert. Die Erschlossenheit betrifft
aber im-
mer gleichursprünglich das volle In-der-Welt-sein, das
In-Sein
sowohl wie die Welt. In der Orientierung an der zeitlichen
Kon-
stitution der Erschlossenheit muß sich daher auch die
ontologi-
sche Bedingung der Möglichkeit dafür aufweisen lassen, daß
Seiendes sein kann, das als In-der-Welt-sein existiert.
§ 69. Die Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins und das Problem
der
Transzendenz der Welt
Die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit, das heißt die
Einheit
des »Außer-sich« in den Entrückungen von Zukunft, Gewesen-
heit und Gegenwart, ist die Bedingung der Möglichkeit dafür,
daß ein Seiendes sein kann, das als sein »Da« existiert. Das
Sei-
ende, das den Titel Da-sein trägt, ist »gelichtet«1. Das
Licht, das
diese Gelichtetheit des Daseins konstituiert, ist keine
ontisch
vorhandene Kraft und Quelle einer ausstrahlenden, an diesem
Seienden zuweilen vorkommenden Helligkeit. Was dieses
Seiende
wesenhaft lichtet, das heißt es für es selbst sowohl »offen«
als
auch »hell« macht, wurde vor aller »zeitlichen«
Interpretation als
Sorge bestimmt. In ihr gründet die volle Erschlossenheit des
Da.
Diese Gelichtetheit ermöglicht erst alle Er-
1 Vgl. § 28, S. 133. 351
leuchtung und Erhellung, jedes Vernehmen, »Sehen« und Haben
von etwas. Das Licht dieser Gelichtetheit verstehen wir nur,
wenn
wir nicht nach einer eingepflanzten, vorhandenen Kraft
suchen,
sondern die ganze Seinsverfassung des Daseins, die Sorge,
nach
dem einheitlichen Grunde ihrer existenzialen Möglichkeit
befra-
gen. Die ekstatische Zeitlichkeit lichtet das Da
ursprünglich. Sie
ist das primäre Regulativ der möglichen Einheit aller
wesenhaften
existenzialen Strukturen des Daseins.
Erst aus der Verwurzelung des Da-seins in der Zeitlichkeit
wird
die existenziale Möglichkeit des Phänomens einsichtig, das
wir zu
Beginn der Daseinsanalytik als Grundverfassung kenntlich
mach-
ten: des In-der-Welt-seins. Zu Anfang galt es, die
unzerreißbare,
strukturale Einheit dieses Phänomens zu sichern. Die Frage
nach
dem Grunde der möglichen Einheit dieser gegliederten
Struktur
blieb im Hintergrund. In der Absicht, das Phänomen vor den
selbstverständlichsten und daher verhängnisvollsten
Zersplitte-
rungstendenzen zu schützen, wurde der nächstalltägliche
Modus
des In-der-Welt-seins, das besorgende Sein beim
innerweltlich
Zuhandenen, eingehender interpretiert. Nachdem nunmehr die
Sorge selbst ontologisch umgrenzt und auf ihren
existenzialen
Grund, die Zeitlichkeit, zurückgeführt ist, kann das
Besorgen
seinerseits ausdrücklich aus der Sorge bzw. der Zeitlichkeit
begriffen werden.
Die Analyse der Zeitlichkeit des Besorgens hält sich
zunächst
an den Modus des umsichtigen Zutunhabens mit dem Zuhande-
nen. Sodann verfolgt sie die existenzial-zeitliche
Möglichkeit der
Modifikation des umsichtigen Besorgens zum »nur« hinsehenden
Entdecken von innerweltlich Seiendem im Sinne gewisser Mög-
lichkeiten der wissenschaftlichen Forschung. Die
Interpretation
der Zeitlichkeit des umsichtigen, sowohl wie des theoretisch
besorgenden Seins bei innerweltlich Zuhandenem und Vorhande-
nem zeigt zugleich, wie dieselbe Zeitlichkeit im vorhinein
schon
die Bedingung der Möglichkeit des In-der-Welt-seins ist, in
der
das Sein bei innerweltlichem Seienden überhaupt gründet. Die
thematische Analyse der zeitlichen Konstitution des
In-der-Welt-
seins führt zu den Fragen: in welcher Weise ist so etwas wie
Welt
überhaupt möglich, in welchem Sinne ist Welt, was und wie
transzendiert die Welt, wie »hängt« das »unabhängige«,
inner-
weltliche Seiende mit der transzendierenden Welt »zusammen«?
Die ontologische Exposition dieser Fragen ist nicht schon
ihre
Beantwortung. Wohl dagegen leistet sie die vorgängig notwen-
dige Klärung der Strukturen, mit Rücksicht auf die das
Trans-
zendenzproblem gestellt sein will. Die existenzial-zeitliche
Inter-
pretation des In-der- 352
Welt-seins betrachtet ein Dreifaches: a) die Zeitlichkeit
des um-
sichtigen Besorgens; b) den zeitlichen Sinn der Modifikation
des
umsichtigen Besorgens zum theoretischen Erkennen des inner-
weltlich Vorhandenen; c) das zeitliche Problem der
Transzendenz
der Welt.
a) Die Zeitlichkeit des umsichtigen Besorgens
Wie gewinnen wir die Blickrichtung für die Analyse der Zeit-
lichkeit des Besorgens? Das besorgende Sein bei der »Welt«
nannten wir den Umgang in und mit der Umwelt1. Als
exemplari-
sche Phänomene des Seins bei... wählten wir das Gebrauchen,
Hantieren, Herstellen von Zuhandenem und deren defiziente
und
indifferente Modi, das heißt das Sein bei dem, was zum
alltäg-
lichen Bedarf gehört2. Auch die eigentliche Existenz des
Daseins
hält sich in solchem Besorgen – selbst dann, wenn es für sie
»gleichgültig« bleibt. Das besorgte Zuhandene verursacht
nicht
das Besorgen, so daß dieses erst auf Grund der Einwirkungen
des
innerweltlichen Seienden entstünde. Das Sein bei Zuhandenem
läßt sich weder aus diesem ontisch erklären, noch kann umge-
kehrt dieses aus jenem abgeleitet werden. Besorgen als
Seinsart
des Daseins und Besorgtes als innerweltlich Zu-handenes sind
aber auch nicht lediglich zusammen vorhanden. Gleichwohl
besteht zwischen ihnen ein »Zusammenhang«. Von dem recht-
verstandenen Womit des Umgangs fällt auf den besorgenden
Umgang selbst ein Licht. Umgekehrt hat das Verfehlen der
phä-
nomenalen Struktur des Womit des Umgangs ein Verkennen der
existenzialen Verfassung des Umgehens zur Folge. Für die
Ana-
lyse des nächstbegegnenden Seienden ist es zwar schon ein
wesentlicher Gewinn, wenn der spezifische Zeugcharakter
dieses
Seienden nicht übersprungen wird. Es gilt aber, darüber
hinaus
zu verstehen, daß der besorgende Umgang sich nie bei einem
einzelnen Zeug aufhält. Das Gebrauchen und Hantieren mit
einem bestimmten Zeug bleibt als solches orientiert auf
einen
Zeugzusammenhang. Wenn wir zum Beispiel ein »verlegtes«
Zeug suchen, so ist dabei weder lediglich noch primär nur
das
Gesuchte in einem isolierten »Akt« gemeint, sondern der
Umkreis
des Zeugganzen ist schon vorentdeckt. Alles »zu Werke Gehen«
und Zugreifen stößt nicht aus dem Nichts auf ein isoliert
vorge-
gebenes Zeug, sondern kommt aus der je schon erschlossenen
Werkwelt im Zugriff auf ein Zeug zurück.
1 Vgl. § 15, S.
66 ff.
2 Vgl. § 12, S.
56 f. 353
Für die Analyse des Umgangs in Absicht auf sein Womit ergibt
sich hieraus die Anweisung, das existierende Sein beim
besorgten
Seienden gerade nicht auf ein isoliert zuhandenes Zeug zu
orien-
tieren, sondern auf das Zeugganze. Zu dieser Fassung des
Womit
des Umgangs zwingt auch die Besinnung auf den auszeichnenden
Seinscharakter des zuhandenen Zeugs, die Bewandtnis1. Diesen
Terminus verstehen wir ontologisch. Die Rede: es hat mit
etwas
bei etwas sein Bewenden, soll nicht ontisch eine Tatsache
fest-
stellen, sondern die Seinsart des Zuhandenen anzeigen. Der
Bezugscharakter der Bewandtnis, des »mit... bei...«, deutet
an,
daß ein Zeug ontologisch unmöglich ist. Zwar mag nur ein
einzi-
ges Zeug zuhanden sein und das andere »fehlen«. Darin aber
bekundet sich die Zugehörigkeit des gerade Zuhandenen zu
einem anderen. Der besorgende Umgang kann überhaupt nur
Zuhandenes umsichtig begegnen lassen, wenn er so etwas wie
Bewandtnis, die es je mit etwas bei etwas hat, schon
versteht Das
umsichtig-entdeckende Sein bei... des Besorgens ist ein
Bewen-
denlassen, das heißt verstehendes Entwerfen von Bewandtnis.
Wenn das Bewendenlassen die existenziale Struktur des Besor-
gens ausmacht, dieses aber als Sein bei... zur wesenhaften
Verfas-
sung der Sorge gehört, und wenn diese ihrerseits in der
Zeitlich-
keit gründet, dann muß die existenziale Bedingung der
Möglich-
keit des Bewendenlassens in einem Modus der Zeitigung der
Zeitlichkeit gesucht werden.
In der einfachsten Handhabung eines Zeugs liegt das Bewen-
denlassen. Das Wobei desselben hat den Charakter des Wozu;
im
Hinblick darauf ist das Zeug verwendbar bzw. in Verwendung.
Das Verstehen des Wozu, das heißt des Wobei der Bewandtnis,
hat die zeitliche Struktur des Gewärtigens. Des Wozu
gewärtig,
kann das Besorgen allein zugleich auf so etwas zurückkommen,
wobei es die Bewandtnis hat. Das Gewärtigen des Wobei in
eins
mit dem Behalten des Womit der Bewandtnis ermöglicht in
seiner
ekstatischen Einheit das spezifisch hantierende
Gegenwärtigen
des Zeugs.
Das Gewärtigen des Wozu ist weder ein Betrachten des
»Zwecks«, noch ein Erwarten des bevorstehenden Fertigwerdens
des herzustellenden Werkes. Es hat überhaupt nicht den
Charak-
ter eines thematischen Erfassens. Aber auch das Behalten
dessen,
womit es die Bewandtnis hat, bedeutet nicht ein thematisches
Festhalten. Der hantierende Umgang verhält sich ebensowenig
nur zum Wobei wie zum Wo-
1 Vgl. S
18, S. 83 ff. 354
mit des Bewendenlassens. Dieses konstituiert sich vielmehr
in der
Einheit des gewärtigenden Behaltens, so zwar, daß das
hieraus
entspringende Gegenwärtigen das charakteristische Aufgehen
des
Besorgens in seiner Zeugwelt ermöglicht. Das »eigentliche«,
ganz
hingegebene Sichbeschäftigen mit... ist weder nur beim Werk,
noch beim Werkzeug, noch bei beiden »zusammen«. Das in der
Zeitlichkeit gründende Bewendenlassen hat schon die Einheit
der
Bezüge gestiftet, in denen das Besorgen sich umsichtig
»bewegt«.
Für die Zeitlichkeit, die das Bewendenlassen konstituiert,
ist ein
spezifisches Vergessen wesentlich. Um an die Zeugwelt
»verlo-
ren« »wirklich« zu Werke gehen und hantieren zu können, muß
sich das Selbst vergessen. Sofern aber in der Einheit der
Zeitigung
des Besorgens je ein Gewärtigen führt, ist gleichwohl, wie
wir
noch zeigen werden, das eigene Seinkönnen des besorgenden
Daseins in die Sorge gestellt.
Das gewärtigend-behaltende Gegenwärtigen konstituiert die
Vertrautheit, gemäß der sich das Dasein als Miteinandersein
in
der öffentlichen Umweit »auskennt«. Das Bewendenlassen ver-
stehen wir existenzial als ein »Sein«-lassen. Auf seinem
Grunde
kann das Zuhandene als das Seiende, das es ist, für die
Umsicht
begegnen. Die Zeitlichkeit des Besorgens können wir daher
noch
verdeutlichen, wenn wir auf die Modi des umsichtigen
Begegnenlassens achten, die früher1 als Auffälligkeit,
Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit charakterisiert wurden.
Das
zuhandene Zeug begegnet hinsichtlich seines »wahren An-sich«
gerade nicht für ein thematisches Wahrnehmen von Dingen,
son-
dern in der Unauffälligkeit des »selbstverständlich«
»objektiv«
Vorfindlichen. Wenn im Ganzen dieses Seienden aber etwas
auf-
fällt, dann liegt hierin die Möglichkeit, daß das Zeugganze
als
solches sich mit aufdrängt. Wie muß das Bewendenlassen exi-
stenzial strukturiert sein, damit es etwas Auffallendes
begegnen
lassen kann? Die Frage zielt jetzt nicht auf faktische
Veranlassun-
gen, die die Aufmerksamkeit auf etwas Vorgegebenes lenken,
sondern auf den ontologischen Sinn dieser Lenkbarkeit als
sol-
cher.
Unverwendbares, zum Beispiel das bestimmte Versagen eines
Werkzeugs, kann nur auffallen in einem und für einen
hantieren-
den Umgang. Selbst das schärfste und anhaltendste »Wahrneh-
men« und »Vorstellen« von Dingen vermöchte nie so etwas wie
eine Beschädigung
1 Vgl. § 16, S. 72 ff. 355
des Werkzeugs zu entdecken. Das Handhaben muß gestört wer-
den können, damit Unhandliches begegnet. Was bedeutet das
aber ontologisch? Das gewärtigend-behaltende Gegenwärtigen
wird durch das, was sich nachher als Beschädigung
herausstellt,
aufgehalten hinsichtlich seines Aufgehens in den
Bewandtnisbe-
zügen. Das Gegenwärtigen, das gleichursprünglich des Wozu
gewärtig ist, wird beim gebrauchten Zeug festgehalten, so
zwar,
daß jetzt erst das Wozu und das Um-zu ausdrücklich begegnen.
Das Gegenwärtigen selbst jedoch kann wiederum nur ein Unge-
eignetes zu... antreffen, sofern es sich schon in einem
gewärtigen-
den Behalten dessen bewegt, womit es bei etwas seine
Bewandtnis
hat. Das Gegenwärtigen wird »aufgehalten«, sagt: es verlegt
sich,
in der Einheit mit dem behaltenden Gewärtigen, noch mehr in
sich selbst und konstituiert so das »Nachsehen«, Prüfen und
Beseitigen der Störung. Wäre der besorgende Umgang lediglich
eine Abfolge von »in der Zeit« verlaufenden »Erlebnissen«,
und
wären diese auch noch so innig »assoziiert«, ein
Begegnenlassen
des auffälligen, unverwendbaren Zeugs bliebe ontologisch
unmöglich. Das Bewendenlassen muß als solches, was immer es
auch an Zeugzusammenhängen umgänglich zugänglich macht, in
der ekstatischen Einheit des gewärtigend-behaltenden
Gegenwär-
tigens gründen.
Und wie ist das »Feststellen« von Fehlendem, das heißt Unzu-
handenem, nicht nur unhandlich Zuhandenem, möglich? Unzu-
handenes wird umsichtig entdeckt im Vermissen. Dieses und
das
in ihm fundierte »Konstatieren« des Nichtvorhandenseins von
etwas hat seine eigenen existenzialen Voraussetzungen. Das
Ver-
missen ist keineswegs ein Nichtgegenwärtigen, sondern ein
defi-
zienter Modus der Gegenwart im Sinne des Ungegenwärtigens
eines Erwarteten bzw immer schon Verfügbaren. Wäre das um-
sichtige Bewendenlassen nicht »von Hause aus« des Besorgten
gewärtig und zeitigte sich das Gewärtigen nicht in der
Einheit mit
einem Gegenwärtigen, dann könnte das Dasein nie »finden«,
daß
etwas fehlt.
Umgekehrt gründet die Möglichkeit des Überraschtwerdens
durch etwas darin, daß das gewärtigende Gegenwärtigen eines
Zuhandenen ungewärtig ist eines anderen, das in einem mög-
lichen Bewandtniszusammenhang mit jenem steht. Das Ungewär-
tigen des verlorenen Gegenwärtigens erschließt allererst den
»horizontalen« Spielraum, innerhalb dessen Überraschendes
das
Dasein überfallen kann.
Was der besorgende Umgang als Herstellen, Beschaffen, aber
auch als Abwenden, Fernhalten, Sichschützen vor... nicht
bewäl-
tigt, das enthüllt sich in seiner Unüberwindlichkeit. Das
Besorgen
findet sich 356
damit ab. Das Sichabfinden mit... ist aber ein eigener Modus
des
umsichtigen Begegnenlassens. Auf dem Grunde dieses
Entdeckens
kann das Besorgen das Ungelegene, Störende, Hindernde,
Gefährdende, überhaupt irgendwie Widerständige vorfinden.
Die
zeitliche Struktur des Sichabfindens liegt in einem
gewärtigend-
gegenwärtigenden Unbehalten. Das gewärtigende Gegenwärtigen
rechnet zum Beispiel nicht »auf« das Ungeeignete, aber
gleich-
wohl Verfügbare. Das Nichtrechnen mit... ist ein Modus des
Rechnungtragens dem gegenüber, woran man sich nicht halten
kann. Es wird nicht vergessen, sondern behalten, so daß es
gerade
in seiner Ungeeignetheit zuhanden bleibt. Dergleichen
Zuhande-
nes gehört zum alltäglichen Bestand der faktisch
erschlossenen
Umwelt.
Nur sofern Widerständiges auf dem Grunde der ekstatischen
Zeitlichkeit des Besorgens entdeckt ist, kann sich das
faktische
Dasein in seiner Uberlassenheit an eine »Welt«, deren es nie
Herr
wird, verstehen. Auch wenn das Besorgen auf das Dringliche
des
alltäglich Benötigten eingeschränkt bleibt, so ist es doch
nie ein
pures Gegenwärtigen, sondern entspringt einem gewärtigenden
Behalten, auf dessen Grunde bzw. als welcher »Grund« das
Dasein in einer Welt existiert. Deshalb kennt sich das
faktisch
existierende Dasein auch in einer fremden »Welt« immer schon
in gewisser Weise aus.
Das durch die Zeitlichkeit fundierte Bewendenlassen des
Besor-
gens ist ein noch ganz und gar vorontologisches,
unthematisches
Verstehen von Bewandtnis und Zuhandenheit. Inwiefern die
Zeitlichkeit am Ende auch das Verständnis dieser
Seinsbestim-
mungen als solcher fundiert, wird im Folgenden gezeigt
werden.
Zuvor gilt es, die Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins noch
konkre-
ter nachzuweisen. In dieser Absicht verfolgen wir die
»Entste-
hung« der theoretischen Verhaltung zur »Welt« aus dem
umsich-
tigen Besorgen des Zuhandenen. Das umsichtige sowohl wie das
theoretische Entdecken des innerweltlichen Seienden sind
fundiert
auf das In-der-Welt-sein. Die existen zial-zeitliche
Interpretation
jener bereitet die zeitliche Charakteristik dieser
Grundverfassung
des Daseins vor.
b) Der zeitliche Sinn der Modifikation des umsichtigen
Besorgens
zum theoretischen Entdecken des innerweltlich Vorhandenen
Wenn wir im Zuge der existenzial-ontologischen Analysen
nach der »Entstehung« des theoretischen Entdeckens aus dem
umsichtigen Besorgen fragen, dann liegt darin schon, daß
nicht
die ontische Ge- 357
schichte und Entwicklung der Wissenschaft, ihre faktischen
Ver-
anlassungen und nächsten Abzweckungen zum Problem gemacht
werden. Nach der ontologischen Genesis der theoretischen Ver-
haltung suchend, fragen wir: welches sind die in der
Seinsverfas-
sung des Daseins liegenden, existenzial notwendigen
Bedingungen
der Möglichkeit dafür, daß das Dasein in der Weise wissen-
schaftlicher Forschung existieren kann? Diese Fragestellung
zielt
auf einen existenzialen Begriff der Wissenschaft. Davon
unter-
scheidet sich der »logische« Begriff, der die Wissenschaft
mit
Rücksicht auf ihr Resultat versteht und sie als einen
»Begrün-
dungszusammenhang wahrer, das ist gültiger Sätze« bestimmt.
Der existenziale Begriff versteht die Wissenschaft als Weise
der
Existenz und damit als Modus des In-der-Welt-seins, der
Seiendes
bzw. Sein entdeckt, bzw. erschließt. Die vollzureichende
existen-
ziale Interpretation der Wissenschaft läßt sich jedoch erst
dann
durchführen, wenn der Sinn von Sein und der »Zusammenhang«
zwischen Sein und Wahrheit1 aus der Zeitlichkeit der
Existenz
aufgeklärt sind. Die folgenden Überlegungen bereiten das
Ver-
ständnis dieser zentralen Problematik vor, innerhalb deren
auch
erst die Idee der Phänomenologie im Unterschied zum
einleitend
angezeigten Vorbegriff2 entwickelt wird.
Der bisher gewonnenen Stufe der Betrachtung entsprechend,
ist
der Interpretation des theoretischen Verhaltens eine weitere
Beschränkung auferlegt. Wir untersuchen nur den Umschlag des
umsichtigen Besorgens von Zuhandenem zur Erforschung des
innerweltlich vor-findlichen Vorhandenen mit der leitenden
Absicht, zur zeitlichen Konstitution des In-der-Welt-seins
über-
haupt vorzudringen.
Es liegt nahe, den Umschlag vom »praktisch« umsichtigen
Hantieren, Gebrauchen und dergleichen zum »theoretischen«
Erforschen in folgender Weise zu charakterisieren: das pure
Hin-
sehen auf das Seiende entsteht dadurch, daß sich das
Besorgen
jeglicher Hantierung enthält. Das Entscheidende der »Entste-
hung« des theoretischen Verhaltens läge dann im Verschwinden
der Praxis. Gerade wenn man als primäre und vorherrschende
Seinsart des faktischen Daseins das »praktische« Besorgen
ansetzt, wird die »Theorie« ihre ontologische Möglichkeit
dem
Fehlen der Praxis, das heißt einer Privation verdanken.
Allein das
Aussetzen einer spezifischen Hantierung im besorgenden
Umgang
läßt die sie leitende Umsicht nicht einfach als einen Rest
zurück.
Das Besorgen verlegt sich dann vielmehr eigens in ein
1 Vgl. § 44, S.
212 ff.
2 Vgl § 7, S. 27
ff. 358
Nur-sich-umsehen. Damit ist aber noch keineswegs die
»theoreti-
sche« Haltung der Wissenschaft erreicht. Im Gegenteil, das
mit
der Hantierung aussetzende Verweilen kann den Charakter
einer
verschärften Umsicht annehmen als »Nachsehen«, Überprüfen
des Erreichten, als Überschau über den gerade »still
liegenden
Betrieb«. Sich enthalten vom Zeuggebrauch ist so wenig schon
»Theorie«, daß die verweilende, »betrachtende« Umsicht ganz
dem besorgten, zuhandenen Zeug verhaftet bleibt. Der
»prakti-
sche« Umgang hat seine eigenen Weisen des Verweilens. Und
wie
der Praxis ihre spezifische Sicht (»Theorie«) eignet, so ist
die
theoretische Forschung nicht ohne ihre eigene Praxis. Die
Able-
sung der Maßzahlen als Resultat eines Experiments bedarf oft
eines verwickelten »technischen« Aufbaus der Versuchsanord-
nung. Das Beobachten im Mikroskop ist angewiesen auf die
Her-
stellung von »Präparaten«. Die archäologische Ausgrabung,
die
der Interpretation des »Fundes« vorausgeht, erheischt die
gröbsten Hantierungen. Aber auch die »abstrakteste«
Ausarbei-
tung von Problemen und Fixierung des Gewonnenen hantiert
zum Beispiel mit Schreibzeug. So »uninteressant« und
»selbstver-
ständlich« solche Bestandstücke der wissenschaftlichen For-
schung sein mögen, sie sind ontologisch keineswegs
gleichgültig.
Der ausdrückliche Hinweis darauf, daß wissenschaftliches
Ver-
halten als Weise des In-der-Welt-seins nicht nur »rein
geistige
Tätigkeit« ist, mag sich umständlich und überflüssig
ausnehmen.
Wenn nur nicht an dieser Trivialität deutlich würde, daß es
kei-
neswegs am Tag liegt, wo denn nun eigentlich die
ontologische
Grenze zwischen dem »theoretischen« Verhalten und dem
»atheoretischen« verläuft!
Man wird geltend machen, daß alle Hantierung in der Wissen-
schaft nur im Dienst der reinen Betrachtung, des
untersuchenden
Entdeckens und Erschließens der »Sachen selbst« steht. Das
»Sehen«, im weitesten Sinne genommen, regelt alle
»Veranstal-
tungen« und behält den Vorrang. »Auf welche Art und durch
welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf
Gegenstände
beziehen mag, es ist doch diejenige, wodurch sie sich auf
diesel-
ben unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel
abzweckt, (v. Vf. gesp.), die Anschauung«.1 Die Idee des
intuitus
leitet seit den Anfängen der griechischen Ontologie bis
heute alle
Interpretation der Erkenntnis, mag er faktisch erreichbar sein
oder nicht. Gemäß dem Vorrang des »Sehens« wird der Aufweis
der existenzialen Genesis der Wissenschaft bei der
Charakteristik
der Umsicht einsetzen müssen, die das »praktische« Besorgen
führt.
1 Kant, Kr. d. r. V. 2.A. [B] S. 33. 359
Die Umsicht bewegt sich in den Bewandtnisbezügen des zuhan-
denen Zeugzusammenhangs. Sie untersteht selbst wieder der
Leitung durch eine mehr oder minder ausdrückliche Übersicht
über das Zeugganze der jeweiligen Zeugwelt und der ihr
zugehö-
rigen öffentlichen Umwelt. Die Übersicht ist nicht lediglich
ein
nachträgliches Zusammenraffen von Vorhandenem. Das Wesent-
liche der Übersicht ist das primäre Verstehen der
Bewandtnis-
ganzheit, innerhalb derer das faktische Besorgen jeweils
ansetzt.
Die das Besorgen erhellende Übersicht empfängt ihr »Licht«
aus
dem Seinkönnen des Daseins, worumwillen das Besorgen als
Sorge existiert. Die »übersichtliche« Umsicht des Be-sorgens
bringt dem Dasein im jeweiligen Gebrauchen und Hantieren das
Zuhandene näher in der Weise der Auslegung des Gesichteten.
Die spezifische, umsichtig-auslegende Näherung des Besorgten
nennen wir die Überlegung. Das ihr eigentümliche Schema ist
das
»wenn-so«: wenn dies oder jenes zum Beispiel hergestellt, in
Gebrauch genommen, verhütet werden soll, so bedarf es dieser
oder jener Mittel, Wege, Umstände, Gelegenheiten. Die
umsich-
tige Überlegung erhellt die jeweilige faktische Lage des
Daseins in
seiner besorgten Umwelt. Sie »konstatiert« demnach nie
lediglich
das Vorhandensein eines Seienden bzw. seine Eigenschaften.
Die
Überlegung kann sich auch vollziehen, ohne daß das in ihr
um-
sichtig Genäherte selbst handgreiflich zuhanden und in der
näch-
sten Sichtweite anwesend ist. Das Näherbringen der Umwelt in
der umsichtigen Überlegung hat den existenzialen Sinn einer
Gegenwärtigung. Denn die Vergegenwärtigung ist nur ein Modus
dieser. In ihr wird die Überlegung direkt des unzuhandenen
Benö-
tigten ansichtig. Die vergegenwärtigende Umsicht bezieht
sich
nicht etwa auf »bloße Vorstellungen«.
Die umsichtige Gegenwärtigung aber ist ein mehrfach fundier-
tes Phänomen. Zunächst gehört sie je einer vollen
ekstatischen
Einheit der Zeitlichkeit zu. Sie gründet in einem Behalten
des
Zeugzusammenhangs, den besorgend das Dasein einer Möglich-
keit gewärtig ist. Das im gewärtigenden Behalten schon
Aufge-
schlossene bringt die überlegende Gegenwärtigung bzw. Verge-
genwärtigung näher. Damit aber die Überlegung sich im Schema
des »wenn-so« soll bewegen können, muß das Besorgen schon
einen Bewandtniszusammenhang »übersichtlich« verstehen. Was
mit dem »Wenn« angesprochen wird, muß schon als das und das
verstanden sein. Hierzu ist nicht gefordert, daß sich das
Zeugver-
ständnis in einer Prädikation ausdrückt. Das Schema »etwas
als
etwas« ist schon in der Struktur des vorprädikativen
Verstehens
vorgezeichnet. Die Als-Struktur gründet ontologisch in der
Zeit-
lichkeit des Verstehens. Nur sofern das Dasein, einer
Möglichkeit
ge- 360
wärtig, das heißt hier eines Wozu, auf ein Dazu zurückgekom-
men ist, das heißt ein Zuhandenes behält, kann umgekehrt das
zu
diesem gewärtigenden Behalten gehörige Gegenwärtigen, bei
diesem Behaltenen ansetzend, es in seiner Verwiesenheit auf
das
Wozu ausdrücklich näher bringen. Die nähernde Überlegung
muß sich im Schema der Gegenwärtigung der Seinsart des zu
Nähernden anmessen. Der Bewandtnischarakter des Zuhandenen
wird durch die Überlegung nur so genähert, nicht erst
entdeckt,
daß sie das, wobei es mit etwas ein Bewenden hat, als dieses
um-
sichtig sehen läßt.
Die Verwurzelung der Gegenwart in der Zukunft und Gewe-
senheit ist die existenzial-zeitliche Bedingung der
Möglichkeit
dafür, daß das im Verstehen des umsichtigen Verständnisses
Entworfene in einem Gegenwärtigen nähergebracht werden kann,
so zwar, daß sich dabei die Gegenwart dem im Horizont des
gewärtigenden Behaltens Begegnenden anmessen, das heißt im
Schema der Als-Struktur auslegen muß. Damit ist die Antwort
auf die früher gestellte Frage gegeben, ob die Als-Struktur
mit
dem Phänomen des Entwurfs in einem existenzial-ontologischen
Zusammenhang stehe1. Das »Als« gründet wie Verstehen und
Auslegen überhaupt in der ekstatisch-horizontalen Einheit
der
Zeitlichkeit. Bei der Fundamentalanalyse des Seins und zwar
im
Zusammenhang der Interpretation des »ist«, das als copula
dem
Ansprechen von etwas als etwas »Ausdruck« gibt, müssen wir
das Als-Phänomen erneut zum Thema machen und den Begriff
des »Schemas« existenzial umgrenzen.
Was soll jedoch die zeitliche Charakteristik der umsichtigen
Überlegung und ihrer Schemata zur Beantwortung der schweben-
den Frage nach der Genesis des theoretischen Verhaltens
beitra-
gen? Nur soviel, daß sie die daseinsmäßige Situation des Um-
schlags vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken
verdeutlicht. Die Analyse des Umschlags selbst mag am
Leitfaden
einer elementaren Aussage der umsichtigen Überlegung und
ihrer
möglichen Modifikationen versucht werden.
Im umsichtigen Werkzeuggebrauch können wir sagen: der
Hammer ist zu schwer bzw. zu leicht. Auch der Satz: der Ham-
mer ist schwer, kann einer besorgenden Überlegung Ausdruck
geben und bedeuten: er ist nicht leicht, das heißt, er
fordert zur
Handhabung Kraft, bzw. er wird die Hantierung erschweren.
Der
Satz kann aber auch besagen: das vorliegende Seiende, das
wir
umsichtig schon als
1 Vgl. § 32, S. 151. 361
Hammer kennen, hat ein Gewicht, das heißt die »Eigenschaft«
der Schwere: es übt einen Druck auf seine Unterlage aus: bei
ihrer
Entfernung fällt es. Die so verstandene Rede ist nicht mehr
im
Horizont des gewärtigenden Behaltens eines Zeugganzen und
seiner Bewandtnisbezüge gesprochen. Das Gesagte ist
geschöpft
im Blick auf das, was einem »massigen« Seienden als solchem
eignet. Das nunmehr Gesichtete eignet nicht dem Hammer als
Werkzeug, sondern als Körperding, das dem Gesetz der Schwere
unterliegt. Die umsichtige Rede von »zu schwer« bzw. »zu
leicht« hat jetzt keinen »Sinn« mehr, das heißt, das jetzt
begeg-
nende Seiende gibt an ihm selbst nichts her, mit Bezug
worauf es
zu schwer bzw. zu leicht »befunden« werden könnte.
Woran liegt es, daß sich in der modifizierten Rede ihr
Worüber, der schwere Hammer, anders zeigt? Nicht daran, daß
wir vom Hantieren Abstand nehmen, aber auch nicht daran, daß
wir vom Zeugcharakter dieses Seienden nur absehen, sondern
daran, daß wir das begegnende Zuhandene »neu« ansehen, als
Vorhandenes. Das Seinsverständnis, das den besorgenden Um-
gang mit dem innerweltlichen Seienden leitet, hat
umgeschlagen.
Aber konstituiert sich dadurch, daß wir, statt Zuhandenes
um-
sichtig zu überlegen, es als Vorhandenes »auffassen«, schon
ein
wissenschaftliches Verhalten? Überdies kann doch auch Zuhan-
denes zum Thema wissenschaftlicher Untersuchung und Bestim-
mung gemacht werden, zum Beispiel bei der Erforschung einer
Umwelt, des Milieus im Zusammenhang einer historischen Bio-
graphie. Der alltäglich zuhandene Zeugzusammenhang, seine
geschichtliche Entstehung, Verwertung, seine faktische Rolle
im
Dasein ist Gegenstand der Wissenschaft von der Wirtschaft.
Das
Zuhandene braucht seinen Zeugcharakter nicht zu verlieren,
um
»Objekt« einer Wissenschaft werden zu können. Die Modifika-
tion des Seinsverständnisses scheint nicht notwendig
konstitutiv
zu sein für die Genesis des theoretischen Verhaltens »zu den
Din-
gen«. Gewiß – wenn Modifikation besagen soll: Wechsel der im
Verstehen verstandenen Seinsart des vorliegenden Seienden.
Für die erste Kennzeichnung der Genesis des theoretischen
Verhaltens aus der Umsicht haben wir eine Weise der
theoreti-
schen Erfassung von innerweltlichem Seienden, der physischen
Natur, zugrundegelegt, bei der die Modifikation des
Seinsver-
ständnisses einem Umschlag gleichkommt. In der »physikali-
schen« Aussage »der Hammer ist schwer« wird nicht nur der
Werkzeugcharakter des begegnenden Seienden übersehen, son-
dern in eins damit das, was zu jedem zuhandenen Zeug gehört:
sein Platz. Er wird gleichgültig. Nicht daß das 362
Vorhandene überhaupt seinen »Ort« verlöre. Der Platz wird zu
einer Raum-Zeit-Stelle, zu einem »Weltpunkt«, der sich vor
kei-
nem andern auszeichnet. Darin liegt: die umweltlich
umschränkte
Platzmannigfaltigkeit des zuhandenen Zeugs wird nicht allein
zu
einer puren Stellenmannigfaltigkeit modifiziert, sondern das
Sei-
ende der Umwelt wird überhaupt entschränkt. Das All des Vor-
handenen wird Thema.
Zur Modifikation des Seinsverständnisses gehört im
vorliegen-
den Fall eine Entschränkung der Umwelt. Am Leitfaden des
nunmehr führenden Verstehens von Sein im Sinne der Vorhan-
denheit wird die Entschränkung aber zugleich zu einer
Umgren-
zung der »Region« des Vorhandenen. Je angemessener im füh-
renden Seinsverständnis das Sein des zu erforschenden
Seienden
verstanden und damit das Ganze des Seienden als mögliches
Sachgebiet einer Wissenschaft in seinen Grundbestimmungen
artikuliert ist, um so sicherer wird die jeweilige
Perspektive des
methodischen Fragens.
Das klassische Beispiel für die geschichtliche Entwicklung
einer
Wissenschaft, zugleich aber auch für die ontologische
Genesis, ist
die Entstehung der mathematischen Physik. Das Entscheidende
für ihre Ausbildung liegt weder in der höheren Schätzung der
Beobachtung der »Tatsachen«, noch in der »Anwendung« von
Mathematik in der Bestimmung der Naturvorgänge – sondern im
mathematischen Entwurf der Natur selbst. Dieser Entwurf ent-
deckt vorgängig ein ständig Vorhandenes (Materie) und öffnet
den Horizont für den leitenden Hinblick auf seine quantitativ
bestimmbaren konstitutiven Momente (Bewegung, Kraft, Ort
und Zeit). Erst »im Licht« einer dergestalt entworfenen
Natur
kann so etwas wie eine »Tatsache« gefunden und für einen aus
dem Entwurf regulativ umgrenzten Versuch angesetzt werden.
Die »Begründung« der »Tatsachenwissenschaft« wurde nur
dadurch möglich, daß die Forscher verstanden: es gibt
grundsätz-
lich keine »bloßen Tatsachen«. Am mathematischen Entwurf der
Natur ist wiederum nicht primär das Mathematische als
solches
entscheidend, sondern daß er ein Apriori erschließt. Und so
besteht denn auch das Vorbildliche der mathematischen Natur-
wissenschaft nicht in ihrer spezifischen Exaktheit und
Verbind-
lichkeit für »Jedermann«, sondern darin, daß in ihr das
themati-
sche Seiende so entdeckt ist, wie Seiendes einzig entdeckt
werden
kann: im vorgängigen Entwurf seiner Seinsverfassung. Mit der
grundbegrifflichen Ausarbeitung des führenden
Seinsverständnis-
ses determinieren sich die Leitfäden der Methoden, die
Struktur
der Begrifflichkeit, die zugehörige Möglichkeit von Wahrheit
und
Gewißheit, die Begründungs- 363
und Beweisart, der Modus der Verbindlichkeit und die Art der
Mitteilung. Das Ganze dieser Momente konstituiert den vollen
existenzialen Begriff der Wissenschaft.
Der wissenschaftliche Entwurf des je schon irgendwie begeg-
nenden Seienden läßt dessen Seinsart ausdrücklich verstehen,
so
zwar, daß damit die möglichen Wege zum reinen Entdecken des
innerweltlichen Seienden offenbar werden. Das Ganze dieses
Entwerfens, zu dem die Artikulation des Seinsverständnisses,
die
von ihm geleitete Umgrenzung des Sachgebietes und die Vor-
zeichnung der dem Seienden angemessenen Begrifflichkeit
gehö-
ren, nennen wir die Thematisierung. Sie zielt auf eine
Freigabe
des innerweltlich begegnenden Seienden dergestalt, daß es
sich
einem puren Entdecken »entgegenwerfen«, das heißt Objekt
werden kann. Die Thematisierung objektiviert. Sie »setzt«
nicht
erst das Seiende, sondern gibt es so frei, daß es »objektiv«
befragbar und bestimmbar wird. Das objektivierende Sein bei
innerweltlich Vorhandenem hat den Charakter einer
ausgezeich-
neten Gegenwärtigung1. Sie unterscheidet sich von der Gegen-
wart der Umsicht vor allem dadurch, daß das Entdecken der
betreffenden Wissenschaft einzig der Entdecktheit des
Vorhande-
nen gewärtig ist. Diese Gewärtigung der Entdecktheit gründet
existenziell in einer Entschlossenheit des Daseins, durch
die es
sich auf das Seinkönnen in der »Wahrheit« entwirft. Dieser
Ent-
wurf ist möglich, weil das In-der-Wahrheit-sein eine
Existenzbe-
stimmung des Daseins ausmacht. Der Ursprung der Wissenschaft
aus der eigentlichen Existenz ist hier nicht weiter zu
verfolgen. Es
gilt jetzt lediglich zu verstehen, daß und wie die
Thematisierung
des innerweltlichen Seienden die Grundverfassung des
Daseins,
das In-der-Welt-sein, zur Voraussetzung hat.
Damit die Thematisierung des Vorhandenen, der wissenschaft-
liche Entwurf der Natur, möglich wird, muß das Dasein das
the-
matisierte Seiende transzendieren. Die Transzendenz besteht
nicht
in der Objektivierung, sondern diese setzt jene voraus. Wenn
aber
die Thema-
1 Die These, daß alle Erkenntnis auf »Anschauung« abzweckt,
hat den
zeitlichen Sinn: alles Erkennen ist Gegenwärtigen. Ob jede
Wissenschaft
und ob gar philosophische Erkenntnis auf ein Gegenwärtigen
zielt,
bleibe hier noch unentschieden. – Husserl gebraucht zur
Charakteristik
der sinnlichen Wahrnehmung den Ausdruck »Gegenwärtigen«.
Vgl. Log.
Untersuchungen, 1. Aufl. (1901) Bd. II, S. 588 u. 620. Die
intentionale
Analyse der Wahrnehmung und Anschauung überhaupt mußte diese
»zeitliche« Kennzeichnung des Phänomens nahelegen. Daß und
wie die
Intentionalität des »Bewußtseins« in der ekstatischen
Zeitlichkeit des
Daseins gründet, wird der folgende Abschnitt zeigen. 364
tisierung des innerweltlich Vorhandenen ein Umschlag des um-
sichtig entdeckenden Besorgens ist, dann muß schon dem
»prak-
tischen« Sein beim Zuhandenen eine Transzendenz des Daseins
zugrundeliegen.
Wenn ferner die Thematisierung das Seinsverständnis modifi-
ziert und artikuliert, dann muß das thematisierende Seiende,
das
Dasein, sofern es existiert, so etwas wie Sein schon
verstehen.
Das Verstehen von Sein kann neutral bleiben. Zuhandenheit
und
Vorhandenheit sind dann noch nicht unterschieden und noch
weniger ontologisch begriffen. Damit aber das Dasein mit
einem
Zeugzusammenhang soll umgehen können, muß es so etwas wie
Bewandtnis, wenngleich unthematisch, verstehen: es muß ihm
eine Welt erschlossen sein. Sie ist mit der faktischen
Existenz des
Daseins erschlossen, wenn anders dieses Seiende wesenhaft
als In-
der-Welt-sein existiert. Und gründet vollends das Sein des
Daseins in der Zeitlichkeit, dann muß diese das
In-der-Welt-sein
und somit die Transzendenz des Daseins ermöglichen, die
ihrer-
seits das besorgende, ob theoretische oder praktische Sein
bei
innerweltlichem Seienden trägt.
c) Das zeitliche Problem der Transzendenz der Welt
Das im umsichtigen Besorgen beschlossene Verstehen einer
Bewandtnisganzheit gründet in einem vorgängigen Verstehen
der
Bezüge des Um-zu, Wozu, Dazu, Um-willen. Der Zusammenhang
dieser Bezüge wurde früher1 als Bedeutsamkeit
herausgestellt.
Ihre Einheit macht das aus, was wir Welt nennen. Die Frage
er-
hebt sich: wie ist so etwas wie Welt in seiner Einheit mit
dem
Dasein ontologisch möglich? In welcher Weise muß Welt sein,
damit das Dasein als In-der-Welt-sein existieren kann?
Das Dasein existiert umwillen eines Seinkönnens seiner
selbst.
Existierend ist es geworfen und als geworfenes an Seiendes
über-
antwortet, dessen es bedarf, um sein zu können, wie es ist,
näm-
lich umwillen seiner selbst. Sofern Dasein faktisch
existiert, ver-
steht es sich in diesem Zusammenhang des Um-willen seiner
selbst mit einem jeweiligen Um-zu. Worinnen das existierende
Dasein sich versteht, das ist mit seiner faktischen Existenz
»da«.
Das Worinnen des primären Selbstverständnisses hat die
Seinsart
des Daseins. Dieses ist existierend seine Welt.
Das Sein des Daseins bestimmten wir als Sorge, Deren ontolo-
gischer Sinn ist die Zeitlichkeit. Daß und wie diese die
Erschlos-
senheit des
1 Vgl. § 18, S. 87 ff. 365
Da konstituiert, wurde gezeigt. In der Erschlossenheit des
Da ist
Welt miterschlossen. Die Einheit der Bedeutsamkeit, das
heißt die
ontologische Verfassung der Welt, muß dann gleichfalls in
der
Zeitlichkeit gründen. Die existenzial-zeitliche Bedingung
der
Möglichkeit der Welt liegt darin, daß die Zeitlichkeit als
ekstati-
sche Einheit so etwas wie einen Horizont hat. Die Ekstasen
sind
nicht einfach Entrückungen zu... Vielmehr gehört zur Ekstase
ein
»Wohin« der Entrückung. Dieses Wohin der Ekstase nennen wir
das horizontale Schema. Der ekstatische Horizont ist in
jeder der
drei Ekstasen verschieden. Das Schema, in dem das Dasein
zukünftig, ob eigentlich oder uneigentlich, auf sich
zukommt, ist
das Umwillen seiner. Das Schema, in dem das Dasein ihm
selbst
als geworfenes in der Befindlichkeit erschlossen ist, fassen
wir als
das Wovor der Geworfenheit bzw. als Woran der
Überlassenheit.
Es kennzeichnet die horizontale Struktur der Gewesenheit.
Umwillen seiner existierend in der Überlassenheit an es
selbst als
geworfenes, ist das Dasein als Sein bei... zugleich
gegenwärtigend.
Das horizontale Schema der Gegenwart wird bestimmt durch das
Um-zu.
Die Einheit der horizontalen Schemata von Zukunft, Gewesen-
heit und Gegenwart gründet in der ekstatischen Einheit der
Zeit-
lichkeit. Der Horizont der ganzen Zeitlichkeit bestimmt das,
woraufhin das faktisch existierende Seiende wesenhaft
erschlos-
sen ist. Mit dem faktischen Da-sein ist je im Horizont der
Zu-
kunft je ein Seinkönnen entworfen, im Horizont der Gewesenheit
das »Schon sein« erschlossen und im Horizont der Gegenwart
Besorgtes entdeckt. Die horizontale Einheit der Schemata der
Ekstasen ermöglicht den ursprünglichen Zusammenhang der Um-
zu-Bezüge mit dem Um-willen. Darin liegt: auf dem Grunde der
horizontalen Verfassung der ekstatischen Einheit der
Zeitlichkeit
gehört zum Seienden, das je sein Da ist, so etwas wie
erschlossene
Welt.
Wie die Gegenwart in der Einheit der Zeitigung der
Zeitlichkeit
aus Zukunft und Gewesenheit entspringt, so zeitigt sich
gleichur-
sprünglich mit den Horizonten der Zukunft und Gewesenheit
der
einer Gegenwart. Sofern Dasein sich zeitigt, ist auch eine
Welt.
Hinsichtlich seines Seins als Zeitlichkeit sich zeitigend,
ist das
Dasein auf dem Grunde der ekstatisch-horizontalen Verfassung
jener wesenhaft »in einer Welt«. Die Welt ist weder
vorhanden
noch zuhanden, sondern zeitigt sich in der Zeitlichkeit. Sie
»ist«
mit dem Außer-sich der Ekstasen »da«. Wenn kein Dasein
existiert, ist auch keine Welt »da«.
Das faktische besorgende Sein bei Zuhandenem, die Themati-
sierung des Vorhandenen und das objektivierende Entdecken
dieses Seienden setzen schon Welt voraus, das heißt, sind
nur als
Weisen des In-der-Welt- 366
seins möglich. In der horizontalen Einheit der ekstatischen
Zeit-
lichkeit gründend, ist die Welt transzendent. Sie muß schon
ekstatisch erschlossen sein, damit aus ihr her
innerweltliches
Seiendes begegnen kann. Ekstatisch hält sich die
Zeitlichkeit
schon in den Horizonten ihrer Ekstasen und kommt, sich
zeiti-
gend, auf das in das Da begegnende Seiende zurück. Mit der
faktischen Existenz des Daseins begegnet auch schon
innerwelt-
liches Seiendes. Daß dergleichen Seiendes mit dem eigenen Da
der
Existenz entdeckt ist, steht nicht im Belieben des Daseins.
Nur
was es jeweils, in welcher Richtung, wie weit und wie es
entdeckt
und erschließt, ist Sache seiner Freiheit, wenngleich immer
in den
Grenzen seiner Geworfenheit.
Die Bedeutsamkeitsbezüge, welche die Struktur der Welt
bestimmen, sind daher kein Netzwerk von Formen, das von
einem weltlosen Subjekt einem Material übergestülpt wird.
Das
faktische Dasein kommt vielmehr, ekstatisch sich und seine
Welt
in der Einheit des Da verstehend, aus diesen Horizonten zurück
auf das in ihnen begegnende Seiende. Das verstehende Zurück-
kommen auf... ist der existenziale Sinn des gegenwärtigenden
Begegnenlassens von Seiendem, das deshalb innerweltliches
genannt wird. Die Welt ist gleichsam schon »weiter draußen«,
als
es je ein Objekt sein kann. Das »Transzendenzproblem« kann
nicht auf die Frage gebracht werden: wie kommt ein Subjekt
hinaus zu einem Objekt, wobei die Gesamtheit der Objekte mit
der Idee der Welt identifiziert wird. Zu fragen ist: was
ermöglicht
es ontologisch, daß Seiendes innerweltlich begegnen und als
begegnendes objektiviert werden kann? Der Rückgang auf die
ekstatisch-horizontal fundierte Transzendenz der Welt gibt
die
Antwort.
Wenn das »Subjekt« ontologisch als existierendes Dasein
begriffen wird, dessen Sein in der Zeitlichkeit gründet,
dann muß
gesagt werden: Welt ist »subjektiv«. Diese »subjektive« Welt
aber ist dann als zeitlich-transzendente »objektiver« als
jedes
mögliche »Objekt«.
Durch die Rückführung des In-der-Welt-seins auf die eksta-
tischhorizontale Einheit der Zeitlichkeit ist die
existenzial-onto-
logische Möglichkeit dieser Grundverfassung des Daseins ver-
ständlich gemacht. Zugleich wird deutlich, daß die konkrete
Ausarbeitung der Weltstruktur überhaupt und ihrer möglichen
Abwandlungen nur in Angriff genommen werden kann, wenn die
Ontologie des möglichen innerweltlichen Seienden hinreichend
sicher an einer geklärten Idee des Seins überhaupt
orientiert ist.
Die mögliche Interpretation dieser Idee verlangt zuvor die
Her-
ausstellung der Zeitlichkeit des Daseins, der die jetzige
Charakte-
ristik des In-der-Welt-seins dient.
367
§ 70. Die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit
Wenngleich der Ausdruck »Zeitlichkeit« nicht das bedeutet,
was die Rede von »Raum und Zeit« als Zeit versteht, so
scheint
doch auch die Räumlichkeit eine entsprechende Grundbestimmt-
heit des Daseins auszumachen wie die Zeitlichkeit. Die
existen-
zial-zeitliche Analyse scheint daher mit der Räumlichkeit
des
Daseins an eine Grenze zu kommen, so daß dieses Seiende, das
wir Dasein nennen, in der Nebenordnung als »zeitlich« »und
auch« als räumlich angesprochen werden muß. Ist der existen-
zial-zeitlichen Analyse des Daseins Halt geboten durch das
Phä-
nomen, das wir als daseinsmäßige Räumlichkeit kennen lernten
und als zum-In-der-Welt-sein gehörig aufzeigten1?
Daß im Zuge der existenzialen Interpretation die Rede von
der
»räumlich-zeitlichen« Bestimmtheit des Daseins nicht besagen
kann, dieses Seiende sei »im Raum und auch in der Zeit« vor-
handen, bedarf keiner Erörterung mehr. Zeitlichkeit ist der
Seins-
sinn der Sorge. Die Verfassung des Daseins und seine Weisen
zu
sein sind ontologisch nur möglich auf dem Grunde der
Zeitlich-
keit, abgesehen davon, ob dieses Seiende »in der Zeit«
vorkommt
oder nicht. Dann muß aber auch die spezifische Räumlichkeit
des
Daseins in der Zeitlichkeit gründen. Andererseits kann der
Nachweis, daß diese Räumlichkeit existenzial nur durch die
Zeit-
lichkeit möglich ist, nicht darauf abzielen, den Raum aus
der Zeit
zu deduzieren, bzw. in pure Zeit aufzulösen. Wenn die Räum-
lichkeit des Daseins von der Zeitlichkeit im Sinne der
existenzia-
len Fundierung »umgriffen« wird, dann ist dieser im
folgenden zu
klärende Zusammenhang auch verschieden von dem Vorrang der
Zeit gegenüber dem Raum im Sinne Kants. Daß die empirischen
Vorstellungen des »im Raum« Vorhandenen als psychische Vor-
kommnisse »in der Zeit« verlaufen, und so das »Physische«
mit-
telbar auch »in der Zeit« vorkommt, ist keine
existenzial-ontolo-
gische Interpretation des Raumes als einer Anschauungsform,
sondern die ontische Feststellung des Ablaufs von psychisch
Vor-
handenem »in der Zeit«.
Es soll existenzial-analytisch nach den zeitlichen
Bedingungen
der Möglichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit gefragt wer-
den, die ihrerseits das Entdecken des innerweltlichen Raumes
fundiert. Zuvor müssen wir daran erinnern, in welcher Weise
das
Dasein räumlich ist. Räumlich wird das Dasein nur sein
können
als Sorge im Sinne des faktisch verfallenden Existierens.
Negativ
besagt das: Dasein ist nie,
1 Vgl. §§ 22-24,
S. 101 ff. 368
auch zunächst nie, im Raum vorhanden. Es füllt nicht wie ein
reales Ding oder Zeug ein Raumstück aus, so daß seine Grenze
gegen den es umgebenden Raum selbst nur eine räumliche
Bestimmung des Raumes ist. Das Dasein nimmt – im wörtlichen
Verstande – Raum ein. Es ist keineswegs nur in dem Raumstück
vorhanden, den der Leibkörper ausfüllt. Existierend hat es
sich je
schon einen Spielraum eingeräumt. Es bestimmt je seinen
eigenen
Ort so, daß es aus dem eingeräumten Raum auf den »Platz«
zurückkommt, den es belegt hat. Um sagen zu können, das
Dasein sei im Raum an einer Stelle vorhanden, müssen wir
dieses
Seiende zuvor ontologisch unangemessen auffassen. Der Unter-
schied zwischen der »Räumlichkeit« eines ausgedehnten Dinges
und der des Daseins liegt auch nicht darin, daß dieses um
den
Raum weiß; denn das Raum-Einnehmen ist so wenig identisch
mit einem »Vorstellen« von Räumlichem, daß dieses jenes vor-
aussetzt. Die Räumlichkeit des Daseins darf auch nicht als
Unvollkommenheit ausgelegt werden, die der Existenz auf
Grund
der fatalen »Verknüpfung des Geistes mit einem Leib«
anhaftet.
Das Dasein kann vielmehr, weil es »geistig« ist, und nur
deshalb
in einer Weise räumlich sein, die einem ausgedehnten
Körperding
wesenhaft unmöglich bleibt.
Das Sicheinräumen des Daseins wird konstituiert durch Aus-
richtung und Ent-fernung. Wie ist dergleichen existenzial
auf dem
Grunde der Zeitlichkeit des Daseins möglich? Die fundierende
Funktion der Zeitlichkeit für die Räumlichkeit des Daseins
soll in
Kürze nur soweit angezeigt werden, als das für die späteren
Erör-
terungen des ontologischen Sinnes der »Verkuppelung« von
Raum und Zeit notwendig ist. Zur Einräumung des Daseins
gehört das sichausrichtende Entdecken von so etwas wie
Gegend.
Mit diesem Ausdruck meinen wir zunächst das Wohin der mög-
lichen Hingehörigkeit des umweltlich zuhandenen, platzierbaren
Zeugs. In allem Vorfinden, Handhaben, Um- und Wegräumen
von Zeug ist schon Gegend entdeckt. Das besorgende In-der-
Welt-sein ist ausgerichtet – sich ausrichtend.
Hingehörigkeit hat
wesenhaften Bezug zu Bewandtnis. Sie determiniert sich
faktisch
immer aus dem Bewandtniszusammenhang des besorgten Zeugs.
Die Bewandtnisbezüge sind nur im Horizont einer
erschlossenen
Welt verständlich. Deren Horizontcharakter ermöglicht auch
erst
den spezifischen Horizont des Wohin der gegendhaften
Hingehö-
rigkeit. Das sichausrichtende Entdecken von Gegend gründet
in
einem ekstatisch behaltenden Gewärtigen des möglichen
Dorthin
und Hierher. Das Sicheinräumen ist als ausgerichtetes
Gewärti-
gen von Gegend gleichursprünglich ein Nähern (Ent-fernen)
von
Zuhandenem 369
und Vorhandenem. Aus der vorentdeckten Gegend kommt das
Besorgen ent-fernend auf das Nächste zurück. Näherung und
imgleichen Schätzung und Messung der Abstände innerhalb des
ent-fernten innerweltlich Vorhandenen gründen in einem
Gegen-
wärtigen, das zur Einheit der Zeitlichkeit gehört, in der
auch
Ausrichtung möglich wird.
Weil das Dasein als Zeitlichkeit in seinem Sein
ekstatisch-hori-
zontal ist, kann es faktisch und ständig einen eingeräumten
Raum
mitnehmen. Mit Rücksicht auf diesen ekstatisch eingenommenen
Raum bedeutet das Hier der jeweiligen faktischen Lage bzw.
Situation nie eine Raumstelle, sondern den in Ausrichtung
und
Ent-fernung geöffneten Spielraum des Umkreises des nächstbe-
sorgten Zeugganzen.
In der Näherung, die das »in der Sache aufgehende« Handha-
ben und Beschäftigtsein ermöglicht, bekundet sich die
wesenhafte
Struktur der Sorge, das Verfallen. Dessen
existenzial-zeitliche
Konstitution ist dadurch ausgezeichnet, daß in ihm und damit
auch in der »gegenwärtig« fundierten Näherung das gewärti-
gende Vergessen der Gegenwart nachspringt. In der nähernden
Gegenwärtigung von etwas aus seinem Dorther verliert sich
das
Gegenwärtigen, das Dort vergessend, in sich selbst. Daher
kommt
es, daß, wenn die »Betrachtung« des innerweltlichen Seienden
in
einem solchen Gegenwärtigen anhebt, der Schein entsteht, es
sei
»zunächst« nur ein Ding vorhanden, hier zwar, aber
unbestimmt
in einem Raum überhaupt.
Nur auf dem Grunde der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit
ist der Einbruch des Daseins in den Raum möglich. Die Welt
ist
nicht im Raum vorhanden; dieser jedoch läßt sich nur
innerhalb
einer Welt entdecken. Die ekstatische Zeitlichkeit der
daseins-
mäßigen Räumlichkeit macht gerade die Unabhängigkeit des
Raumes von der Zeit verständlich, umgekehrt aber auch
die»Abhängigkeit« des Daseins vom Raum, die sich in dem
bekannten Phänomen offenbart, daß die Selbstauslegung des
Daseins und der Bedeutungsbestand der Sprache überhaupt
weit-
gehend von »räumlichen Vorstellungen« durchherrscht ist.
Dieser
Vorrang des Räumlichen in der Artikulation von Bedeutungen
und Begriffen hat seinen Grund nicht in einer spezifischen
Mäch-
tigkeit des Raumes, sondern in der Seinsart des Daseins.
Wesen-
haft verfallend, verliert sich die Zeitlichkeit in das
Gegenwärtigen
und versteht sich nicht nur umsichtig aus dem besorgten
Zuhan-
denen, sondern entnimmt dem, was das Gegenwärtigen an ihm
als anwesend ständig antrifft, den räumlichen Beziehungen,
die
Leitfäden für die Artikulation des im Verstehen überhaupt
Ver-
standenen und Auslegbaren. 370
§ 71. Der zeitliche Sinn der Alltäglichkeit des Daseins
Die Analyse der Zeitlichkeit des Besorgens zeigte, daß die
wesentlichen Strukturen der Seinsverfassung des Daseins, die
vor
der Herausstellung der Zeitlichkeit in der Absicht auf eine
Hinlei-
tung zu dieser interpretiert wurden, selbst existenzial in
die Zeit-
lichkeit zurückgenommen werden müssen. Im ersten Ansatz
wählte die Analytik nicht eine bestimmte, ausgezeichnete
Existenzmöglichkeit des Daseins als Thema, sondern
orientierte
sich an der unauffälligen, durchschnittlichen Weise des
Existie-
rens. Wir nannten die Seinsart, in der sich das Dasein
zunächst
und zumeist hält, die Alltäglichkeit1.
Was dieser Ausdruck im Grunde und ontologisch umgrenzt
bedeutet, blieb dunkel. Auch bot sich im Anfang der Unter-
suchung kein Weg, den existenzial-ontologischen Sinn der
All-
täglichkeit auch nur zum Problem zu machen. Nunmehr ist der
Seinssinn des Daseins als Zeitlichkeit aufgehellt. Kann noch
ein
Zweifel hinsichtlich der existenzial-zeitlichen Bedeutung
des
Titels »Alltäglichkeit« obwalten? Gleichwohl sind wir von
einem
ontologischen Begriff dieses Phänomens weit entfernt. Es
bleibt
sogar fraglich, ob die bislang durchgeführte Explikation der
Zeitlichkeit hinreicht, um den existenzialen Sinn der
Alltäglich-
keit zu umgrenzen.
Die Alltäglichkeit meint doch offenbar die Art zu
existieren, in
der sich das Dasein »alle Tage« hält. Und doch bedeutet das
»alle
Tage« nicht die Summe der »Tage«, die dem Dasein in seiner
»Lebenszeit« beschieden sind. Wenngleich das »alle Tage«
nicht
kalendarisch verstanden sein soll, so schwingt doch auch
eine
solche Zeitbestimmtheit in der Bedeutung von »Alltag« mit. Pri-
mär meint jedoch der Ausdruck Alltäglichkeit ein bestimmtes
Wie der Existenz, das »zeitlebens« das Dasein durchherrscht.
Wir
gebrauchten in den vorstehenden Analysen oft die Ausdrücke
»zunächst und zumeist«. »Zunächst« bedeutet: die Weise, in
der
das Dasein im Miteinander der Öffentlichkeit »offenbar« ist,
mag
es auch »im Grunde« die Alltäglichkeit gerade existenziell
»überwunden« haben. »Zumeist« bedeutet: die Weise, in der
das
Dasein nicht immer, aber »in der Regel« sich für Jedermann
zeigt.
Die Alltäglichkeit meint das Wie, demgemäß das Dasein »in
den Tag hineinlebt«, sei es in allen seinen Verhaltungen,
sei es
nur in gewissen, durch das Miteinandersein vorgezeichneten.
Zu
diesem Wie gehört ferner das Behagen in der Gewohnheit, mag
sie auch an das
1 Vgl. § 9, S. 42
ff. 371
Lästige und »Widerwärtige« zwingen. Das Morgige, dessen das
alltägliche Besorgen gewärtig bleibt, ist das »ewig
Gestrige«. Das
Einerlei der Alltäglichkeit nimmt als Abwechslung, was je
gerade
der Tag bringt. Die Alltäglichkeit bestimmt das Dasein auch
dann, wenn es sich nicht das Man als »Helden« gewählt hat.
Diese vielfältigen Charaktere der Alltäglichkeit
kennzeichnen
sie aber keineswegs als bloßen »Aspekt«, den das Dasein
bietet,
wenn »man« das Tun und Treiben der Menschen »ansieht«.
Alltäglichkeit ist eine Weise zu sein, der allerdings die
öffentliche
Offenbarkeit zugehört. Als Weise seines eigenen Existierens
ist
die Alltäglichkeit aber auch dem jeweiligen »einzelnen«
Dasein
mehr oder minder bekannt und zwar durch die Befindlichkeit
der
fahlen Ungestimmtheit. Das Dasein kann an der Alltäglichkeit
dumpf »leiden«, in ihrer Dumpfheit versinken, ihr in der
Weise
ausweichen, daß es für die Zerstreutheit in die Geschäfte
neue
Zerstreuung sucht. Die Existenz kann aber auch im Augenblick
und freilich oft auch nur »für den Augenblick« den Alltag
meistern, obzwar nie auslöschen.
Was in der faktischen Ausgelegtheit des Daseins ontisch so
bekannt ist, daß wir dessen nicht einmal achten, birgt
existenzial-
ontologisch Rätsel über Rätsel in sich. Der »natürliche«
Horizont
für den ersten Ansatz der existenzialen Analytik des Daseins
ist
nur scheinbar selbstverständlich.
Befinden wir uns aber nach der bisherigen Interpretation der
Zeitlichkeit mit Rücksicht auf die existenziale Umgrenzung
der
Struktur der Alltäglichkeit in einer aussichtsreicheren
Lage? Oder
wird an diesem verwirrenden Phänomen gerade das Unzurei-
chende der vorstehenden Explikation der Zeitlichkeit
offenkun-
dig? Haben wir bisher nicht ständig das Dasein auf gewisse
Lagen und Situationen stillgelegt und »konsequent«
mißachtet,
daß es sich, in seine Tage hineinlebend, in der Folge seiner
Tage
»zeitlich« erstreckt? Das Einerlei, die Gewohnheit, das »wie
gestern, so heute und morgen«, das »Zumeist« sind ohne Rück-
gang auf die »zeitliche« Erstreckung des Daseins nicht zu
fassen.
Und gehört zum existierenden Dasein nicht auch das Faktum,
daß es seine Zeit verbringend, tagtäglich der »Zeit«
Rechnung
trägt und die »Rechnung« astronomisch-kalendarisch regelt?
Erst
wenn wir das alltägliche »Geschehen« des Daseins und das von
ihm in diesem Geschehen besorgte Rechnen mit der »Zeit« in
die
Interpretation der Zeitlichkeit des Daseins einbeziehen,
wird die
Orientierung umfassend genug, um den ontologischen Sinn der
Alltäglichkeit als solcher zum Problem machen zu können.
Weil
jedoch mit dem Titel Alltäg- 372
lichkeit im Grunde nichts anderes gemeint ist als die
Zeitlichkeit,
diese aber das Sein des Daseins ermöglicht, kann die
zureichende
begriffliche Umgrenzung der Alltäglichkeit erst im Rahmen
der
grundsätzlichen Erörterung des Sinnes von Sein überhaupt und
seiner möglichen Abwandlungen gelingen.
Fünftes Kapitel
Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit
§ 72. Die existenzial-ontologische Exposition des Problems
der
Geschichte
Alle Bemühungen der existenzialen Analytik gelten dem einen
Ziel, eine Möglichkeit der Beantwortung der Frage nach dem
Sinn von Sein überhaupt zu finden. Die Ausarbeitung dieser
Frage verlangt eine Umgrenzung des Phänomens, in dem selbst
so
etwas wie Sein zugänglich wird, des Seinsverständnisses.
Dieses
aber gehört zur Seinsverfassung des Daseins. Erst wenn
dieses
Seiende zuvor hinreichend ursprünglich interpretiert ist,
kann das
in seine Seinsverfassung eingeschlossene Seinsverständnis
selbst
begriffen und auf diesem Grunde die Frage nach dem in ihm
verstandenen Sein und nach den »Voraussetzungen« dieses Ver-
stehens gestellt werden.
Wenngleich im einzelnen viele Strukturen des Daseins noch im
Dunkel liegen, so scheint doch mit der Aufhellung der
Zeitlich-
keit als ursprünglicher Bedingung der Möglichkeit der Sorge
die
geforderte ursprüngliche Interpretation des Daseins erreicht
zu
sein. Die Zeitlichkeit wurde im Hinblick auf das eigentliche
Ganzseinkönnen des Daseins herausgestellt. Die zeitliche
Inter-
pretation der Sorge bewährte sich sodann durch den Nachweis
der Zeitlichkeit des besorgenden In-der-Welt-seins. Die
Analyse
des eigentlichen Ganzseinkönnens enthüllte den in der Sorge
verwurzelten, gleichursprünglichen Zusammenhang von Tod,
Schuld und Gewissen. Kann das Dasein noch ursprünglicher
verstanden werden als im Entwurf seiner eigentlichen
Existenz?
Ob wir gleich bislang keine Möglichkeit eines radikaleren
Ansatzes der existenzialen Analytik sehen, so erwacht doch
gerade mit Rücksicht auf die vorstehende Erörterung des
ontolo-
gischen Sinnes der Alltäglichkeit ein schweres Bedenken: ist
denn
in der Tat das Ganze des Daseins hinsichtlich seines
eigentlichen
Ganzseins in die Vorhabe der existenzialen Analyse gebracht?
Die auf die Ganzheit des Daseins bezogene Fragestellung mag
ihre genuine ontologische Eindeutigkeit besitzen. Die Frage
selbst
mag sogar mit Rücksicht auf das Sein zum 373
Ende ihre Antwort gefunden haben. Allein der Tod ist doch
nur
das »Ende« des Daseins, formal genommen nur das eine Ende,
das die Daseinsganzheit umschließt. Das andere »Ende« aber
ist
der »Anfang«, die »Geburt«. Erst das Seiende »zwischen«
Geburt
und Tod stellt das gesuchte Ganze dar. Sonach blieb die
bisherige
Orientierung der Analytik bei aller Tendenz auf das
existierende
Ganzsein und trotz der genuinen Explikation des eigentlichen
und uneigentlichen Seins zum Tode »einseitig«. Das Dasein
stand
nur so im Thema, wie es gleichsam »nach vorne« existiert und
alles Gewesene »hinter sich« läßt. Nicht nur das Sein zum
An-
fang blieb unbeachtet, sondern vor allem die Erstreckung des
Daseins zwischen Geburt und Tod. Gerade der »Zusammenhang
des Lebens«, in dem sich doch das Dasein ständig irgendwie
hält,
wurde bei der Analyse des Ganzseins übersehen.
Müssen wir dann nicht, wenngleich das, was als »Zusammen-
hang« zwischen Geburt und Tod angesprochen wird, ontologisch
völlig dunkel ist, den Ansatz der Zeitlichkeit als Seinssinn
der
Daseinsganzheit zurücknehmen? Oder gibt die herausgestellte
Zeitlichkeit allererst den Boden, die
existenzial-ontologische
Frage nach dem genannten »Zusammenhang« in eine eindeutige
Richtung zu bringen? Vielleicht ist es im Felde dieser
Unter-
suchungen schon ein Gewinn, daß wir lernen, die Probleme
nicht
zu leicht zu nehmen.
Was scheint »einfacher« zu sein als die Charakteristik des
»Zusammenhangs des Lebens« zwischen Geburt und Tod? Er
besteht aus einer Abfolge von Erlebnissen »in der Zeit«.
Geht
man dieser Kennzeichnung des fraglichen Zusammenhanges und
vor allem ihrer ontologischen Vormeinung eindringlicher
nach,
dann ergibt sich etwas Merkwürdiges. In dieser Abfolge von
Erlebnissen ist »eigentlich« je nur das »im jeweiligen
Jetzt« vor-
handene Erlebnis »wirklich«. Die vergangenen und erst ankom-
menden Erlebnisse sind dagegen nicht mehr, bzw. noch nicht
»wirklich«. Das Dasein durchmißt die ihm verliehene
Zeitspanne
zwischen den beiden Grenzen dergestalt, daß es, je nur im
Jetzt
»wirklich«, die Jetztfolge seiner »Zeit« gleichsam
durchhüpft.
Man sagt deshalb, das Dasein sei »zeitlich«. Bei diesem
ständigen
Wechsel der Erlebnisse hält sich das Selbst in einer
gewissen Sel-
bigkeit durch. In der Bestimmung dieses Beharrlichen und
seiner
möglichen Beziehung zum Wechsel der Erlebnisse gehen die
Mei-
nungen auseinander. Das Sein dieses verharrend-wechselnden
Zusammenhangs von Erlebnissen bleibt unbestimmt. Im Grunde
aber ist in dieser Charakteristik des Lebenszusammenhangs,
man
mag es wahr haben wollen oder nicht, ein »in der Zeit«
Vorhan-
denes, aber selbstverständlich »Undingliches« angesetzt. 374
Mit Rücksicht darauf, was als Seinssinn der Sorge unter dem
Titel Zeitlichkeit herausgearbeitet wurde, zeigt sich, daß
am Leit-
faden der in ihren Grenzen berechtigten und ausreichenden
vul-
gären Daseinsauslegung eine genuine ontologische Analyse der
Erstreckung des Daseins zwischen Geburt und Tod sich nicht
nur
nicht durchführen, sondern nicht einmal als Problem fixieren
läßt.
Das Dasein existiert nicht als Summe der Momentanwirklich-
keiten von nacheinanderankommenden und verschwindenden
Erlebnissen. Dieses Nacheinander füllt auch nicht allmählich
einen Rahmen auf. Denn wie soll dieser vorhanden sein, wo
doch
je nur das »aktuelle« Erlebnis »wirklich« ist und die
Grenzen des
Rahmens, Geburt und Tod, als Vergangenes und erst Ankom-
mendes der Wirklichkeit ermangeln? Im Grunde denkt auch die
vulgäre Auffassung des »Lebenszusammenhangs« nicht an einen
»außerhalb« des Daseins gespannten und es umspannenden
Rahmen, sondern sucht ihn mit Recht im Dasein selbst. Die
still-
schweigende ontologische Ansetzung dieses Seienden als eines
»in
der Zeit« Vorhandenen läßt aber jeden Versuch einer
ontologi-
schen Charakteristik des Seins »zwischen« Geburt und Tod
schei-
tern.
Das Dasein füllt nicht erst durch die Phasen seiner
Momentan-
wirklichkeiten eine irgendwie vorhandene Bahn und Strecke
»des
Lebens« auf, sondern erstreckt sich selbst dergestalt, daß
im vor-
hinein sein eigenes Sein als Erstreckung konstituiert ist.
Im Sein
des Daseins liegt schon das »Zwischen« mit Bezug auf Geburt
und Tod. Keineswegs dagegen »ist« das Dasein in einem Zeit-
punkt wirklich und außerdem noch von dem Nichtwirklichen
seiner Geburt und seines Todes »umgeben«. Existenzial
verstan-
den ist die Geburt nicht und nie ein Vergangenes im Sinne
des
Nichtmehrvorhandenen, so wenig wie dem Tod die Seinsart des
noch nicht vorhandenen, aber ankommenden Ausstandes eignet.
Das faktische Dasein existiert gebürtig, und gebürtig stirbt
es
auch schon im Sinne des Seins zum Tode. Beide »Enden« und
ihr
»Zwischen« sind, solange das Dasein faktisch existiert, und
sie
sind, wie es auf dem Grunde des Seins des Daseins als Sorge
ein-
zig möglich ist. In der Einheit von Geworfenheit und
flüchtigem,
bzw. vorlaufendem Sein zum Tode »hängen« Geburt und Tod
daseinsmäßig »zusammen«. Als Sorge ist das Dasein das »Zwi-
schen«.
Die Verfassungsganzheit der Sorge aber hat den möglichen
Grund ihrer Einheit in der Zeitlichkeit. Die ontologische
Aufklä-
rung des »Lebenszusammenhangs«, das heißt der spezifischen
Erstreckung, Bewegtheit und Beharrlichkeit des Daseins muß
demnach im Horizont der zeitlichen Verfassung dieses
Seienden
angesetzt werden. Die Be- 375
wegtheit der Existenz ist nicht Bewegung eines Vorhandenen.
Sie
bestimmt sich aus der Erstreckung des Daseins. Die
spezifische
Bewegtheit des erstreckten Sicherstreckens nennen wir das
Geschehen des Daseins. Die Frage nach dem »Zusammenhang«
des Daseins ist das ontologische Problem seines Geschehens.
Die
Freilegung der Geschehensstruktur und ihrer existenzial-zeit-
lichen Möglichkeitsbedingungen bedeutet die Gewinnung eines
ontologischen Verständnisses der Geschichtlichkeit.
Mit der Analyse der spezifischen Bewegtheit und Beharrlich-
keit, die dem Geschehen des Daseins eignen, kommt die Unter-
suchung auf das Problem zurück, das unmittelbar vor der
Freile-
gung der Zeitlichkeit berührt wurde: auf die Frage nach der
Ständigkeit des Selbst, das wir als das Wer des Daseins
bestimm-
ten1. Die Selbstständigkeit ist eine Seinsweise des Daseins
und
gründet deshalb in einer spezifischen Zeitigung der
Zeitlichkeit.
Die Analyse des Geschehens führt vor die Probleme einer
thema-
tischen Untersuchung der Zeitigung als solcher.
Wenn die Frage nach der Geschichtlichkeit in diese
»Ursprünge« zurückführt, dann ist damit schon über den Ort
des
Problems der Geschichte entschieden. Er darf nicht in der
Histo-
rie als der Wissenschaft von der Geschichte gesucht werden.
Selbst wenn die wissenschaftstheoretische Behandlungsart des
Problems der »Geschichte« nicht nur auf die
»erkenntnistheoreti-
sche« (Simmel) Klärung des historischen Erfassens oder die
Logik
der Begriffsbildung historischer Darstellung (Rickert)
abzielt,
sondern sich auch nach der »Gegenstandsseite« orientiert, so
wird in dieser Fragestellung die Geschichte grundsätzlich
immer
nur als Objekt einer Wissenschaft zugänglich. Das
Grundphäno-
men der Geschichte, das einer möglichen Thematisierung durch
die Historie voraus und zugrunde liegt, ist damit
unwiederbring-
lich auf die Seite gebracht. Wie Geschichte möglicher
Gegenstand
der Historie werden kann, das läßt sich nur aus der Seinsart
des
Geschichtlichen, aus der Geschichtlichkeit und ihrer
Verwurze-
lung in der Zeitlichkeit entnehmen.
Wenn die Geschichtlichkeit selbst aus der Zeitlichkeit und
ursprünglich aus der eigentlichen Zeitlichkeit aufgehellt
werden
soll, dann liegt es im Wesen dieser Aufgabe, daß sie sich
nur auf
dem Wege einer phänomenologischen Konstruktion durchführen
läßt2. Die exi-
1 Vgl. § 64, S.
316 ff.
2 Vgl. § 63, S.
310 ff. 376
stenzial-ontologische Verfassung der Geschichtlichkeit muß
gegen
die verdeckende vulgäre Auslegung der Geschichte des Daseins
erobert werden. Die existenziale Konstruktion der
Geschichtlich-
keit hat ihre bestimmten Anhalte am vulgären
Daseinsverständnis
und eine Führung durch die bisher gewonnenen existenzialen
Strukturen.
Die Untersuchung verschafft sich zunächst durch eine Kenn-
zeichnung der vulgären Begriffe von Geschichte eine Orientierung
über die Momente, die gemeinhin als für die Geschichte
wesent-
liche gelten. Hierbei muß deutlich werden, was ursprünglich
als
geschichtlich angesprochen wird. Damit ist die Einsatzstelle
für
die Exposition des ontologischen Problems der Geschichtlichkeit
bezeichnet.
Den Leitfaden für die existenziale Konstruktion der
Geschicht-
lichkeit bietet die vollzogene Interpretation des
eigentlichen
Ganzseinkönnens des Daseins und die aus ihr erwachsene Ana-
lyse der Sorge als Zeitlichkeit. Der existenziale Entwurf
der
Geschichtlichkeit des Daseins bringt nur zur Enthüllung, was
eingehüllt in der Zeitigung der Zeitlichkeit schon liegt.
Ent-
sprechend der Verwurzelung der Geschichtlichkeit in der
Sorge
existiert das Dasein je als eigentlich oder uneigentlich
geschicht-
liches. Was unter dem Titel Alltäglichkeit für die
existenziale
Analytik des Daseins als nächster Horizont im Blick stand,
ver-
deutlicht sich als uneigentliche Geschichtlichkeit des
Daseins.
Zum Geschehen des Daseins gehört wesenhaft Erschließung
und Auslegung. Aus dieser Seinsart des Seienden, das
geschicht-
lich existiert, erwächst die existenzielle Möglichkeit einer
aus-
drücklichen Erschließung und Erfassung von Geschichte. Die
Thematisierung, das heißt die historische Erschließung von
Geschichte ist die Voraussetzung für den möglichen »Aufbau
der
geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«. Die
existen-
ziale Interpretation der Historie als Wissenschaft zielt
einzig auf
den Nachweis ihrer ontologischen Herkunft aus der Geschicht-
lichkeit des Daseins. Erst von hier aus sind die Grenzen
abzu-
stecken, innerhalb deren sich eine am faktischen
Wissenschaftsbe-
trieb orientierte Wissenschaftstheorie den Zufälligkeiten
ihrer
Fragestellungen aussetzen darf.
Die Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins versucht zu
zei-
gen, daß dieses Seiende nicht »zeitlich« ist, weil es »in
der
Geschichte steht«, sondern daß es umgekehrt geschichtlich
nur
existiert und existieren kann, weil es im Grunde seines
Seins zeit-
lich ist.
Gleichwohl muß das Dasein auch »zeitlich« genannt werden im
Sinne des Seins »in der Zeit«. Das faktische Dasein braucht
und
gebraucht auch ohne ausgebildete Historie Kalender und Uhr.
Was »mit ihm« geschieht, erfährt es als »in der Zeit«
geschehend.
In derselben 377
Weise begegnen die Vorgänge der leblosen und lebenden Natur
»in der Zeit«. Sie sind innerzeitig. Daher läge es nahe, der
Erörte-
rung des Zusammenhangs zwischen Geschichtlichkeit und Zeit-
lichkeit die erst in das nächste Kapitel1 verlegte Analyse
des
Ursprungs der »Zeit« der Innerzeitigkeit aus der
Zeitlichkeit
voranzustellen. Um jedoch der vulgären Charakteristik des
Geschichtlichen mit Hilfe der Zeit der Innerzeitigkeit die
schein-
bare Selbstverständlichkeit und Ausschließlichkeit zu
nehmen,
soll, wie es der »sachliche« Zusammenhang auch fordert,
zuvor
die Geschichtlichkeit rein aus der ursprünglichen
Zeitlichkeit des
Daseins »deduziert« werden. Sofern aber die Zeit als
Innerzeitig-
keit auch aus der Zeitlichkeit des Daseins »stammt«,
erweisen
sich Geschichtlichkeit und Innerzeitigkeit als
gleichursprünglich.
Die vulgäre Auslegung des zeitlichen Charakters der
Geschichte
behält daher in ihren Grenzen ihr Recht.
Bedarf es nach dieser ersten Kennzeichnung des Ganges der
ontologischen Exposition der Geschichtlichkeit aus der
Zeitlich-
keit noch der ausdrücklichen Versicherung, daß die folgende
Untersuchung nicht des Glaubens ist, das Problem der
Geschichte
durch einen Handstreich zu lösen? Die Dürftigkeit der
verfügba-
ren »kategorialen« Mittel und die Unsicherheit der primären
ontologischen Horizonte werden um so aufdringlicher, je mehr
das Problem der Geschichte seiner ursprünglichen
Verwurzelung
zugeführt ist. Die folgende Betrachtung begnügt sich damit,
den
ontologischen Ort des Problems der Geschichtlichkeit
anzuzei-
gen. Im Grunde geht es der folgenden Analyse einzig darum,
die
der heutigen Generation erst noch bevorstehende Aneignung
der
Forschungen Diltheys an ihrem Teil wegbereitend zu fördern.
Die durch die fundamentalontologische Abzweckung überdies
notwendig begrenzte Exposition des existenzialen Problems
der
Geschichtlichkeit hat folgende Gliederung: das vulgäre
Verständ-
nis der Geschichte und das Geschehen des Daseins (§ 73); die
Grundverfassung der Geschichtlichkeit (§ 74); die
Geschichtlich-
keit des Daseins und die Welt-Geschichte (§ 75); der
existenziale
Ursprung der Historie aus der Geschichtlichkeit des Daseins
(§
76); der Zusammenhang der vorstehenden Exposition des Prob-
lems der Geschichtlichkeit mit den Forschungen Diltheys und
den
Ideen des Grafen Yorck (§ 77).
1 Vgl. § 80, S.
411 ff. 378
§ 73. Das vulgäre Verständnis der Geschichte und das
Geschehen
des Daseins
Das nächste Ziel ist, die Einsatzstelle zu finden für die
ur-
sprüngliche Frage nach dem Wesen der Geschichte, das heißt
für
die existenziale Konstruktion der Geschichtlichkeit. Diese
Stelle
wird durch das bezeichnet, was ursprünglich geschichtlich
ist. Die
Betrachtung beginnt daher mit einer Kennzeichnung dessen,
was
in der vulgären Daseinsauslegung mit den Ausdrücken
»Geschichte« und »geschichtlich« gemeint ist. Sie sind
mehrdeu-
tig.
Die nächstliegende, oft bemerkte, aber keineswegs
»ungefähre«
Zweideutigkeit des Terminus »Geschichte« bekundet sich
darin,
daß er sowohl die »geschichtliche Wirklichkeit« meint als
auch
die mögliche Wissenschaft von ihr. Die Bedeutung von
»Geschichte« im Sinne von Geschichtswissenschaft (Historie)
schalten wir vorläufig aus.
Unter den Bedeutungen des Ausdrucks »Geschichte«, die weder
die Wissenschaft von der Geschichte, noch auch diese als
Objekt
meinen, sondern dieses nicht notwendig objektivierte Seiende
selbst, beansprucht diejenige einen vorzüglichen Gebrauch,
in der
dieses Seiende als Vergangenes verstanden wird. Diese
Bedeutung
bekundet sich in der Rede: dies und jenes gehört bereits der
Geschichte an. »Vergangen« besagt hier einmal: nicht mehr
vor-
handen oder auch: zwar noch vorhanden, aber ohne »Wirkung«
auf die »Gegenwart«. Allerdings hat das Geschichtliche als
das
Vergangene auch die entgegengesetzte Bedeutung, wenn wir
sagen: man kann sich der Geschichte nicht entziehen. Hier
meint
Geschichte das Vergangene, aber gleichwohl noch Nachwir-
kende. Wie immer, das Geschichtliche als das Vergangene wird
in
einem positiven bzw. privativen Wirkungsbezug auf die
»Gegen-
wart« im Sinne des »jetzt« und »heute« Wirklichen
verstanden.
»Vergangenheit« hat dabei noch einen merkwürdigen Doppel-
sinn. Das Vergangene gehört unwiederbringlich der früheren
Zeit
an, es gehörte zu den damaligen Ereignissen und kann
trotzdem
noch »jetzt« vorhanden sein, zum Beispiel die Reste eines
griechi-
schen Tempels. Ein »Stück Vergangenheit« ist noch mit ihm
»gegenwärtig«.
Sodann meint Geschichte nicht so sehr die »Vergangenheit« im
Sinne des Vergangenen, sondern die Herkunft aus ihr. Was
eine
»Geschichte hat«, steht im Zusammenhang eines Werdens. Die
»Entwicklung« ist dabei bald Aufstieg, bald Verfall. Was
derge-
stalt eine »Geschichte hat«, kann zugleich solche »machen«.
»Epochemachend« bestimmt es »gegenwärtig« eine »Zukunft«.
Geschichte bedeutet hier einen Ereignis- und »Wirkungszusam-
menhang«, der sich durch »Vergangenheit«, 379
»Gegenwart« und »Zukunft« hindurchzieht. Hierbei hat die
Vergangenheit keinen besonderen Vorrang.
Geschichte bedeutet ferner das Ganze des Seienden, das sich
»in der Zeit« wandelt und zwar, im Unterschied von der
Natur,
die gleichfalls sich »in der Zeit« bewegt, die Wandlungen und
Geschicke von Menschen, menschlichen Verbänden und ihrer
»Kultur«. Geschichte meint hier nicht so sehr die Seinsart,
das
Geschehen, als die Region des Seienden, die man mit
Rücksicht
auf die wesentliche Bestimmung der Existenz des Menschen
durch »Geist« und »Kultur« von der Natur unterscheidet,
wenn-
gleich auch diese in gewisser Weise zu der so verstandenen
Geschichte gehört.
Und schließlich gilt als »geschichtlich« das Überlieferte
als sol-
ches, mag es historisch erkannt oder als selbstverständlich
und in
seiner Herkunft verborgen übernommen sein.
Wenn wir die genannten vier Bedeutungen in eins zusammen-
nehmen, dann ergibt sich: Geschichte ist das in der Zeit
sich
begebende spezifische Geschehen des existierenden Daseins,
so
zwar, daß das im Miteinandersein »vergangene« und zugleich
»überlieferte« und fortwirkende Geschehen im betonten Sinne
als
Geschichte gilt.
Die vier Bedeutungen haben dadurch einen Zusammenhang,
daß sie auf den Menschen als das »Subjekt« der Ereignisse
sich
beziehen. Wie soll der Geschehenscharakter dieser bestimmt
wer-
den? Ist das Geschehen eine Abfolge von Vorgängen, ein wech-
selndes Auftauchen und Verschwinden von Begebenheiten? In
welcher Weise gehört dieses Geschehen der Geschichte zum
Dasein? Ist das Dasein zuvor schon faktisch »vorhanden«, um
dann gelegentlich »in eine Geschichte« zu geraten? Wird das
Dasein erst geschichtlich durch eine Verflechtung mit
Umständen
und Begebenheiten? Oder wird durch das Geschehen allererst
das
Sein des Daseins konstituiert, so daß, nur weil Dasein in
seinem
Sein geschichtlich ist, so etwas wie Umstände, Begebenheiten
und
Geschicke ontologisch möglich sind? Warum hat in der »zeit-
lichen« Charakteristik des »in der Zeit« geschehenden
Daseins
gerade die Vergangenheit eine betonte Funktion?
Wenn Geschichte zum Sein des Daseins gehört, dieses Sein
aber
in der Zeitlichkeit gründet, dann liegt es nahe, die
existenziale
Analyse der Geschichtlichkeit mit den Charakteren des
Geschichtlichen zu beginnen, die offensichtlich einen
zeitlichen
Sinn haben. Daher soll die schärfere Kennzeichnung des merk-
würdigen Vorrangs der »Vergangenheit« im Begriff der
Geschichte die Exposition der Grundverfassung der Geschicht-
lichkeit vorbereiten. 380
Im Museum aufbewahrte »Altertümer«, Hausgerät zum Bei-
spiel, gehören einer »vergangenen Zeit« an und sind
gleichwohl
noch in der »Gegenwart« vorhanden. Inwiefern ist dieses Zeug
geschichtlich, wo es doch noch nicht vergangen ist? Etwa nur
deshalb, weil es Gegenstand historischen Interesses, der
Alter-
tumspflege und Landeskunde wurde? Ein historischer Gegen-
stand aber kann dergleichen Zeug doch nur sein, weil es an
ihm
selbst irgendwie geschichtlich ist. Die Frage wiederholt
sich: mit
welchem Recht nennen wir dieses Seiende geschichtlich, wo es
doch nicht vergangen ist? Oder haben diese »Dinge«, obzwar
sie
heute noch vorhanden sind, doch »etwas Vergangenes« »an
sich«? Sind sie, die vorhandenen, denn noch, was sie waren?
Offenbar haben sich die »Dinge« verändert. Das Gerät ist »im
Lauf der Zeit« brüchig und wurmstichig geworden. Aber in
die-
ser Vergänglichkeit, die auch während des Vorhandenseins im
Museum fortgeht, liegt doch nicht der spezifische Vergangen-
heitscharakter, der es zu etwas Geschichtlichem macht. Was
ist
aber dann an dem Zeug vergangen? Was waren die »Dinge«, das
sie heute nicht mehr sind? Sie sind doch noch das bestimmte
Gebrauchszeug – aber außer Gebrauch. Allein gesetzt, sie
stün-
den, wie viele Erbstücke im Hausrat, noch heute im Gebrauch,
wären sie dann noch nicht geschichtlich? Ob im Gebrauch oder
außer Gebrauch, sind sie gleichwohl nicht mehr, was sie
waren.
Was ist »vergangen«? Nichts anderes als die Welt, innerhalb
deren sie, zu einem Zeugzusammenhang gehörig, als Zuhandenes
begegneten und von einem besorgenden, in-der-Welt-seienden
Dasein gebraucht wurden. Die Welt ist nicht mehr. Das
vormals
Innerweltliche jener Welt aber ist noch vorhanden. Als
weltzuge-
höriges Zeug kann das jetzt noch Vorhandene trotzdem der
»Vergangenheit« angehören. Was bedeutet aber das Nicht-mehr-
sein von Welt? Welt ist nur in der Weise des existierenden
Da-
seins, das als In-der-Welt-sein faktisch ist.
Der geschichtliche Charakter der noch erhaltenen Altertümer
gründet also in der »Vergangenheit« des Daseins, dessen Welt
sie
zugehörten. Demnach wäre nur das »vergangene« Dasein
geschichtlich, nicht aber das »gegenwärtige«. Kann jedoch
das
Dasein überhaupt vergangen sein, wenn wir das »vergangen«
als
»jetzt nicht mehr vorhanden bzw. zuhanden« bestimmen? Offen-
bar kann das Dasein nie vergangen sein, nicht weil es
unvergäng-
lich ist, sondern weil es wesenhaft nie vorhanden sein kann,
viel-
mehr, wenn es ist, existiert. Nicht mehr existierendes
Dasein aber
ist im ontologisch strengen Sinne nicht vergangen, sondern
da-
gewesen. Die noch vorhandenen Altertümer haben einen »Ver-
gangenheits«- und Geschichtscharakter auf Grund 381
ihrer zeughaften Zugehörigkeit zu und Herkunft aus einer gewe-
senen Welt eines da-gewesenen Daseins. Dieses ist das primär
Geschichtliche. Aber wird das Dasein erst geschichtlich
dadurch,
daß es nicht mehr da ist? Oder ist es nicht gerade
geschichtlich
als faktisch existierendes? Ist das Dasein nur gewesenes im
Sinne
des da-gewesenen, oder ist es gewesen als gegenwärtigendes-
zukünftiges, das heißt in der Zeitigung seiner Zeitlichkeit?
Aus dieser vorläufigen Analyse des noch vorhandenen und
doch irgendwie »vergangenen«, der Geschichte angehörenden
Zeugs wird deutlich, daß dergleichen Seiendes nur auf Grund
seiner Weltzugehörigkeit geschichtlich ist. Die Welt aber
hat die
Seinsart des Geschichtlichen, weil sie eine ontologische
Bestimmtheit des Daseins ausmacht. Ferner zeigt sich: die
Zeitbe-
stimmung »Vergangenheit« entbehrt des eindeutigen Sinnes und
unterscheidet sich offenbar von der Gewesenheit, die wir als
Konstitutivum der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit des
Daseins kennen lernten. Damit verschärft sich aber
schließlich
nur das Rätsel, warum gerade »Vergangenheit« oder,
angemesse-
ner gesprochen, die Gewesenheit das Geschichtliche
vorwiegend
bestimmt, wo doch Gewesenheit sich gleichursprünglich mit
Gegenwart und Zukunft zeitigt.
Primär geschichtlich – behaupten wir – ist das Dasein.
Sekun-
där geschichtlich aber das innerweltlich Begegnende, nicht
nur
das zuhandene Zeug im weitesten Sinne, sondern auch die Um-
weltnatur als »geschichtlicher Boden«. Wir nennen das
nichtda-
seinsmäßige Seiende, das auf Grund seiner Weltzugehörigkeit
geschichtlich ist, das Weltgeschichtliche. Es läßt sich
zeigen, daß
der vulgäre Begriff der »Weltgeschichte« gerade aus der
Orientie-
rung an diesem sekundär Geschichtlichen entspringt. Das
Weltge-
schichtliche ist nicht etwa erst geschichtlich auf Grund
einer
historischen Objektivierung, sondern als das Seiende, das
es,
innerweltlich begegnend, an ihm selbst ist.
Die Analyse des geschichtlichen Charakters eines noch
vorhan-
denen Zeugs führte nicht nur auf das Dasein als das primär
Geschichtliche zurück, sondern machte zugleich zweifelhaft,
ob
die zeitliche Charakteristik des Geschichtlichen überhaupt
primär
auf das In-der-Zeit-sein eines Vorhandenen orientiert werden
darf. Seiendes wird nicht mit dem Fortrücken in eine immer
fer-
nere Vergangenheit »geschichtlicher«, so daß das Älteste am
eigentlichsten geschichtlich wäre. Der »zeitliche« Abstand
vom
Jetzt und Heute aber hat wiederum nicht deshalb keine primär
konstitutive Bedeutung für die Geschichtlichkeit 382
des eigentlich geschichtlichen Seienden, weil dieses nicht
»in der
Zeit« und zeitlos ist, sondern weil es so ursprünglich
zeitlich
existiert, wie ein »in der Zeit« Vorhandenes, Vergehendes
bzw.
Ankommendes seinem ontologischen Wesen nach es nie sein
kann.
Umständliche Überlegungen, wird man sagen. Daß im Grunde
das menschliche Dasein das primäre »Subjekt« der Geschichte
ist,
leugnet niemand, und der angeführte vulgäre Begriff der
Geschichte sagt es deutlich genug. Allein die These: »Das
Dasein
ist geschichtlich« meint nicht nur das ontische Faktum, daß
der
Mensch ein mehr oder minder wichtiges »Atom« im Getriebe der
Weltgeschichte darstellt und der Spielball der Umstände und
Ereignisse bleibt, sondern stellt das Problem: inwiefern und
auf
Grund welcher ontologischen Bedingungen gehört zur
Subjektivi-
tät des »geschichtlichen« Subjekts die Geschichtlichkeit als
Wesensverfassung?
§ 74. Die Grundverfassung der Geschichtlichkeit
Das Dasein hat faktisch je seine »Geschichte« und kann der-
gleichen haben, weil das Sein dieses Seienden durch
Geschicht-
lichkeit konstituiert wird. Diese These gilt es zu
rechtfertigen in
der Absicht, das ontologische Problem der Geschichte als
existen-
ziales zu exponieren. Das Sein des Daseins wurde als Sorge
um-
grenzt. Sorge gründet in der Zeitlichkeit. Im Umkreis dieser
müs-
sen wir sonach ein Geschehen aufsuchen, das die Existenz als
geschichtliche bestimmt. So erweist sich im Grunde die
Interpre-
tation der Geschichtlichkeit des Daseins nur als eine konkretere
Ausarbeitung der Zeitlichkeit. Diese enthüllten wir zuerst
im
Hinblick auf die Weise des eigentlichen Existierens, die wir
als
vorlaufende Entschlossenheit charakterisierten. Inwiefern
liegt
hierin ein eigentliches Geschehen des Daseins?
Die Entschlossenheit wurde bestimmt als das verschwiegene,
angstbereite Sichentwerfen auf das eigene Schuldigsein1.
Ihre
Eigentlichkeit gewinnt sie als vorlaufende
Entschlossenheit2. In
ihr versteht sich das Dasein hinsichtlich seines Seinkönnens
der-
gestalt, daß es dem Tod unter die Augen geht, um so das
Seiende,
das es selbst ist, in seiner Geworfenheit ganz zu
übernehmen. Die
entschlossene Übernahme des eigenen faktischen »Da« bedeutet
zugleich den Entschluß in die Situa-
1 Vgl. § 60, S.
295 ff.
2 Vgl. § 62, S. 305. 383
tion. Wozu sich das Dasein je faktisch entschließt, vermag
die
existenziale Analyse grundsätzlich nicht zu erörtern. Die
vorlie-
gende Untersuchung schließt aber auch den existenzialen
Entwurf
von faktischen Möglichkeiten der Existenz aus. Trotzdem muß
gefragt werden, woher überhaupt die Möglichkeiten geschöpft
werden können, auf die sich das Dasein faktisch entwirft.
Das
vorlaufende Sichentwerfen auf die unüberholbare Möglichkeit
der Existenz, den Tod, verbürgt nur die Ganzheit und
Eigentlich-
keit der Entschlossenheit. Die faktisch erschlossenen
Möglichkei-
ten der Existenz sind aber doch nicht dem Tod zu entnehmen.
Und das um so weniger, als das Vorlaufen in die Möglichkeit
keine Spekulation über sie, sondern gerade ein Zurückkommen
auf das faktische Da bedeutet. Soll etwa die Übernahme der
Geworfenheit des Selbst in seine Welt einen Horizont
erschließen,
dem die Existenz ihre faktischen Möglichkeiten entreißt?
Wurde
nicht überdies gesagt, das Dasein komme nie hinter seine
Gewor-
fenheit zurück?1 Bevor wir überschnell entscheiden, ob das
Dasein seine eigentlichen Existenzmöglichkeiten aus der
Gewor-
fenheit schöpft oder nicht, müssen wir uns des vollen
Begriffes
dieser Grundbestimmtheit der Sorge versichern.
Geworfen ist zwar das Dasein ihm selbst und seinem Seinkön-
nen überantwortet, aber doch als In-der-Welt-sein. Geworfen
ist
es angewiesen auf eine »Welt« und existiert faktisch mit
Ande-
ren. Zunächst und zumeist ist das Selbst in das Man
verloren. Es
versteht sich aus den Existenzmöglichkeiten, die in der
jeweils
heutigen »durchschnittlichen« öffentlichen Ausgelegtheit des
Daseins »kursieren«. Meist sind sie durch die Zweideutigkeit
unkenntlich gemacht, aber doch bekannt. Das eigentliche exi-
stenzielle Verstehen entzieht sich der überkommenen
Ausgelegt-
heit so wenig, daß es je aus ihr und gegen sie und doch
wieder für
sie die gewählte Möglichkeit im Entschluß ergreift.
Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst
zurück-
kommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten
eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene
übernimmt. Das entschlossene Zurückkommen auf die Gewor-
fenheit birgt ein Sichüberliefern überkommener Möglichkeiten
in
sich, obzwar nicht notwendig als überkommener. Wenn alles
»Gute« Erbschaft ist und der Charakter der »Güte« in der
Ermöglichung eigentlicher Existenz liegt, dann konstituiert
sich in
der Entschlossenheit je das Überliefern
1 Vgl. S. 284. 384
eines Erbes. Je eigentlicher sich das Dasein entschließt,
das heißt
unzweideutig aus seiner eigensten, ausgezeichneten
Möglichkeit
im Vorlaufen in den Tod sich versteht, um so eindeutiger und
unzufälliger ist das wählende Finden der Möglichkeit seiner
Exi-
stenz. Nur das Vorlaufen in den Tod treibt jede zufällige
und
»vorläufige« Möglichkeit aus. Nur das Freisein für den Tod
gibt
dem Dasein das Ziel schlechthin und stößt die Existenz in
ihre
Endlichkeit. Die ergriffene Endlichkeit der Existenz reißt
aus der
endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden nächsten Mög-
lichkeiten des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens zurück
und bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals.
Damit
bezeichnen wir das in der eigentlichen Entschlossenheit
liegende
ursprüngliche Geschehen des Daseins, in dem es sich frei für
den
Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl gewählten
Möglichkeit überliefert.
Das Dasein kann nur deshalb von Schicksalsschlägen getroffen
werden, weil es im Grunde seines Seins in dem
gekennzeichneten
Sinne Schicksal ist. Schicksalhaft in der sich
überliefernden Ent-
schlossenheit existierend, ist das Dasein als
In-der-Welt-sein für
das »Entgegenkommen« der »glücklichen« Umstände und die
Grausamkeit der Zufälle erschlossen. Durch das Zusammen-
stoßen von Umständen und Begebenheiten entsteht nicht erst
das
Schicksal. Auch der Unentschlossene wird von ihnen und mehr
noch als der, der gewählt hat, umgetrieben und kann
gleichwohl
kein Schicksal »haben«.
Wenn das Dasein vorlaufend den Tod in sich mächtig werden
läßt, versteht es sich, frei für ihn, in der eigenen
Übermacht seiner
endlichen Freiheit, um in dieser, die je nur »ist« im
Gewähltha-
ben der Wahl, die Ohnmacht der Überlassenheit an es selbst
zu
übernehmen und für die Zufälle der erschlossenen Situation
hell-
sichtig zu werden. Wenn aber das schicksalhafte Dasein als
In-
der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert,
ist sein
Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit
bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes.
Das
Geschick setzt sich nicht aus einzelnen Schicksalen
zusammen,
sowenig als das Miteinandersein als ein Zusammenvorkommen
mehrerer Subjekte begriffen werden kann1. Im Miteinandersein
in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte
Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon
geleitet. In
der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschickes
erst
frei. Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit
1 Vgl. § 26, S.
117 ff. 385
seiner »Generation«1 macht das volle, eigentliche Geschehen
des
Daseins aus.
Schicksal als die ohnmächtige, den Widrigkeiten sich bereit-
stellende Übermacht des verschwiegenen, angstbereiten
Sichent-
werfens auf das eigene Schuldigsein verlangt als
ontologische
Bedingung seiner Möglichkeit die Seinsverfassung der Sorge,
das
heißt die Zeitlichkeit. Nur wenn im Sein eines Seienden Tod,
Schuld, Gewissen, Freiheit und Endlichkeit dergestalt
gleichur-
sprünglich zusammenwohnen wie in der Sorge, kann es im
Modus des Schicksals existieren, das heißt im Grunde seiner
Existenz geschichtlich sein.
Nur Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so
daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein
faktisches
Da sich zurückwerfen lassen kann, das heißt nur Seiendes,
das als
zukünftiges gleichursprünglich gewesend ist, kann, sich
selbst die
ererbte Möglichkeit überliefernd, die eigene Geworfenheit
über-
nehmen und augenblicklich sein für »seine Zeit«. Nur
eigentliche
Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, macht so etwas wie
Schick-
sal, das heißt eigentliche Geschichtlichkeit möglich.
Daß die Entschlossenheit ausdrücklich um die Herkunft der
Möglichkeiten weiß, auf die sie sich entwirft, ist nicht
notwendig.
Wohl aber liegt in der Zeitlichkeit des Daseins und nur in
ihr die
Möglichkeit, das existenzielle Seinkönnen, darauf es sich
ent-
wirft, ausdrücklich aus dem überlieferten Daseinsverständnis
zu
holen. Die auf sich zurückkommende, sich überliefernde Ent-
schlossenheit wird dann zur Wiederholung einer überkommenen
Existenzmöglichkeit. Die Wiederholung ist die ausdrückliche
Überlieferung, das heißt der Rückgang in Möglichkeiten des
dagewesenen Daseins. Die eigentliche Wiederholung einer
gewe-
senen Existenzmöglichkeit – daß das Dasein sich seinen
Helden
wählt – gründet existenzial in der vorlaufenden
Entschlossenheit;
denn in ihr wird allererst die Wahl gewählt, die für die
kämp-
fende Nachfolge und Treue zum Wiederholbaren frei macht. Das
wiederholende Sichüberliefern einer gewesenen Möglichkeit
erschließt jedoch das dagewesene Dasein nicht, um es
abermals
zu verwirklichen. Die Wiederholung des Möglichen ist weder
ein
Wiederbringen des »Vergangenen«, noch ein Zurückbinden der
»Gegenwart«
1 Zum Begrift der »Generation« vgl. W Dilthey, Über das
Studium der
Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft
und dem
Staat (1875). Ges. Schriften Bd. V (1924), S. 36-41. 386
an das »Überholte«. Die Wiederholung läßt sich, einem ent-
schlossenen Sichentwerfen entspringend, nicht vom »Vergange-
nen« überreden, um es als das vormals Wirkliche nur wiederkeh-
ren zu lassen. Die Wiederholung erwidert vielmehr die
Möglich-
keit der dagewesenen Existenz. Die Erwiderung der
Möglichkeit
im Entschluß ist aber zugleich als augenblickliche der
Widerruf
dessen, was im Heute sich als »Vergangenheit« auswirkt. Die
Wiederholung überläßt sich weder dem Vergangenen, noch zielt
sie auf einen Fortschritt. Beides ist der eigentlichen
Existenz im
Augenblick gleichgültig.
Die Wiederholung kennzeichnen wir als den Modus der sich
überliefernden Entschlossenheit, durch den das Dasein
ausdrück-
lich als Schicksal existiert. Wenn aber Schicksal die
ursprüngliche
Geschichtlichkeit des Daseins konstituiert, dann hat die
Geschichte ihr wesentliches Gewicht weder im Vergangenen,
noch im Heute und seinem »Zusammenhang« mit dem Vergan-
genen, sondern im eigentlichen Geschehen der Existenz, das
aus
der Zukunft des Daseins entspringt. Die Geschichte hat als
Seinsweise des Daseins ihre Wurzel so wesenhaft in der
Zukunft,
daß der Tod als die charakterisierte Möglichkeit des Daseins
die
vorlaufende Existenz auf ihre faktische Geworfenheit
zurückwirft
und so erst der Gewesenheit ihren eigentümlichen Vorrang im
Geschichtlichen verleiht. Das eigentliche Sein zum Tode, das
heißt die Endlichkeit der Zeitlichkeit, ist der verborgene
Grund
der Geschichtlichkeit des Daseins. Das Dasein wird nicht
erst
geschichtlich in der Wiederholung, sondern weil es als
zeitliches
geschichtlich ist, kann es sich wiederholend in seiner Geschichte
übernehmen. Hierzu bedarf es noch keiner Historie.
Das in der Entschlossenheit liegende vorlaufende
Sichüberlie-
fern an das Da des Augenblicks nennen wir Schicksal. In ihm
gründet mit das Geschick, worunter wir das Geschehen des
Daseins im Mitsein mit Anderen verstehen. Das schicksalhafte
Geschick kann in der Wiederholung ausdrücklich erschlossen
werden hinsichtlich seiner Verhaftung an das überkommene
Erbe. Die Wiederholung macht dem Dasein seine eigene
Geschichte erst offenbar. Das Geschehen selbst und die ihm
zugehörige Erschlossenheit, bzw. Aneignung dieser gründet
exi-
stenzial darin, daß das Dasein als zeitliches ekstatisch
offen ist.
Was wir bisher in Anmessung an das in der vorlaufenden Ent-
schlossenheit liegende Geschehen als Geschichtlichkeit kenn-
zeichneten, nennen wir die eigentliche Geschichtlichkeit des
Daseins. Aus den in der Zukunft verwurzelten Phänomenen der
Überlieferung und Wiederholung wurde deutlich, warum das
Geschehen der eigentlichen Ge- 387
schichte sein Gewicht in der Gewesenheit hat. Um so
rätselhafter
bleibt jedoch, in welcher Weise dieses Geschehen als
Schicksal
den ganzen »Zusammenhang« des Daseins von seiner Geburt bis
zu seinem Tode konstituieren soll. Was vermag der Rückgang
auf
die Entschlossenheit an Aufklärung beizubringen? Ist ein
Entschluß denn nicht je nur wieder ein einzelnes »Erlebnis«
in
der Abfolge des ganzen Erlebniszusammenhangs? Soll etwa der
»Zusammenhang« des eigentlichen Geschehens aus einer
lückenlosen Folge von Entschlüssen bestehen? Woran liegt es,
daß die Frage nach der Konstitution des »Lebenszusammen-
hangs« nicht ihre hinlänglich befriedigende Antwort findet?
Ob
die Untersuchung am Ende nicht in der Übereilung allzusehr
an
der Antwort hängt, ohne zuvor die Frage auf ihre
Rechtmäßigkeit
geprüft zu haben? Aus dem bisherigen Gang der existenzialen
Analytik wurde nichts so deutlich wie das Faktum, daß die
On-
tologie des Daseins immer wieder den Verlockungen des
vulgären
Seinsverständnisses anheimfällt. Dem ist methodisch nur so
zu
begegnen, daß wir dem Ursprung der gar so »selbstverständ-
lichen« Frage nach der Konstitution des Daseinszusammenhangs
nachgehen und bestimmen, in welchem ontologischen Horizont
sie sich bewegt.
Gehört die Geschichtlichkeit zum Sein des Daseins, dann muß
auch das uneigentliche Existieren geschichtlich sein. Wenn
die
uneigentliche Geschichtlichkeit des Daseins die
Fragerichtung
nach einem »Zusammenhang des Lebens« bestimmte und den
Zugang zur eigentlichen Geschichtlichkeit und zu dem ihr
eigen-
tümlichen »Zusammenhang« verlegte? Wie immer es damit
bestellt sein mag, soll die Exposition des ontologischen
Problems
der Geschichte hinlänglich vollständig sein, dann können wir
der
Betrachtung der uneigentlichen Geschichtlichkeit des Daseins
ohnehin nicht entraten.
§ 75. Die Geschichtlichkeit des Daseins und die
Welt-Geschichte
Zunächst und zumeist versteht sich das Dasein aus dem um-
weltlich Begegnenden und umsichtig Besorgten. Dieses
Verstehen
ist keine bloße Kenntnisnahme seiner selbst, die alle
Verhaltun-
gen des Daseins lediglich begleitet. Das Verstehen bedeutet
das
Sichentwerfen auf die jeweilige Möglichkeit des In-der-Welt-
seins, das heißt, als diese Möglichkeit existieren. So
konstituiert
das Verstehen als Verständigkeit auch die uneigentliche
Existenz
des Man. Was dem alltäglichen Besorgen im öffentlichen
Mitein-
ander begegnet, sind nicht nur Zeug und Werk, sondern
zugleich
das, was sich damit »begibt«: die »Ge- 388
schäfte«, Unternehmungen, Vorfälle, Unfälle. Die »Welt« ist
zugleich Boden und Schauplatz und gehört als solcher mit zum
alltäglichen Handel und Wandel. Im öffentlichen Miteinander
begegnen die Anderen in solchem Treiben, in dem »man selbst«
»mitschwimmt«. Man kennt es, bespricht, begünstigt,
bekämpft,
behält und vergißt es immer im primären Hinblick auf das,
was
dabei betrieben wird und »herausspringt«. Fortgang,
Stillstand,
Umstellung und »Fazit« des einzelnen Daseins errechnen wir
zunächst aus Gang, Stand, Wechsel und Verfügbarkeit des
Besorgten. So trivial der Hinweis auf das Daseinsverständnis
der
alltäglichen Verständigkeit sein mag, ontologisch ist es
doch kei-
neswegs durchsichtig. Warum soll dann aber der »Zusammen-
hang« des Daseins nicht aus dem Besorgten und »Erlebten«
bestimmt werden? Gehören denn Zeug und Werk und alles, wo-
bei sich das Dasein aufhält, nicht mit zur »Geschichte«? Ist
denn
das Geschehen der Geschichte nur das isolierte Ablaufen von
»Erlebnisströmen« in den einzelnen Subjekten?
In der Tat ist die Geschichte weder der Bewegungszusammen-
hang von Veränderungen der Objekte noch die freischwebende
Erlebnisfolge der »Subjekte«. Betrifft dann das Geschehen
der
Geschichte die »Verkettung« von Subjekt und Objekt? Wenn
man schon das Geschehen der Subjekt-Objektbeziehung zuweist,
dann muß auch gefragt werden nach der Seinsart der
Verkettung
als solcher, wenn sie es ist, die im Grunde »geschieht«. Die
These
von der Geschichtlichkeit des Daseins sagt nicht, das
weltlose
Subjekt sei geschichtlich, sondern das Seiende, das als
In-der-
Welt-sein existiert. Geschehen der Geschichte ist Geschehen
des
In-der-Welt-seins. Geschichtlichkeit des Daseins ist
wesenhaft
Geschichtlichkeit von Welt, die auf dem Grunde der
ekstatisch-
horizontalen Zeitlichkeit zu deren Zeitigung gehört. Sofern
Da-
sein faktisch existiert, begegnet auch schon innerweltliches
Ent-
decktes. Mit der Existenz des geschichtlichen
In-der-Welt-seins ist
Zuhandenes und Vorhandenes je schon in die Geschichte der
Welt einbezogen. Zeug und Werk, Bücher zum Beispiel haben
ihre »Schicksale«, Bauwerke und Institutionen haben ihre
Geschichte. Aber auch die Natur ist geschichtlich. Zwar
gerade
nicht, sofern wir von »Naturgeschichte« sprechen1; wohl
dage-
gen als Landschaft, Ansiedlungs-, Ausbeutungsgebiet, als
Schlachtfeld und Kultstätte. Dieses innerwelt-
1 Zur Frage der ontologischen Abgrenzung des
»Naturgeschehens«
gegen die Bewegtheit der Geschichte vgl. die längst nicht
genügend
gewürdigten Betrachtungen bei F. Gottl, Die Grenzen der
Geschichte
(1904). 389
liche Seiende ist als solches geschichtlich, und seine
Geschichte
bedeutet nicht ein »Äußeres«, das die »innere« Geschichte
der
»Seele« lediglich begleitet. Wir nennen dieses Seiende das
Welt-
Geschichtliche. Dabei ist auf die Doppelbedeutung des
gewählten
und hier ontologisch verstandenen Ausdrucks
»Welt-Geschichte«
zu achten. Er bedeutet einmal das Geschehen von Welt in
ihrer
wesenhaften, existenten Einheit mit dem Dasein. Zugleich
aber
meint er, sofern mit der faktisch existenten Welt je
innerwelt-
liches Seiendes entdeckt ist, das innerweltliche »Geschehen«
des
Zuhandenen und Vorhandenen. Geschichtliche Welt ist faktisch
nur als Welt des innerweltlichen Seienden. Was mit dem Zeug
und Werk als solchem »geschieht«, hat einen eigenen
Charakter
von Bewegtheit, der bislang völlig im Dunkel liegt. Ein Ring
zum
Beispiel, der »überreicht« und »getragen« wird, erleidet in
diesem
Sein nicht einfach Ortsveränderungen. Die Bewegtheit des
Geschehens, in dem etwas »mit ihm geschieht«, läßt sich von
der
Bewegung als Ortsveränderung aus gar nicht fassen. Das gilt
von
allen weit-geschichtlichen »Vorgängen« und Ereignissen, in
gewisser Weise auch von »Naturkatastrophen«. Dem Problem
der ontologischen Struktur des weit-geschichtlichen
Geschehens
vermögen wir hier, von der dazu notwendigen Überschreitung
der Grenzen des Themas abgesehen, um so weniger nachzugehen,
als es gerade die Absicht dieser Exposition ist, vor das
ontologi-
sche Rätsel der Bewegtheit des Geschehens überhaupt zu
führen.
Es gilt nur den Umkreis von Phänomenen zu umgrenzen, der in
der Rede von der Geschichtlichkeit des Daseins ontologisch
not-
wendig mitgemeint ist. Auf Grund der zeitlich fundierten
Trans-
zendenz der Welt ist im Geschehen des existierenden
In-der-Welt-
seins je schon Welt-Geschichtliches »objektiv« da, ohne
histo-
risch erfaßt zu sein. Und weil das faktische Dasein
verfallend im
Besorgten aufgeht, versteht es seine Geschichte zunächst
weit-
geschichtlich. Und weil fernerhin das vulgäre
Seinsverständnis
»Sein« indifferent als Vorhandenheit versteht, wird das Sein
des
Welt-Geschichtlichen im Sinne des ankommenden, anwesenden
und verschwindenden Vorhandenen erfahren und ausgelegt. Und
weil schließlich der Sinn von Sein überhaupt als das
Selbstver-
ständliche schlechthin gilt, ist die Frage nach der Seinsart
des
Welt-Geschichtlichen und nach der Bewegtheit des Geschehens
überhaupt »doch eigentlich« nur die unfruchtbare
Umständlich-
keit einer Wortklügelei.
Das alltägliche Dasein ist in das Vielerlei dessen, was
täglich
»passiert«, zerstreut. Die Gelegenheiten, Umstände, deren
das
Besorgen 390
im vorhinein »taktisch« gewärtig bleibt, ergeben das
»Schicksal«.
Aus dem Besorgten errechnet sich das uneigentlich
existierende
Dasein erst seine Geschichte. Und weil es dabei, umgetrieben
von
seinen »Geschäften«, aus der Zerstreuung und dem Unzusam-
menhang des gerade »Passierten« sich erst zusammenholen muß,
so es zu ihm selbst kommen will, erwächst überhaupt nur erst
aus
dem Verständnishorizont der uneigentlichen Geschichtlichkeit
die
Frage nach einem zu stiftenden »Zusammenhang« des Daseins im
Sinne der »auch« vorhandenen Erlebnisse des Subjektes. Die
Möglichkeit der Herrschaft dieses Fragehorizontes gründet in
der
Unentschlossenheit, die das Wesen der Un-ständigkeit des
Selbst
ausmacht.
Damit ist der Ursprung der Frage nach einem »Zusammen-
hang« des Daseins im Sinne der Einheit der Verkettung der
Erlebnisse zwischen Geburt und Tod aufgezeigt. Die Herkunft
der Frage verrät zugleich ihre Unangemessenheit in Absicht
auf
eine ursprüngliche existenziale Interpretation der
Geschehens-
ganzheit des Daseins. Bei der Vorherrschaft dieses
»natürlichen«
Fragehorizontes wird aber andererseits erklärlich, warum es
so
aussieht, als vermöchte gerade die eigentliche
Geschichtlichkeit
des Daseins, Schicksal und Wiederholung, am allerwenigsten
den
phänomenalen Boden zu liefern, um das, was die Frage nach
dem
»Zusammenhang des Lebens« im Grunde intendiert, in die
Gestalt eines ontologisch gegründeten Problems zu bringen.
Die Frage kann nicht lauten: wodurch gewinnt das Dasein die
Einheit des Zusammenhangs für eine nachträgliche Verkettung
der erfolgten und erfolgenden Abfolge der »Erlebnisse«,
sondern:
in welcher Seinsart seiner selbst verliert es sich so, daß
es sich
gleichsam erst nachträglich aus der Zerstreuung
zusammenholen
und für das Zusammen eine umgreifende Einheit sich erdenken
muß? Die Verlorenheit in das Man und an das Welt-Geschicht-
liche enthüllte sich früher als Flucht vor dem Tode. Diese
Flucht
vor... offenbart das Sein zum Tode als eine
Grundbestimmtheit
der Sorge. Die vorlaufende Entschlossenheit bringt dieses
Sein
zum Tode in die eigentliche Existenz. Das Geschehen dieser
Ent-
schlossenheit aber, das vorlaufend sich überliefernde
Wiederho-
len des Erbes von Möglichkeiten, interpretierten wir als
eigent-
liche Geschichtlichkeit. Liegt etwa in dieser die
ursprüngliche,
unverlorene, eines Zusammenhangs unbedürftige Erstrecktheit
der ganzen Existenz? Die Entschlossenheit des Selbst gegen
die
Unständigkeit der Zerstreuung ist in sich selbst die
erstreckte
Stätigkeit, in der das Dasein als Schicksal Geburt und Tod
und
ihr »Zwischen« in seine Exi- 391
stenz »einbezogen« hält, so zwar, daß es in solcher
Ständigkeit
augenblicklich ist für das Welt-Geschichtliche seiner
jeweiligen
Situation. In der schicksalhaften Wiederholung gewesener
Mög-
lichkeiten bringt sich das Dasein zu dem vor ihm schon
Gewese-
nen »unmittelbar«, das heißt zeitlich ekstatisch zurück. Mit
die-
sem Sichüberliefern des Erbes aber ist dann die »Geburt« im
Zurückkommen aus der unüberholbaren Möglichkeit des Todes
in die Existenz eingeholt, damit diese freilich nur die
Geworfen-
heit des eigenen Da illusionsfreier hinnehme.
Die Entschlossenheit konstituiert die Treue der Existenz zum
eigenen Selbst. Als angstbereite Entschlossenheit ist die
Treue
zugleich mögliche Ehrfurcht vor der einzigen Autorität, die
ein
freies Existieren haben kann, vor den wiederholbaren
Möglich-
keiten der Existenz. Die Entschlossenheit wäre ontologisch
miß-
verstanden, wollte man meinen, sie sei nur so lange als
»Erleb-
nis« wirklich, als der »Akt« der Entschließung »dauert«. In
der
Entschlossenheit liegt die existenzielle Ständigkeit, die
ihrem
Wesen nach jeden möglichen, ihr entspringenden Augenblick
schon vorweggenommen hat. Die Entschlossenheit als Schicksal
ist die Freiheit für das möglicherweise situationsmäßig
geforderte
Aufgeben eines bestimmten Entschlusses. Dadurch wird die
Stätigkeit der Existenz nicht unterbrochen, sondern gerade
augenblicklich bewährt. Die Stätigkeit bildet sich nicht
erst durch
die und aus der Aneinanderfügung von »Augenblicken«, sondern
diese entspringen der schon erstreckten Zeitlichkeit der
zukünftig
gewesenden Wiederholung.
In der uneigentlichen Geschichtlichkeit dagegen ist die
ursprüngliche Erstrecktheit des Schicksals verborgen.
Unständig
als Man-selbst gegenwärtigt das Dasein sein »Heute«.
Gewärtig
des nächsten Neuen hat es auch schon das Alte vergessen. Das
Man weicht der Wahl aus. Blind für Möglichkeiten vermag es
nicht, Gewesenes zu wiederholen, sondern es behält nur und
erhält das übrig gebliebene »Wirkliche« des gewesenen Welt-
Geschichtlichen, die Überbleibsel und die vorhandene Kunde
darüber. In die Gegenwärtigung des Heute verloren, versteht
es
die »Vergangenheit« aus der »Gegenwart«. Die Zeitlichkeit
der
eigentlichen Geschichtlichkeit dagegen ist als
vorlaufend-wieder-
holender Augenblick eine Entgegenwärtigung des Heute und
eine
Entwöhnung von den Üblichkeiten des Man. Die uneigentlich
geschichtliche Existenz dagegen sucht, beladen mit der ihr
selbst
unkenntlich gewordenen Hinterlassenschaft der »Vergangen-
heit«, das Moderne. Die eigentliche Geschichtlichkeit
versteht die
Geschichte als die »Wiederkehr« des Möglichen und weiß
darum,
daß die Möglich- 392
keit nur wiederkehrt, wenn die Existenz schicksalhaft-augen-
blicklich für sie in der entschlossenen Wiederholung offen
ist.
Die existenziale Interpretation der Geschichtlichkeit des
Daseins gerät ständig unversehens in den Schatten. Die
Dunkel-
heiten lassen sich um so weniger abstreifen, als schon die
mög-
lichen Dimensionen des angemessenen Fragens nicht entwirrt
sind und in allen das Rätsel des Seins und, wie jetzt
deutlich
wurde, der Bewegung sein Wesen treibt. Gleichwohl mag ein
Entwurf der ontologischen Genesis der Historie als
Wissenschaft
aus der Geschichtlichkeit des Daseins gewagt werden. Er
dient als
Vorbereitung für die im folgenden zu vollziehende Klärung
der
Aufgabe einer historischen Destruktion der Geschichte der
Philo-
sophie1.
§ 76. Der existenziale Ursprung der Historie aus der
Geschichtlichkeit des Daseins
Daß die Historie wie jede Wissenschaft als eine Seinsart des
Daseins faktisch und jeweils von der »herrschenden Weltan-
schauung« »abhängig« ist, bedarf keiner Erörterung, über
dieses
Faktum hinaus muß jedoch nach der ontologischen Möglichkeit
des Ursprungs der Wissenschaften aus der Seinsverfassung des
Daseins gefragt werden. Dieser Ursprung ist noch wenig
durch-
sichtig. Im vorliegenden Zusammenhang soll die Analyse den
existenzialen Ursprung der Historie nur soweit umrißhaft
kennt-
lich machen, als dadurch die Geschichtlichkeit des Daseins
und
ihre Verwurzelung in der Zeitlichkeit noch deutlicher ans
Licht
kommt.
Wenn das Sein des Daseins grundsätzlich geschichtlich ist,
dann
bleibt offenbar jede faktische Wissenschaft diesem Geschehen
verhaftet. Die Historie hat aber noch in einer eigenen und
vor-
züglichen Weise die Geschichtlichkeit des Daseins zur
Voraus-
setzung.
Das möchte man zunächst durch den Hinweis darauf verdeut-
lichen, daß die Historie als Wissenschaft von der Geschichte
des
Daseins das ursprünglich geschichtlich Seiende zur »Voraus-
setzung« haben muß als ihr mögliches »Objekt«. Allein
Geschichte muß nicht nur sein, damit ein historischer
Gegenstand
zugänglich wird, und nicht nur ist historisches Erkennen als
geschehende Verhaltung des Daseins geschichtlich, sondern
die
historische Erschließung von Geschichte ist an ihr selbst,
mag sie
faktisch vollzogen werden oder nicht, ihrer ontologischen
Struk-
tur nach in der Geschichtlichkeit des Daseins verwurzelt.
Diesen
Zusammenhang meint die Rede vom existenzialen Ursprung der
Hi-
1 Vgl. § 6, S. 19
ff. 393
storie aus der Geschichtlichkeit des Daseins. Ihn aufhellen
bedeu-
tet methodisch: die Idee der Historie aus der
Geschichtlichkeit
des Daseins ontologisch entwerfen. Dagegen geht es nicht
darum,
den Begriff der Historie aus einem heute faktischen Wissen-
schaftsbetrieb zu »abstrahieren« bzw. ihn diesem
anzugleichen.
Denn was verbürgt, grundsätzlich gesehen, daß dieses
faktische
Verfahren in der Tat Historie ihren ursprünglichen und
eigent-
lichen Möglichkeiten nach repräsentiert? Und selbst wenn das
zutrifft, worüber wir uns jeder Entscheidung enthalten, dann
könnte doch der Begriff nur am Leitfaden der schon
verstandenen
Idee der Historie am Faktum »entdeckt« werden. Umgekehrt
jedoch wird die existenziale Idee der Historie nicht dadurch
in ein
höheres Recht gesetzt, daß der Historiker die
Übereinstimmung
seines faktischen Verhaltens mit ihr bestätigt. Sie wird
auch
dadurch nicht »falsch«, daß er eine solche bestreitet.
In der Idee der Historie als Wissenschaft liegt, daß sie die
Erschließung des geschichtlich Seienden als eigene Aufgabe
ergrif-
fen hat. Jede Wissenschaft konstituiert sich primär durch
die
Thematisierung. Was im Dasein als erschlossenem In-der-Welt-
sein vorwissenschaftlich bekannt ist, wird auf sein
spezifisches
Sein entworfen. Mit diesem Entwurf begrenzt sich die Region
des
Seienden. Die Zugänge zu ihm erhalten ihre methodische
»Direk-
tion«, die Struktur der Begrifflichkeit der Auslegung
gewinnt ihre
Vorzeichnung. Wenn wir, unter Zurückstellung der Frage nach
der Möglichkeit einer »Geschichte der Gegenwart«, der
Historie
die Erschließung der »Vergangenheit« als Aufgabe zuweisen,
dann ist die historische Thematisierung der Geschichte nur
mög-
lich, wenn überhaupt je schon »Vergangenheit« erschlossen
ist.
Noch ganz abgesehen davon, ob ausreichende Quellen für eine
historische Vergegenwärtigung der Vergangenheit verfügbar
sind,
muß doch überhaupt der Weg zu ihr offen sein für den
histori-
schen Rückgang in sie. Daß dergleichen zutrifft und wie das
möglich wird, liegt keineswegs am Tag.
Sofern aber das Sein des Daseins geschichtlich, das heißt
auf
dem Grunde der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit in
seiner
Gewesenheit offen ist, hat die in der Existenz vollziehbare
The-
matisierung der »Vergangenheit« überhaupt freie Bahn. Und
weil
das Dasein und nur es ursprünglich geschichtlich ist, muß
das,
was die historische Thematisierung als möglichen Gegenstand
der
Forschung vorgibt, die Seinsart von dagewesenem Dasein
haben.
Mit dem faktischen Dasein als In-der-Welt-sein ist je auch
Welt-
Geschichte. Wenn jenes nicht mehr da ist, dann ist auch die
Welt
dagewesen. Dem widerstreitet nicht, daß das vormals
innerwelt-
lich Zuhandene gleichwohl noch 394
nicht vergeht und als Unvergangenes der dagewesenen Welt für
eine Gegenwart »historisch« vorfindlich wird.
Noch vorhandene Überreste, Denkmäler, Berichte sind mög-
liches »Material« für die konkrete Erschließung des
dagewesenen
Daseins. Zu historischem Material kann dergleichen nur
werden,
weil es seiner eigenen Seinsart nach welt-geschichtlichen
Charak-
ter hat. Und es wird Material erst dadurch, daß es im
vorhinein
hinsichtlich seiner Innerweltlichkeit verstanden ist. Die
schon
entworfene Welt bestimmt sich auf dem Wege der
Interpretation
des weltgeschichtlichen, »erhaltenen« Materials. Die
Beschaf-
fung, Sichtung und Sicherung des Materials bringt nicht erst
den
Rückgang zur »Vergangenheit« in Gang, sondern setzt das
geschichtliche Sein zum dagewesenen Dasein, das heißt die
Geschichtlichkeit der Existenz des Historikers schon voraus.
Diese fundiert existenzial die Historie als Wissenschaft bis
in die
unscheinbarsten, »handwerklichen« Veranstaltungen1.
Wenn die Historie dergestalt in der Geschichtlichkeit
wurzelt,
dann muß sich von hier aus auch bestimmen lassen, was
»eigent-
lich« Gegenstand der Historie ist. Die Umgrenzung des ur-
sprünglichen Themas der Historie wird sich in Anmessung an
die
eigentliche Geschichtlichkeit und die ihr zugehörige
Erschließung
des Dagewesenen, die Wiederholung, vollziehen müssen. Diese
versteht dagewesenes Dasein in seiner gewesenen eigentlichen
Möglichkeit. Die »Geburt« der Historie aus der eigentlichen
Geschichtlichkeit bedeutet dann: die primäre Thematisierung
des
historischen Gegenstandes entwirft dagewesenes Dasein auf
seine
eigenste Existenzmöglichkeit. Historie soll also das
Mögliche zum
Thema haben? Steht nicht ihr ganzer »Sinn« einzig nach den
»Tatsachen«, nach dem, wie es tatsächlich gewesen ist?
Allein, was bedeutet: Dasein ist »tatsächlich«? Wenn das Da-
sein »eigentlich« nur wirklich ist in der Existenz, dann
konstitu-
iert sich doch seine »Tatsächlichkeit« gerade im
entschlossenen
Sichentwerfen auf ein gewähltes Seinkönnen. Das
»tatsächlich«
eigentlich Dagewesene ist dann aber die existenzielle
Möglichkeit,
in der sich Schicksal, Geschick und Welt-Geschichte faktisch
bestimmten. Weil die Existenz je nur als faktisch geworfene
ist,
wird die Historie die stille Kraft des Möglichen um so
eindring-
licher erschließen, je einfacher und konkreter sie das
In-der-Welt-
gewesensein aus seiner Möglichkeit her versteht und »nur«
dar-
stellt.
1 Zur Konstitution des historischen Verstehens vgl. E.
Spranger, Zur
Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen
Psychologie,
Festschrift für Joh. Volkelt 1918, S. 357 ff. 395
Wenn die Historie, selbst eigentlicher Geschichtlichkeit
ent-
wachsend, wiederholend das dagewesene Dasein in seiner Mög-
lichkeit enthüllt, dann hat sie auch schon im Einmaligen das
»Allgemeine« offenbar gemacht. Die Frage, ob die Historie
nur
die Reihung der einmaligen, »individuellen« Begebenheiten
oder
auch »Gesetze« zum Gegenstand habe, ist in der Wurzel schon
verfehlt. Weder das nur einmalig Geschehene noch ein darüber
schwebendes Allgemeines ist ihr Thema, sondern die faktisch
existent gewesene Möglichkeit. Diese wird nicht als solche
wie-
derholt, das heißt eigentlich historisch verstanden, wenn
sie in die
Blässe eines überzeitlichen Musters verkehrt wird. Nur
faktische
eigentliche Geschichtlichkeit vermag als entschlossenes Schicksal
die dagewesene Geschichte so zu erschließen, daß in der
Wieder-
holung die »Kraft« des Möglichen in die faktische Existenz
her-
einschlägt, das heißt in deren Zukünftigkeit auf sie
zukommt. Die
Historie nimmt daher – sowenig wie die Geschichtlichkeit des
unhistorischen Daseins – ihren Ausgang keineswegs in der
»Gegenwart« und beim nur heute »Wirklichen«, um sich von da
zu einem Vergangenen zurückzutasten, sondern auch die
histori-
sche Erschließung zeitigt sich aus der Zukunft. Die
»Auswahl«
dessen, was für die Historie möglicher Gegenstand werden
soll,
ist schon getroffen, in der faktischen, existenziellen Wahl
der
Geschichtlichkeit des Daseins, in dem allererst die Historie
ent-
springt und einzig ist.
Die in der schicksalhaften Wiederholung gründende
historische
Erschließung der »Vergangenheit« ist so wenig »subjektiv«,
daß
sie allein die »Objektivität« der Historie gewährleistet.
Denn die
Objektivität einer Wissenschaft regelt sich primär daraus,
ob sie
das ihr zugehörige thematische Seiende in der
Ursprünglichkeit
seines Seins dem Verstehen unverdeckt entgegenbringen kann.
In
keiner Wissenschaft sind die »Allgemeingültigkeit« der
Maßstäbe
und die Ansprüche auf »Allgemeinheit«, die das Man und seine
Verständigkeit fordert, weniger mögliche Kriterien der
»Wahr-
heit« als in der eigentlichen Historie.
Nur weil das zentrale Thema der Historie je die Möglichkeit
der dagewesenen Existenz ist und diese faktisch immer welt-
geschichtlich existiert, kann sie von sich die unerbittliche
Orien-
tierung an den »Tatsachen« fordern. Deshalb verzweigt sich
die
faktische Forschung vielfältig und macht Zeug-, Werk-,
Kultur-,
Geistes- und Ideen-Geschichte zu ihrem Gegenstand. Die
Geschichte ist zugleich an ihr selbst als sichüberliefernde
je in
einer ihr zugehörigen Ausgelegtheit, die selbst ihre eigene
Geschichte hat, so daß die Historie zumeist erst durch die
Über-
lieferungsgeschichte hindurch zum Dagewesenen selbst 396
vordringt. Daran liegt es, daß die konkrete historische
Forschung
sich je in wechselnder Nähe zu ihrem eigentlichen Thema
halten
kann. Der Historiker, der sich von vornherein auf die
»Weltan-
schauung« eines Zeitalters »wirft«, hat damit noch nicht
bewie-
sen, daß er seinen Gegenstand eigentlich geschichtlich und
nicht
nur »ästhetisch« versteht. Und andererseits kann die
Existenz
eines Historikers, der »nur« Quellen ediert, durch eine
eigentliche
Geschichtlichkeit bestimmt sein.
So ist denn auch die Herrschaft eines differenzierten
histori-
schen Interesses bis zu den entferntesten und primitivsten
Kultu-
ren an sich noch kein Beweis für die eigentliche
Geschichtlichkeit
einer »Zeit«. Am Ende ist das Aufkommen eines Problems des
»Historismus« das deutlichste Anzeichen dafür, daß die
Historie
das Dasein seiner eigentlichen Geschichtlichkeit zu
entfremden
trachtet. Diese bedarf nicht notwendig der Historie.
Unhistori-
sche Zeitalter sind als solche nicht auch schon
ungeschichtlich.
Die Möglichkeit, daß Historie überhaupt entweder von
»Nutzen« oder »Nachteil« sein kann »für das Leben«, gründet
darin, daß dieses in der Wurzel seines Seins geschichtlich
ist und
sonach als faktisch existierendes sich je schon für
eigentliche oder
uneigentliche Geschichtlichkeit entschieden hat. Nietzsche
hat
das Wesentliche über »Nutzen und Nachteil der Historie für
das
Leben« in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung (1874)
erkannt und eindeutig-eindringlich gesagt. Er unterscheidet
drei
Arten von Historie: die monumentalische, antiquarische und
kritische, ohne die Notwendigkeit dieser Dreiheit und den
Grund
ihrer Einheit ausdrücklich aufzuweisen. Die Dreifachheit der
Historie ist in der Geschichtlichkeit des Daseins
vorgezeichnet.
Diese läßt zugleich verstehen, inwiefern eigentliche
Historie die
faktisch konkrete Einheit dieser drei Möglichkeiten sein
muß.
Nietzsches Einteilung ist nicht zufällig. Der Anfang seiner
»Betrachtung« läßt vermuten, daß er mehr verstand, als er
kund-
gab.
Als geschichtliches ist das Dasein nur möglich auf dem
Grunde
der Zeitlichkeit. Diese zeitigt sich in der
ekstatisch-horizontalen
Einheit ihrer Entrückungen. Das Dasein existiert als
zukünftiges
eigentlich im entschlossenen Erschließen einer gewählten
Mög-
lichkeit. Entschlossen auf sich zurückkommend, ist es wiederho-
lend offen für die »monumentalen« Möglichkeiten menschlicher
Existenz. Die solcher Geschichtlichkeit entspringende
Historie ist
»monumentalisch«. Das Dasein ist als gewesendes seiner
Gewor-
fenheit überantwortet. In der wiederholenden Aneignung des
Möglichen liegt zugleich vorgezeichnet die Möglichkeit der
ver-
ehrenden Bewahrung der dagewesenen Existenz, an der die
ergrif-
fene Möglichkeit offenbar geworden. Als 397
monumentalische ist die eigentliche Historie deshalb
»antiqua-
risch«. Das Dasein zeitigt sich in der Einheit von Zukunft
und
Gewesenheit als Gegenwart. Diese erschließt, und zwar als
Augenblick, das Heute eigentlich. Sofern dieses aber aus dem
zukünftig-wiederholenden Verstehen einer ergriffenen
Existenz-
möglichkeit ausgelegt ist, wird die eigentliche Historie zur
Entge-
genwärtigung des Heute, das ist zum leidenden Sichlösen von
der
verfallenden Öffentlichkeit des Heute. Die
monumentalisch-anti-
quarische Historie ist als eigentliche notwendig Kritik der
»Gegenwart«. Die eigentliche Geschichtlichkeit ist das
Funda-
ment der möglichen Einheit der drei Weisen der Historie. Der
Grund des Fundaments der eigentlichen Historie aber ist die
Zeitlichkeit als der existenziale Seinssinn der Sorge.
Die konkrete Darstellung des existenzial-geschichtlichen
Ursprungs der Historie vollzieht sich in der Analyse der
Themati-
sierung, die diese Wissenschaft konstituiert. Die
historische The-
matisierung hat ihr Hauptstück in der Ausbildung der
hermeneu-
tischen Situation, die sich mit dem Entschluß des
geschichtlich
existierenden Daseins zur wiederholenden Erschließung des
dagewesenen öffnet. Aus der eigentlichen Erschlossenheit
(»Wahrheit«) der geschichtlichen Existenz ist die
Möglichkeit
und die Struktur der historischen Wahrheit zu exponieren.
Weil
aber die Grundbegriffe der historischen Wissenschaften, sie
mögen deren Objekte oder ihre Behandlungsart betreffen,
Existenzbegriffe sind, hat die Theorie der
Geisteswissenschaften
eine thematisch existenziale Interpretation der
Geschichtlichkeit
des Daseins zur Voraussetzung. Sie ist das ständige Ziel,
dem sich
die Forschungsarbeit W. Diltheys näher zu bringen sucht und
das
durch die Ideen des Grafen Yorck von Wartenburg
eindringlicher
erhellt wird.
§ 77. Der Zusammenhang der vorstehenden Exposition des
Problems der Geschichtlichkeit mit den Forschungen W.
Diltheys
und den Ideen des Grafen Yorck
Die vollzogene Auseinanderlegung des Problems der Geschichte
ist aus der Aneignung der Arbeit Diltheys erwachsen. Sie
wurde
bestätigt und zugleich gefestigt durch die Thesen des Grafen
Yorck, die sich verstreut in seinen Briefen an Dilthey
finden1.
Das heute vielfach noch verbreitete Bild Diltheys ist
folgendes:
der »feinsinnige« Ausleger der Geistes-, im besonderen
Literatur-
geschichte,
1 Vgl. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen
Paul
Yorck von Wartenburg 1877-1897, Halle a. d. S. 1923. 398
der sich »auch« um eine Abgrenzung der Natur- und
Geisteswis-
senschaften bemüht, dabei der Geschichte dieser
Wissenschaften
und ebenso der »Psychologie« eine ausgezeichnete Rolle
zuweist
und das Ganze in einer relativistischen »Lebensphilosophie«
verschwimmen läßt. Für die Oberflächenbetrachtung ist diese
Zeichnung »richtig«. Ihr entgeht aber die »Substanz«. Sie
ver-
deckt mehr, als sie enthüllt.
Schematisch läßt sich die Forschungsarbeit Diltheys in drei
Bezirke aufteilen: Studien zur Theorie der
Geisteswissenschaften
und ihrer Abgrenzung von den Naturwissenschaften; Forschun-
gen über die Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der
Gesellschaft und dem Staat; Bemühungen um eine Psychologie,
in
der die »ganze Tatsache Mensch« zur Darstellung gebracht
wer-
den soll. Wissenschaftstheoretische, wissenschaftsgeschichtliche
und hermeneutisch-psychologische Untersuchungen durchdringen
und überschneiden sich ständig. Wo die eine Blickrichtung
vor-
wiegt, sind die anderen auch schon Motiv und Mittel. Was
sich
wie Zwiespältigkeit und unsicheres, zufälliges »Probieren«
aus-
nimmt, ist die elementare Unruhe zu dem einen Ziel: das
»Leben«
zum philosophischen Verständnis zu bringen, und diesem
Verste-
hen aus dem »Leben selbst« ein hermeneutisches Fundament zu
sichern. Alles zentriert in der »Psychologie«, die das
»Leben« in
seinem geschichtlichen Entwicklungs- und Wirkungszusammen-
hang verstehen soll als die Weise, in der der Mensch ist,
als mög-
lichen Gegenstand der Geisteswissenschaften und als Wurzel
dieser Wissenschaften zumal. Die Hermeneutik ist die
Selbstauf-
klärung dieses Verstehens und erst in abgeleiteter Form
Metho-
dologie der Historie.
Dilthey hat zwar mit Rücksicht auf zeitgenössische
Erörterun-
gen, die seine eigenen Forschungen zur Grundlegung der
Geisteswissenschaften einseitig in das Feld der
Wissenschaftsthe-
orie gedrängt haben, seine Veröffentlichungen vielfach in
dieser
Richtung orientiert. Die »Logik der Geisteswissenschaften«
ist
für ihn ebensowenig zentral, wie seine »Psychologie« »nur«
als
Verbesserung der positiven Wissenschaft vom Psychischen
ange-
strebt wird.
Diltheys eigenste philosophische Tendenz in der Kommunika-
tion mit seinem Freunde, dem Grafen Yorck, bringt dieser
einmal
unzweideutig zum Ausdruck, wenn er auf »das uns gemeinsame
Interesse Geschichtlichkeit zu verstehen« [v. Verf. gesp.]
hin-
weist1. Die Aneignung der Diltheyschen Forschungen, die
jetzt
erst in vollem Umfang zugänglich werden, bedarf der
Stätigkeit
und Konkretion grundsätzlicher Auseinandersetzung. Für eine
ausführliche Erörterung der Pro-
1 Briefwechsel, S. 185. 399
bleme, die ihn bewegten und wie sie ihn bewegten, ist hier
nicht
der Ort1. Dagegen sollen einige zentrale Ideen des Grafen
Yorck
durch eine Auswahl charakteristischer Briefstellen eine
vorläufige
Kennzeichnung erhalten.
Die in der Kommunikation mit der Diltheyschen Fragestellung
und Arbeit lebendige Tendenz Yorcks zeigt sich gerade in der
Stellungnahme zu den Aufgaben der grundlegenden Disziplin,
der
analytischen Psychologie. Er schreibt zu Diltheys
Akademieab-
handlung »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde
Psy-
chologie« (1894): »Die Selbstbesinnung als primäres Erkennt-
nißmittel, die Analysis als primäres Erkenntnißverfahren
werden
fest hingestellt. Von hier aus werden Sätze formuliert, die
der
Eigenbefund verifiziert. Zu einer kritischen Auflösung,
einer Er-
klärung und damit inneren Widerlegung der konstruktiven Psy-
chologie und ihrer Annahmen wird nicht fortgeschritten.«
(Briefw. S. 177.) »... das Absehen von kritischer Auflösung
=
psychologischer Provenienznachweisung im Einzelnen und in
eingreifender Ausführung steht meines Erachtens im Zusammen-
hange mit dem Begriffe und der Stellung, welche Sie der
Erkennt-
nißtheorie zuweisen.« (S. 177.) »Die Erklärung der Unanwend-
barkeit – die Thatsache ist hingestellt und deutlich gemacht
–
giebt nur eine Erkenntnißtheorie. Sie hat Rechenschaft
abzulegen
über die Adaequatheit der wissenschaftlichen Methoden, sie
hat
die Methodenlehre zu begründen, anstatt daß jetzt die
Methoden
den einzelnen Gebieten – ich muß sagen auf gut Glück – ent-
nommen werden« (S. 179 f.).
In dieser Forderung Yorcks – es ist im Grunde die einer den
Wissenschaften vorausschreitenden und sie führenden Logik,
wie
es die Platonische und die Aristotelische war, – liegt die
Aufgabe
beschlossen, positiv und radikal die verschiedene
kategoriale
Struktur des Seienden, das Natur, und des Seienden, das
Geschichte ist (des Daseins), herauszuarbeiten. Y. findet,
daß D.’s
Untersuchungen »zu wenig die generische Differenz zwischen
Ontischem und Historischem betonen.« (S. 191) [v. Verf.
gesp.].
»Insbesondere das Verfahren der Vergleichung wird als
Methode
der Geisteswissenschaften in Anspruch genommen. Hier trenne
ich mich von Ihnen ... Vergleichung ist immer aesthetisch,
haftet
immer an der Gestalt. Windelband weist der Geschichte
Gestal-
ten zu. Ihr Begriff des Typus ist ein durchaus inner-
1 Darauf kann um so mehr verzichtet werden, als wir G. Misch
eine
konkrete und auf die zentralen Tendenzen abzielende
Darstellung
Diltheys verdanken, die keine Auseinandersetzung mit dessen
Werk wird
entbehren können. Vgl. W. Dilthey, Ges. Schriften Bd. V
(1924),
Vorbericht, S. VII-CXVII. 400
licher. Da handelt es sich um Charaktere, nicht um
Gestalten.
Jenem ist Geschichte: eine Reihe von Bildern, von
Einzelgestalten,
aesthetische Forderung. Dem Naturwissenschaftler bleibt eben
neben der Wissenschaft als eine Art von menschlichem Beruhi-
gungsmittel nur der aesthetische Genuß. Ihr Begriff von
Geschichte ist doch der eines Kräftekonnexes, von
Krafteinheiten,
auf welche die Kategorie: Gestalt nur übertragener Maßen
anwendbar sein sollte«. (S. 193.)
Aus dem sicheren Instinkt für die »Differenz des Ontischen
und
Historischen« erkennt Y., wie stark die traditionelle
Geschichts-
forschung sich noch in »rein okularen Bestimmungen« (S. 192)
hält, die auf das Körperliche und Gestalthafte zielen.
»Ranke ist ein großes Okular, dem nicht, was entschwand, zu
Wirklichkeiten werden kann... Aus Rankes ganzer Art erklärt
sich auch die Beschränkung des Geschichtsstoffes auf das
Poli-
tische. Nur dies ist das Dramatische.« (S. 60.) »Die
Modifikatio-
nen, die der Zeitverlauf gebracht hat, erscheinen mir
unwesent-
lich, und da mag ich wohl anders werthen. Denn zum Beispiel
die
so genannte historische Schule halte ich für eine bloße
Neben-
strömung innerhalb desselben Flußbettes und nur ein Glied
eines
alten durchgehenden Gegensatzes repraesentirend. Der Name
hat
etwas Täuschendes. Jene Schule war gar keine historische [v.
Verf. gesp.] sondern eine antiquarische, aesthetisch
konstruirend,
während die große dominirende Bewegung die der mechanischen
Construktion war. Daher was sie methodisch hinzubrachte, zu
der Methode der Rationalität nur Gesammtgefühl« (S. 68 f.).
»Der echte Philologus, der einen Begriff von Historie hat
als
von einem Antiquitätenkasten. Wo keine Palpabilität – wohin
nur lebendige psychische Transposition führt, da kommen die
Herren nicht hin. Sie sind eben im Innersten
Naturwissenschaftler
und werden noch mehr zu Skeptikern, weil das Experiment
fehlt.
Von all dem Krimskrams, wie oft zum Beispiel Platon in Groß-
griechenland oder Syrakus gewesen, muß man sich ganz
fernhal-
ten. Da hängt keine Lebendigkeit dran. Solche äußerliche
Manier,
die ich nun kritisch durchgesehen habe, kommt zuletzt zu
einem
großen Fragezeichen und ist zu Schanden geworden an den
großen Realitäten Homer, Platon, Neues Testament. Alles
wirk-
lich Reale wird zum Schemen, wenn es als »Ding an sich«
betrachtet, wenn es nicht erlebt wird«. (S. 61.) »Die
‘Wissen-
schaftler’ stehen den Mächten der Zeit ähnlich gegenüber wie
die
feinstgebildete französische Gesellschaft damaliger
Revolutions-
bewegung. Hier wie dort Formalismus, Kultus der Form.
Verhältnißbestimmungen der Weisheit letztes Wort. Solche
Denkrichtung hat na- 401
türlich ihre – wie ich meine – noch nicht geschriebene
Geschichte.
Die Bodenlosigkeit des Denkens und des Glaubens an solches
Denken – erkenntnißtheoretisch betrachtet: ein
metaphysisches
Verhalten – ist historisches Produkt.« (S. 39.) »Die Wellen-
schwingungen hervorgerufen durch das exzentrische Princip,
welches vor mehr als vierhundert Jahren eine neue Zeit
herauf-
führte, scheinen mir bis zum Äußersten weit und flach
geworden
zu sein, die Erkenntniß bis zur Aufhebung ihrer selbst
fortge-
schritten, der Mensch so weit seiner selbst entrückt, daß er
seiner
nicht mehr ansichtig ist. Der »moderne Mensch« das heißt der
Mensch seit der Renaissance ist fertig zum Begrabenwerden.«
(S.
83.) Dagegen: »Alle wahrhaft lebendige und nicht nur Leben
schillernde Historie ist Kritik.« (S. 19.) »Aber
Geschichtskennt-
niß ist zum besten Theile Kenntniß der verborgenen Quellen.«
(S.
109.) »Mit der Geschichte ists so, daß was Spektakel macht
und
augenfällig ist nicht die Hauptsache ist. Die Nerven sind
unsicht-
bar wie das Wesentliche überhaupt unsichtbar ist. Und wie es
heißt: »Wenn ihr stille wäret, so würdet ihr stark sein« so ist
auch die Variante wahr: wenn ihr stille seid so werdet ihr
ver-
nehmen das heißt verstehen.« (S. 26.) »Und dann genieße ich
das
stille Selbstgespräch und den Verkehr mit dem Geiste der
Geschichte. Der ist in seiner Klause dem Faust nicht
erschienen
und auch dem Meister Goethe nicht. Ihm würden sie nicht
erschrocken gewichen sein, so ernst und ergreifend die
Erschei-
nung sein mag. Ist sie doch brüderlich und verwandt in
anderem,
tieferen Sinne als die Bewohner von Busch und Feld. Die
Bemü-
hung hat Ähnlichkeit mit dem Ringen Jacobs, für den
Ringenden
selbst ein sicherer Gewinn. Darauf aber kommts an erster
Stelle
an«. (S. 133.)
Die klare Einsicht in den Grundcharakter der Geschichte als
»Virtualität« gewinnt Yorck aus der Erkenntnis des Seinscharak-
ters des menschlichen Daseins selbst, also gerade nicht
wissen-
schaftstheoretisch am Objekt der Geschichtsbetrachtung: »Daß
die gesammte psycho-physische Gegebenheit nicht ist [Sein =
Vorhandensein der Natur. Anm. d. Vf.] sondern lebt, ist der
Keimpunkt der Geschichtlichkeit. Und eine Selbstbesinnung,
welche nicht auf ein abstraktes Ich sondern auf die Fülle
meines
Selbstes gerichtet ist, wird mich historisch bestimmt
finden, wie
die Physik mich kosmisch bestimmt erkennt. Gerade so wie
Natur bin ich Geschichte ...« (S. 71.) Und Yorck, der alle
unech-
ten »Verhältnisbestimmungen« und »bodenlosen« Relativismen
durchschaute, zögert nicht, die letzte Konsequenz aus der
Ein-
sicht in die Geschichtlichkeit des Daseins zu ziehen.
»Andererseits
aber bei der inneren Geschichtlichkeit des Selbstbewußtseins
ist
eine 402
von der Historie abgesonderte Systematik methodologisch
inadaequat. Wie die Physiologie von der Physik nicht
abstrahie-
ren kann, so die Philosophie – gerade wenn sie eine
kritische ist –
nicht von der Geschichtlichkeit ... Das Selbstverhalten und
die
Geschichtlichkeit sind wie Athmen und Luftdruck – und – es
mag
dies einiger Maßen paradox klingen – die Nicht-Vergeschicht-
lichung des Philosophirens erscheint mir in methodischer Bezie-
hung als ein metaphysischer Rest«. (S. 69.) »Weil
philosophiren
leben ist, darum – erschrecken Sie nicht – giebt es nach
meiner
Meinung eine Philosophie der Geschichte – wer sie schreiben
könnte! – Gewiß nicht so wie sie bisher aufgefaßt und versucht
worden ist, wogegen unwiderleglich Sie Sich erklärt haben.
Die
bisherige Fragstellung war eben eine falsche, ja unmögliche,
aber
ist nicht die einzige. Darum weiter giebt es kein wirkliches
Philo-
sophiren, welches nicht historisch wäre. Die Trennung
zwischen
systematischer Philosophie und historischer Darstellung ist
dem
Wesen nach unrichtig.« (S. 251.) »Das Praktisch werden
können
ist ja nun allerdings der eigentliche Rechtsgrund aller
Wissen-
schaft. Aber die mathematische Praxis ist nicht die
alleinige. Die
praktische Abzweckung unseres Standpunktes ist die
paedagogi-
sche, im weitesten und tiefsten Wortsinne. Sie ist die Seele
aller
wahren Philosophie und die Wahrheit des Platon und Aristote-
les«. (S. 42 f.) »Sie
wissen was ich von der Möglichkeit einer
Ethik als Wissenschaft halte. Trotzdem kanns immer etwas
besser
gemacht werden. Für wen eigentlich sind solche Bücher?
Regist-
raturen über Registraturen! Das einzig Bemerkenswerthe der
Trieb von der Physik zur Ethik zu kommen.« (S. 73.) »Wenn
man Philosophie als Lebensmanifestation begreift, nicht als
Expektoration eines bodenlosen Denkens, bodenlos
erscheinend,
weil der Blick von dem Bewußtseinsboden abgelenkt wird, so
ist
die Aufgabe wie knapp im Resultate, so verwickelt und mühsam
in seiner Gewinnung. Vorurtheilsfreiheit ist die
Voraussetzung
und schon diese schwer zu gewinnen.« (S. 250.)
Daß York selbst sich auf den Weg machte, gegenüber dem
Ontischen (Okularen) das Historische kategorial in den Griff
zu
bringen und »das Leben« in das angemessene wissenschaftliche
Verständnis zu heben, wird aus dem Hinweis auf die Art der
Schwierigkeit solcher Untersuchungen deutlich: ästhetisch-
mechanistische Denkweise »findet leichter wörtlichen
Ausdruck,
bei der breiten Provenienz der Worte aus der Okularität
erklär-
lich, als eine hinter die Anschauung zurückgehende
Analysis...
Was dagegen in den Grund der Lebendigkeit eindringt, ist
einer
exoterischen Darstellung entzogen, woher denn alle
Terminologie
nicht gemeinverständlich, symbolisch und unver- 403
meidlich. Aus der besonderen Art des philosophischen Denkens
folgt die Besonderheit ihres sprachlichen Ausdrucks.« (S. 70
f.)
»Aber Sie kennen meine Vorliebe für das Paradoxe, die ich
damit
rechtfertige, daß Paradoxie ein Merkmal der Wahrheit ist,
daß
communis opinio gewißlich nirgends in der Wahrheit ist, als
ein
elementarer Niederschlag verallgemeinernden Halbverstehens,
in
dem Verhältnisse zu der Wahrheit wie der Schwefeldampf, den
der Blitz zurückläßt. Wahrheit ist nie Element.
Staatspaedagogi-
sche Aufgabe wäre es die elementare öffentliche Meinung zu
zersetzen und möglichst die Individualität des Sehens und
Anse-
hens bildend zu ermöglichen. Es würden dann statt eines so
genannten öffentlichen Gewissens – dieser radikalen
Veräußer-
lichung, wieder Einzelgewissen, das heißt Gewissen mächtig
wer-
den«. (S. 249 f.)
Das Interesse, Geschichtlichkeit zu verstehen, bringt sich
vor
die Aufgabe einer Herausarbeitung der »generischen Differenz
zwischen Ontischem und Historischem«. Damit ist das funda-
mentale Ziel der »Lebensphilosophie« festgemacht. Gleichwohl
bedarf die Fragestellung einer grundsätzlichen
Radikalisierung.
Wie anders soll Geschichtlichkeit in ihrem Unterschied vom
Ontischen philosophisch erfaßt und »kategorial« begriffen
wer-
den, es sei denn dadurch, daß »Ontisches« sowohl wie
»Histori-
sches« in eine ursprünglichere Einheit der möglichen
Vergleichs-
hinsicht und Unterscheidbarkeit gebracht werden? Das ist
aber
nur möglich, wenn die Einsicht erwächst: 1. Die Frage nach
der
Geschichtlichkeit ist eine ontologische Frage nach der
Seinsver-
fassung des geschichtlich Seienden; 2. die Frage nach dem
Onti-
schen ist die ontologische Frage nach der Seinsverfassung
des
nicht daseinsmäßigen Seienden, des Vorhandenen im weitesten
Sinne; 3. das Ontische ist nur ein Bezirk des Seienden. Die
Idee
des Seins umgreift »Ontisches« und »Historisches«. Sie ist
es, die
sich muß »generisch differenzieren« lassen.
Nicht zufällig nennt York das nicht geschichtliche Seiende
das
Ontische schlechthin. Das ist nur der Widerschein der
ungebro-
chenen Herrschaft der traditionellen Ontologie, die,
herkünftig
aus der antiken Fragestellung nach dem Sein, die
ontologische
Problematik in einer grundsätzlichen Verengung festhält. Das
Problem der Differenz zwischen Ontischem und Historischem
kann als Forschungsproblem nur ausgearbeitet werden, wenn es
sich durch die fundamentalontologische Klärung der Frage
nach
dem Sinn von Sein überhaupt zuvor des Leitfadens versichert
hat1. So wird deutlich, in wel-
1 Vgl. §§ 5 u. 6,
S. 15 ff. 404
chem Sinne die vorbereitende existenzial-zeitliche Analytik
des
Daseins entschlossen ist, den Geist des Grafen Yorck zu
pflegen,
um dem Werke Diltheys zu dienen.
Sechstes Kapitel
Zeitlichkeit und Innerzeitigkeit als Ursprung des vulgären
Zeitbegriffes
§ 78. Die Unvollständigkeit der vorstehenden zeitlichen
Analyse
des Daseins
Zum Erweis dessen, daß und wie Zeitlichkeit das Sein des
Daseins konstituiert, wurde gezeigt: Geschichtlichkeit als
Seins-
verfassung der Existenz ist »im Grunde« Zeitlichkeit. Die
Inter-
pretation des zeitlichen Charakters der Geschichte vollzog
sich
ohne Rücksicht auf die »Tatsache«, daß alles Geschehen »in
der
Zeit« verläuft. Dem alltäglichen Daseinsverständnis, das
faktisch
alle Geschichte nur als »innerzeitiges« Geschehen kennt,
blieb im
Verlauf der existenzial-zeitlichen Analyse der Geschichtlichkeit
das Wort entzogen. Wenn die existenziale Analytik das Dasein
gerade in seiner Faktizität ontologisch durchsichtig machen
soll,
dann muß auch der faktischen »ontisch-zeitlichen« Auslegung
der Geschichte ausdrücklich ihr Recht zurückgegeben werden.
Der Zeit, »in der« Seiendes begegnet, gebührt um so
notwendiger
eine grundsätzliche Analyse, als außer der Geschichte auch
die
Naturvorgänge »durch die Zeit« bestimmt sind. Elementarer
jedoch als der Umstand, daß in den Wissenschaften von
Geschichte und Natur der »Zeitfaktor« vorkommt, ist das Fak-
tum, daß das Dasein schon vor aller thematischen Forschung
»mit der Zeit rechnet« und sich nach ihr richtet. Und hier
bleibt
wiederum das »Rechnen« des Daseins »mit seiner Zeit«
entschei-
dend, das allem Gebrauch von Meßzeug, das auf die
Zeitbestim-
mung zugeschnitten ist, vorausliegt. Jenes geht diesem
vorher und
macht so etwas wie den Gebrauch von Uhren allererst möglich.
Faktisch existierend »hat« das jeweilige Dasein »Zeit« oder
es
»hat keine«. Es »nimmt sich Zeit« oder »kann sich keine Zeit
lassen«. Warum nimmt sich das Dasein »Zeit« und warum kann
es sie »verlieren«? Woher nimmt es die Zeit? Wie verhält
sich
diese Zeit zur Zeitlichkeit des Daseins?
Das faktische Dasein trägt der Zeit Rechnung, ohne Zeitlich-
keit existenzial zu verstehen. Das elementare Verhalten des
Rech-
nens mit der Zeit bedarf der Aufklärung vor der Frage, was
es
heißt: Seiendes ist »in der Zeit«. Alles Verhalten des
Daseins soll
aus dessen Sein, 405
das heißt aus der Zeitlichkeit interpretiert werden. Es gilt
zu zei-
gen, wie das Dasein als Zeitlichkeit ein Verhalten zeitigt,
das sich
in der Weise zur Zeit verhält, daß es ihr Rechnung trägt.
Die
bisherige Charakteristik der Zeitlichkeit ist daher nicht
nur über-
haupt unvollständig, insofern nicht alle Dimensionen des
Phäno-
mens beachtet wurden, sondern sie ist grundsätzlich
lückenhaft,
weil zur Zeitlichkeit selbst so etwas wie Weltzeit im
strengen
Sinne des existenzial-zeitlichen Begriffes von Welt gehört.
Wie
das möglich und warum es notwendig ist, soll zum Verständnis
gebracht werden. Dadurch gewinnt die vulgär bekannte »Zeit«,
»in der« Seiendes vorkommt, und in eins damit die
Innerzeitig-
keit dieses Seienden eine Erhellung.
Das alltägliche, sich Zeit nehmende Dasein findet die Zeit
zunächst vor an dem innerweltlich begegnenden Zuhandenen und
Vorhandenen. Die so »erfahrene« Zeit versteht es im Horizont
des nächsten Seinsverständnisses, das heißt selbst als ein
irgend-
wie Vorhandenes. Wie und warum es zur Ausbildung des vulgä-
ren Zeitbegriffes kommt, verlangt eine Aufklärung aus der
zeit-
lich fundierten Seinsverfassung des zeitbesorgenden Daseins.
Der
vulgäre Zeitbegriff verdankt seine Herkunft einer
Nivellierung
der ursprünglichen Zeit. Der Nachweis dieses Ursprungs des
vulgären Zeitbegriffes wird zur Rechtfertigung der früher
vollzo-
genen Interpretation der Zeitlichkeit als ursprünglicher
Zeit.
In der Ausbildung des vulgären Zeitbegriffes zeigt sich ein
merkwürdiges Schwanken, ob der Zeit ein »subjektiver« oder
»objektiver« Charakter zugesprochen werden soll. Wo man sie
als an sich seiend auffaßt, wird sie gleichwohl vorzüglich
der
»Seele« zugewiesen. Und wo sie »bewußtseinsmäßigen« Charak-
ter hat, fungiert sie doch »objektiv«. In der
Zeitinterpretation
Hegels sind beide Möglichkeiten zu einer gewissen Aufhebung
gebracht. Hegel versucht, den Zusammenhang zwischen »Zeit«
und »Geist« zu bestimmen, um hieraus verständlich zu machen,
warum der Geist als Geschichte »in die Zeit fällt«. Im
Resultat
scheint die vorstehende Interpretation der Zeitlichkeit des
Daseins und der Zugehörigkeit der Weltzeit zu ihr mit Hegel
übereinzukommen. Weil aber die vorliegende Zeitanalyse
grund-
sätzlich sich schon im Ansatz von Hegel unterscheidet und
mit
ihrem Ziel, das heißt der fundamentalontologischen Absicht
gerade gegensätzlich zu ihm orientiert ist, kann eine kurze
Dar-
stellung der Hegelschen Auffassung der Beziehung zwischen
Zeit
und Geist dazu dienen, die existenzial-ontologische
Interpretation
der Zeitlichkeit des Daseins, der Weltzeit und des Ursprungs
des
vulgären Zeitbegriffes indirekt zu verdeutlichen und
vorläufig
abzuschließen. 406
Die Frage, ob und wie der Zeit ein »Sein« zukommt, warum
und in welchem Sinne wir sie »seiend« nennen, kann erst
beant-
wortet werden, wenn gezeigt ist, inwiefern die Zeitlichkeit
selbst
im Ganzen ihrer Zeitigung so etwas wie Seinsverständnis und
Ansprechen von Seiendem möglich macht. Als Gliederung des
Kapitels ergibt sich folgende: die Zeitlichkeit des Daseins
und das
Besorgen von Zeit (§ 79); die besorgte Zeit und die
Innerzeitig-
keit (§ 80); die Innerzeitigkeit und die Genesis des
vulgären Zeit-
begriffes (§ 81); die Abhebung des existenzial-ontologischen
Zusammenhanges von Zeitlichkeit, Dasein und Weltzeit gegen
Hegels Auffassung der Beziehung zwischen Zeit und Geist (§
82);
die existenzial-zeitliche Analytik des Daseins und die
fundamen-
talontologische Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt (§
83).
§ 79. Die Zeitlichkeit des Daseins und das Besorgen von Zeit
Das Dasein existiert als ein Seiendes, dem es in seinem Sein
um
dieses selbst geht. Wesenhaft ihm selbst vorweg, hat es sich
vor
aller bloßen und nachträglichen Betrachtung seiner selbst auf
sein
Seinkönnen entworfen. Im Entwurf ist es als geworfenes
enthüllt.
Geworfen der »Welt« überlassen, verfällt es besorgend an
sie. Als
Sorge, das heißt existierend in der Einheit des verfallend
gewor-
fenen Entwurfs, ist das Seiende als Da erschlossen.
Mitseiend mit
Anderen, hält es sich in einer durchschnittlichen
Ausgelegtheit,
die in der Rede artikuliert und in der Sprache ausgesprochen
ist.
Das In-der-Welt-sein hat sich schon immer ausgesprochen, und
als Sein beim innerweltlich begegnenden Seienden spricht es
sich
ständig im Ansprechen und Besprechen des Besorgten selbst
aus.
Das umsichtig verständige Besorgen gründet in der
Zeitlichkeit
und zwar im Modus des gewärtigend-behaltenden Gegenwärti-
gens. Als besorgendes Verrechnen, Planen, Vorsorgen und
Verhü-
ten sagt es immer schon, ob lautlich vernehmbar oder nicht:
»dann« – soll das geschehen, »zuvor« – jenes seine
Erledigung
finden, »jetzt« – das nachgeholt werden, was »damals«
mißlang
und entging.
Im »dann« spricht sich das Besorgen gewärtigend aus, behal-
tend im »damals« und gegenwärtigend im »jetzt«. Im »dann«
liegt meist unausdrücklich das »jetzt noch nicht«, das
heißt, es ist
gesprochen im gewärtigend-behaltenden, bzw. -vergessenden
Gegenwärtigen. Das »damals« birgt in sich das »jetzt nicht
mehr«. Mit ihm spricht sich das Behalten als gewärtigendes
Gegenwärtigen aus. Das »dann« und das »damals« sind mitver-
standen im Hinblick auf ein »jetzt«, das 407
heißt, das Gegenwärtigen hat ein eigentümliches Gewicht.
Zwar
zeitigt es sich immer in der Einheit mit Gewärtigung und
Behal-
ten, mögen diese auch zum ungewärtigenden Vergessen modifi-
ziert sein, in welchem Modus die Zeitlichkeit sich in die
Gegen-
wart verstrickt, die gegenwärtigend vornehmlich
»jetzt-jetzt«
sagt. Was das Besorgen als Nächstes gewärtigt, wird im
»sogleich« angesprochen, das zunächst verfügbar Gemachte
bzw.
Verlorene im »soeben«. Der Horizont des im »damals« sich
aus-
sprechenden Behaltens ist das »Früher«, der für die »dann«
das
»Späterhin« (»künftig«), der für die »jetzt« das »Heute«.
Jedes »dann« aber ist als solches ein »dann, wann...«, jedes
»damals« ein »damals, als...«, jedes »jetzt« ein »jetzt,
da...« . Wir
nennen diese scheinbar selbstverständliche Bezugsstruktur
der
»jetzt«, »damals« und »dann« die Datierbarkeit. Dabei muß
noch völlig davon abgesehen werden, ob sich die Datierung
fak-
tisch mit Rücksicht auf ein kalendarisches »Datum«
vollzieht.
Auch ohne solche »Daten« sind die »jetzt«, »dann« und
»damals« mehr oder minder bestimmt datiert. Wenn die
Bestimmtheit der Datierung ausbleibt, dann sagt das nicht,
die
Struktur der Datierbarkeit fehle oder sei zufällig.
Was ist das, dem solche Datierbarkeit wesenhaft zugehört,
und
worin gründet diese? Kann aber eine überflüssigere Frage
gestellt
werden als diese? Mit dem »jetzt, da...« meinen wir doch
»bekanntlich« einen »Zeitpunkt«. Das »jetzt« ist Zeit. Unbe-
streitbar verstehen wir das »jetzt – da«, »dann – wann«,
»damals
– als« in gewisser Weise auch, daß sie mit »der Zeit«
zusammen-
hängen. Daß dergleichen die »Zeit« selbst meint, wie das
möglich
ist, und was »Zeit« bedeutet, all das wird mit dem
»natürlichen«
Verstehen des »jetzt« usw. nicht auch schon begriffen. Ja,
ist es
denn selbstverständlich, daß wir so etwas wie »jetzt«,
»dann«
und »damals« »ohne weiteres verstehen« und
»natürlicherweise«
aussprechen? Woher nehmen wir denn diese »jetzt – da...«?
Haben wir dergleichen unter dem innerweltlichen Seienden,
dem
Vorhandenen gefunden? Offenbar nicht. Wurde es denn über-
haupt erst gefunden? Haben wir uns je aufgemacht, es zu
suchen
und festzustellen? »Jederzeit« verfügen wir darüber, ohne es
je
ausdrücklich übernommen zu haben, und ständig machen wir
Gebrauch davon, wenngleich nicht immer in einer Verlautba-
rung. Die trivialste, alltäglich hingesprochene Rede, zum
Beispiel:
»es ist kalt«, meint mit ein »jetzt, da...«. Warum spricht
das
Dasein im Ansprechen von Besorgtem, wenngleich meist ohne
Verlautbarung, ein »jetzt, da...«, »dann, wann...«, »damals,
als...« mit aus? Weil das auslegende Ansprechen von... sich
mit
ausspricht, das heißt das umsichtig ver- 408
stehende Sein bei Zuhandenem, das dieses entdeckend begegnen
läßt, und weil dieses sich mit auslegende Ansprechen und Be-
sprechen in einem Gegenwärtigen gründet und nur als dieses
möglich ist1.
Das gewärtigend-behaltende Gegenwärtigen legt sich aus. Und
das wiederum ist nur möglich, weil es – an ihm selbst
ekstatisch
offen – für es selbst je schon erschlossen und in der
verstehend-
redenden Auslegung artikulierbar ist. Weil die Zeitlichkeit
die
Gelichtetheit des Da ekstatisch-horizontal konstituiert,
deshalb
ist sie ursprünglich im Da schon immer auslegbar und somit
bekannt. Das sich auslegende Gegenwärtigen, das heißt das im
»jetzt« angesprochene Ausgelegte nennen wir »Zeit«. Darin
bekundet sich lediglich, daß die Zeitlichkeit, als
ekstatisch offene
kenntlich, zunächst und zumeist nur in dieser besorgenden
Aus-
gelegtheit bekannt ist. Die »unmittelbare« Verständlichkeit
und
Kenntlichkeit der Zeit schließt jedoch nicht aus, daß sowohl
die
ursprüngliche Zeitlichkeit als solche, wie auch der in ihr
sich
zeitigende Ursprung der ausgesprochenen Zeit unerkannt und
unbegriffen bleiben.
Daß zu dem mit dem »jetzt«, »dann« und »damals« Ausgeleg-
ten wesenhaft die Struktur der Datierbarkeit gehört, wird
zum
elementarsten Beweis für die Herkunft des Ausgelegten aus
der
sich auslegenden Zeitlichkeit. »Jetzt«-sagend verstehen wir
im-
mer auch schon, ohne es mitzusagen, ein » – da das und
das...«.
Weshalb denn? Weil das »jetzt« ein Gegenwärtigen von Seien-
dem auslegt. Im »jetzt, da...« liegt der ekstatische
Charakter der
Gegenwart. Die Datierbarkeit der »jetzt«, »dann« und
»damals«
ist der Widerschein der ekstatischen Verfassung der
Zeitlichkeit
und deshalb für die ausgesprochene Zeit selbst wesenhaft.
Die
Struktur der Datierbarkeit der »jetzt«, »dann« und »damals«
ist
der Beleg dafür, daß diese vom Stamme der Zeitlichkeit,
selbst
Zeit sind. Das auslegende Aussprechen der »jetzt«, »dann«
und
»damals« ist die ursprünglichste Zeitangabe. Und weil in der
ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit, die mit der
Datierbarkeit
unthematisch und als solche unkenntlich verstanden wird, je
schon das Dasein ihm selbst als In-der-Welt-sein erschlossen
und
in eins damit innerweltliches Seiendes entdeckt ist, hat die
ausge-
legte Zeit je auch schon eine Datierung aus dem in der
Erschlos-
senheit des Da begegnenden Seienden: jetzt, da – die Tür
schlägt;
jetzt, da – mir das Buch fehlt, und dergleichen.
Auf Grund desselben Ursprungs aus der ekstatischen Zeitlich-
keit haben auch die den »jetzt«, »dann« und »damals«
zugehöri-
gen Hori-
1 Vgl. § 33, S. 154 ff. 409
zonte den Charakter der Datierbarkeit als »Heute, wo...«,
»Späterhin, wann ...« und »Früher, da ...«.
Wenn das Gewärtigen, sich verstehend im »dann«, sich auslegt
und dabei als Gegenwärtigen das, dessen es gewärtig ist, aus
seinem »jetzt« versteht, dann liegt in der »Angabe« des
»dann«
schon das »und jetzt noch nicht«. Das gegenwärtigende
Gewärti-
gen versteht das »bis dahin«. Das Auslegen artikuliert
dieses »bis
dahin« – es nämlich »seine Zeit hat«, als das Inzwischen,
das
gleichfalls Datierbarkeitsbezug hat. Er kommt im »während
des-
sen ...« zum Ausdruck. Das Besorgen kann das »während«
selbst
wieder gewärtigend artikulieren durch weitere
»dann«-Angaben.
Das »bis dahin« wird eingeteilt durch eine Anzahl der »von
dann
– bis dann«, die im vorhinein aber im gewärtigenden Entwurf
des
primären »dann« »umgriffen« sind. Mit dem gewärtigend-ge-
genwärtigenden Verstehen des »während« wird das »Währen«
artikuliert. Dieses Dauern ist wiederum die im sich Auslegen
der
Zeitlichkeit offenbare Zeit, die so jeweilig als »Spanne«
unthema-
tisch im Besorgen verstanden wird. Das
gewärtigend-behaltende
Gegenwärtigen legt nur deshalb ein gespanntes »während«
»aus«, weil es dabei sich als die ekstatische Erstrecktheit
der
geschichtlichen Zeitlichkeit, wenngleich als solche
unerkannt,
erschlossen ist. Hierbei zeigt sich aber eine weitere
Eigentümlich-
keit der »angegebenen« Zeit. Nicht nur das »während« ist
gespannt, sondern jedes »jetzt«, »dann«, »damals« hat mit
der
Struktur der Datierbarkeit je eine Gespanntheit von
wechselnder
Spannweite: »jetzt«: in der Pause, beim Essen, am Abend, im
Sommer; »dann«: beim Frühstück, beim Aufstieg und derglei-
chen.
Das gewärtigend-behaltend-gegenwärtigende Besorgen »läßt
sich« so oder so Zeit und gibt sich diese besorgend an, auch
ohne
jede und vor aller spezifisch rechnenden Zeitbestimmung.
Hierbei
datiert sich die Zeit im jeweiligen Modus des besorgenden
Sich-
Zeit-lassens aus dem je gerade umweltlich Besorgten und im
befindlichen Verstehen Erschlossenen, aus dem, was man »den
Tag über« treibt. Je nachdem das Dasein gewärtigend im
Besorg-
ten aufgeht und, seiner selbst ungewärtig, sich vergißt,
bleibt
auch seine Zeit, die es sich »läßt«, durch diese Weise des
»Las-
sens« verdeckt. Gerade im alltäglich besorgenden
»Dahinleben«
versteht sich das Dasein nie als entlang laufend an einer
kontinu-
ierlich währenden Abfolge der puren »jetzt«. Die Zeit, die
sich
das Dasein läßt, hat auf Grund dieser Verdeckung gleichsam
Löcher. Oft bringen wir einen »Tag« nicht mehr zusammen,
wenn wir auf die »gebrauchte« Zeit zurückkommen. Dieses
Unzusam- 410
men der gelöcherten Zeit ist gleichwohl keine Zerstückelung,
sondern ein Modus der je schon erschlossenen, ekstatisch
erstreckten Zeitlichkeit. Die Weise, nach der die
»gelassene« Zeit
»verläuft«, und die Art, wie das Besorgen sie sich mehr oder
minder ausdrücklich angibt, lassen sich phänomenal nur ange-
messen explizieren, wenn einerseits die theoretische
»Vorstel-
lung« eines kontinuierlichen Jetzt-Flusses ferngehalten und
ande-
rerseits begriffen wird, daß die möglichen Weisen, in denen
das
Dasein sich Zeit gibt und läßt, primär daraus zu bestimmen
sind,
wie es der jeweiligen Existenz entsprechend seine Zeit
»hat«.
Früher wurde das eigentliche und uneigentliche Existieren
hin-
sichtlich der Modi der es fundierenden Zeitigung der
Zeitlichkeit
charakterisiert. Darnach zeitigt sich die Unentschlossenheit
der
uneigentlichen Existenz im Modus eines ungewärtigend-verges-
senden Gegenwärtigens. Der Unentschlossene versteht sich aus
den in solchem Gegenwärtigen begegnenden und wechselnd sich
andrängenden nächsten Begebenheiten und Zu-fällen. An das
Besorgte vielgeschäftig sich verlierend, verliert der
Unentschlos-
sene an es seine Zeit. Daher denn die für ihn
charakteristische
Rede: »ich habe keine Zeit«. So wie der uneigentlich
Existierende
ständig Zeit verliert und nie solche »hat«, so bleibt es die
Aus-
zeichnung der Zeitlichkeit eigentlicher Existenz, daß sie in
der
Entschlossenheit nie Zeit verliert und »immer Zeit hat«.
Denn die
Zeitlichkeit der Entschlossenheit hat bezüglich ihrer
Gegenwart
den Charakter des Augenblicks. Dessen eigentliches
Gegenwärti-
gen der Situation hat selbst nicht die Führung, sondern ist
in der
gewesenden Zukunft gehalten. Die augenblickliche Existenz
zei-
tigt sich als schicksalhaft ganze Erstrecktheit im Sinne der
eigent-
lichen, geschichtlichen Ständigkeit des Selbst. Die
dergestalt zeit-
liche Existenz hat »ständig« ihre Zeit für das, was die
Situation
von ihr verlangt. Die Entschlossenheit aber erschließt das
Da
dergestalt nur als Situation. Daher vermag dem
Entschlossenen
das Erschlossene nie so zu begegnen, daß er daran
unentschlossen
seine Zeit verlieren könnte.
Das faktisch geworfene Dasein kann sich nur Zeit »nehmen«
und solche verlieren, weil ihm als ekstatisch erstreckter
Zeitlich-
keit mit der in dieser gründenden Erschlossenheit des Da
eine
»Zeit« beschieden ist.
Als erschlossenes existiert das Dasein faktisch in der Weise
des
Mitseins mit Anderen. Es hält sich in einer öffentlichen,
durch-
schnittlichen Verständlichkeit. Die im alltäglichen
Miteinan-
dersein ausgelegten und ausgesprochenen »jetzt, da...«,
»dann,
wann ...« werden grundsätz- 411
lich verstanden, wenngleich sie nur in gewissen Grenzen
eindeutig
datiert sind. Im »nächsten« Miteinandersein können mehrere
»zusammen« »jetzt« sagen, wobei jeder das gesagte »jetzt«
ver-
schieden datiert: jetzt, da dieses oder jenes sich begibt.
Das ausge-
sprochene »jetzt« ist von jedem gesagt in der Öffentlichkeit
des
Miteinander-in-der-Welt-seins. Die ausgelegte,
ausgesprochene
Zeit des jeweiligen Daseins ist daher als solche auf dem
Grunde
seines ekstatischen In-der-Weltseins je auch schon
veröffentlicht.
Sofern nun das alltägliche Besorgen sich aus der besorgten
»Welt« her versteht, kennt es die »Zeit«, die es sich nimmt,
nicht
als seine, sondern besorgend nützt es die Zeit aus, die »es
gibt«,
mit der man rechnet. Die Öffentlichkeit der »Zeit« ist aber
um so
eindringlicher, je mehr das faktische Dasein die Zeit
ausdrücklich
besorgt, indem es ihr eigens Rechnung trägt.
§ 80. Die besorgte Zeit und die Innerzeitigkeit
Vorläufig galt es nur zu verstehen, wie das in der
Zeitlichkeit
gründende Dasein existierend Zeit besorgt und wie diese im
aus-
legenden Besorgen für das In-der-Welt-sein sich
veröffentlicht.
Dabei blieb noch völlig unbestimmt, in welchem Sinne die
ausge-
sprochene öffentliche Zeit »ist«, ob sie überhaupt als
seiend an-
gesprochen werden kann. Vor jeder Entscheidung darüber, ob
die
öffentliche Zeit »doch nur subjektiv« oder ob sie »objektiv
wirk-
lich« oder gar keines von beiden sei, muß der phänomenale
Cha-
rakter der öffentlichen Zeit allererst schärfer bestimmt werden.
Die Veröffentlichung der Zeit geschieht nicht nachträglich
und
gelegentlich. Weil vielmehr das Dasein als
ekstatisch-zeitliches je
schon erschlossen ist und zur Existenz verstehende Auslegung
gehört, hat sich im Besorgen auch schon Zeit veröffentlicht.
Man
richtet sich nach ihr, so daß sie irgendwie für Jedermann
vorfind-
lich sein muß.
Wenngleich sich das Besorgen der Zeit in der
charakterisierten
Weise der Datierung aus umweltlichen Begebenheiten
vollziehen
kann, so geschieht das doch im Grunde schon immer im Hori-
zont eines Besorgens der Zeit, das wir als astronomische und
kalendarische Zeitrechnung kennen. Sie kommt nicht zufällig
vor, sondern hat ihre existenzial-ontologische Notwendigkeit
in
der Grundverfassung des Daseins als Sorge. Weil das Dasein
wesensmäßig als geworfenes verfallend existiert, legt es
seine Zeit
in der Weise einer Zeitrechnung besorgend aus. In ihr
zeitigt sich
die »eigentliche« Veröffentlichung 412
der Zeit, sodaß gesagt werden muß: die Geworfenheit des
Daseins ist der Grund dafür, daß es öffentlich Zeit »gibt«.
Um
dem Nachweis des Ursprungs der öffentlichen Zeit aus der
fakti-
schen Zeitlichkeit die mögliche Verständlichkeit zu sichern,
muß-
ten wir zuvor die in der Zeitlichkeit des Besorgens
ausgelegte Zeit
überhaupt charakterisieren, schon allein um deutlich zu
machen,
daß das Wesen des Besorgens von Zeit nicht in der Anwendung
von zahlenmäßigen Bestimmungen bei der Datierung liegt. Das
existenzial-ontologisch Entscheidende der Zeitrechnung darf
daher auch nicht in der Quantifizierung der Zeit gesehen,
son-
dern muß ursprünglicher aus der Zeitlichkeit des mit der
Zeit
rechnenden Daseins begriffen werden.
Die »öffentliche Zeit« erweist sich als die Zeit, »in der«
inner-
weltlich Zuhandenes und Vorhandenes begegnet. Das fordert,
dieses nichtdaseinsmäßige Seiende innerzeitiges zu nennen.
Die
Interpretation der Innerzeitigkeit verschafft einen
ursprüngliche-
ren Einblick in das Wesen der »öffentlichen Zeit« und
ermöglicht
zugleich, ihr »Sein« zu umgrenzen.
Das Sein des Daseins ist die Sorge. Dieses Seiende existiert
als
Geworfenes verfallend. An die mit seinem faktischen Da ent-
deckte »Welt« überlassen und besorgend auf sie angewiesen,
ist
das Dasein seines In-der-Welt-seinkönnens dergestalt gewärtig,
daß es mit dem und auf das »rechnet«, womit es umwillen
dieses
Seinkönnens eine am Ende ausgezeichnete Bewandtnis hat. Das
alltägliche umsichtige In-der-Welt-sein bedarf der
Sichtmöglich-
keit, das heißt der Helle, um mit dem Zuhandenen innerhalb
des
Vorhandenen besorgend umgehen zu können. Mit der faktischen
Erschlossenheit seiner Welt ist, für das Dasein die Natur
ent-
deckt. In seiner Geworfenheit ist es dem Wechsel von Tag und
Nacht ausgeliefert. Jener gibt mit seiner Helle die mögliche
Sicht,
diese nimmt sie.
Umsichtig besorgend der Sichtmöglichkeit gewärtig, gibt sich
das Dasein, aus seinem Tagwerk sich verstehend, mit dem
»dann,
wann es tagt« seine Zeit. Das besorgte »dann« wird aus dem
datiert, was in einem nächsten umweltlichen Bewandtniszusam-
menhang mit dem Hellwerden steht: dem Auf gang der Sonne.
Dann, wann sie aufgeht, ist es Zeit zu... Das Dasein datiert
mit-
hin die Zeit, die es sich nehmen muß, aus dem, was im
Horizont
der Überlassenheit an die Welt innerhalb dieser begegnet als
etwas, womit es für das umsichtige In-der-Welt-seinkönnen
eine
ausgezeichnete Bewandtnis hat. Das Besorgen macht von dem
»Zuhandensein« der Licht und Wärme spendenden Sonne
Gebrauch. Die Sonne datiert die im Besorgen ausge- 413
legte Zeit. Aus dieser Datierung erwächst das »natürlichste«
Zeitmaß, der Tag. Und weil die Zeitlichkeit des Daseins, das
sich
seine Zeit nehmen muß, endlich ist, sind seine Tage auch
schon
gezählt. Das »während es Tag ist« gibt dem besorgenden
Gewär-
tigen die Möglichkeit, die »dann« des zu Besorgenden
vorsorgend
zu bestimmen, das heißt, den Tag einzuteilen. Die Einteilung
vollzieht sich wiederum mit Rücksicht auf das die Zeit
Datie-
rende: die wandernde Sonne. So wie Aufgang sind Niedergang
und Mittag ausgezeichnete »Plätze«, die das Gestirn
einnimmt.
Seinem regelmäßig wiederkehrenden Vorbeiziehen trägt das in
die Welt geworfene, zeitigend sich Zeit gebende Dasein Rech-
nung. Sein Geschehen ist auf Grund der aus der Geworfenheit
in
das Da vorgezeichneten datierenden Zeitauslegung ein tagtäg-
liches.
Diese aus dem Licht und Wärme spendenden Gestirn und sei-
nen ausgezeichneten »Plätzen« am Himmel her sich
vollziehende
Datierung ist eine im Miteinandersein »unter demselben Him-
mel« für »Jedermann« jederzeit und in gleicher Weise, in
gewis-
sen Grenzen zunächst einstimmig vollziehbare Zeitangabe. Das
Datierende ist umweltlich verfügbar und gleichwohl nicht auf
die
jeweilig besorgte Zeugwelt eingeschränkt. In dieser ist
vielmehr
schon immer die Umweltnatur und die öffentliche Umwelt mit-
entdeckt1. Auf diese öffentliche Datierung, in der jedermann
sich
seine Zeit angibt, kann jedermann zugleich »rechnen«, sie
gebraucht ein öffentlich verfügbares Maß. Diese Datierung
rech-
net mit der Zeit im Sinne einer Zeitmessung, die sonach
eines
Zeitmessers, das heißt einer Uhr bedarf. Darin liegt: mit
der Zeit-
lichkeit des geworfenen, der »Welt« überlassenen, sich
zeitgeben-
den Daseins ist auch schon so etwas wie »Uhr« entdeckt, das
heißt ein Zuhandenes, das in seiner regelmäßigen Wiederkehr
im
gewärtigenden Gegenwärtigen zugänglich geworden ist. Das
geworfene Sein bei Zuhandenem gründet in der Zeitlichkeit.
Sie
ist der Grund der Uhr. Als Bedingung der Möglichkeit der
fakti-
schen Notwendigkeit der Uhr bedingt die Zeitlichkeit
zugleich
deren Entdeckbarkeit; denn nur das gewärtigend-behaltende
Gegenwärtigen des mit der Entdecktheit des innerweltlich
Seien-
den begegnenden Sonnenlaufes ermöglicht und fordert zugleich
als sich auslegendes die Datierung aus dem öffentlich
umweltlich
Zuhandenen.
Die mit der faktischen Geworfenheit des in der Zeitlichkeit
gründenden Daseins je schon entdeckte »natürliche« Uhr moti-
viert erst
1 Vgl. § 15, S. 66 ff. 414
und ermöglicht zugleich Herstellung und Gebrauch von noch
handlicheren Uhren, so zwar, daß diese »künstlichen« auf
jene
»natürliche« »eingestellt« sein müssen, sollen sie die in
der
natürlichen Uhr primär entdeckte Zeit ihrerseits zugänglich
machen.
Bevor wir die Hauptzüge der Ausbildung der Zeitrechnung und
des Uhrgebrauches in ihrem existenzial-ontologischen Sinn
kenn-
zeichnen, soll zunächst die in der Zeitmessung besorgte Zeit
voll-
ständiger charakterisiert werden. Wenn die Zeitmessung die
besorgte Zeit erst »eigentlich« veröffentlicht, dann muß im
Ver-
folg dessen, wie sich in solcher »rechnenden« Datierung das
Datierte zeigt, die öffentliche Zeit phänomenal unverhüllt
zugänglich sein.
Die Datierung des im besorgenden Gewärtigen sich auslegen-
den »dann« schließt in sich: dann, wenn es tagt, ist es Zeit
zum
Tagwerk. Die im Besorgen ausgelegte Zeit ist je schon
verstanden
als Zeit zu... Das jeweilige »jetzt da dies und dies« ist
als solches
je geeignet und ungeeignet. Das »jetzt« – und so jeder Modus
der
ausgelegten Zeit – ist nicht nur ein »jetzt, da...«, sondern
als
dieses wesenhaft Datierbare zugleich wesenhaft durch die
Struk-
tur der Geeignetheit bzw. Ungeeignetheit bestimmt. Die
ausge-
legte Zeit hat von Hause aus den Charakter der »Zeit zu ...«
bzw. der »Unzeit für ...«. Das gewärtigend-behaltende
Gegenwär-
tigen des Besorgens versteht Zeit in einem Bezug auf ein
Wozu,
das seinerseits letztlich in einem Worumwillen des
Seinkönnens
des Daseins festgemacht ist. Die veröffentlichte Zeit
offenbart mit
diesem Um-zu-Bezug die Struktur, als welche wir früher1 die
Bedeutsamkeit kennen lernten. Sie konstituiert die
Weltlichkeit
der Welt. Die veröffentlichte Zeit hat als Zeit-zu ...
wesenhaft
Weltcharakter. Daher nennen wir die in der Zeitigung der
Zeit-
lichkeit sich veröffentlichende Zeit die Weltzeit. Und das
nicht
etwa, weil sie als innerweltliches Seiendes vorhanden ist,
was sie
nie sein kann, sondern weil sie zur Welt in dem
existenzial-onto-
logisch interpretierten Sinn gehört. Wie die wesentlichen
Bezüge
der Weltstruktur, zum Beispiel das »um-zu«, auf dem Grunde
der
ekstatisch-horizontalen Verfassung der Zeitlichkeit mit der
öffentlichen Zeit, zum Beispiel dem »dann-wann«, zusammen-
hängen, muß sich im folgenden zeigen. Jedenfalls läßt sich
jetzt
erst die besorgte Zeit struktural vollständig
charakterisieren: sie
ist datierbar, gespannt, öffentlich und gehört als so strukturierte
zur Welt selbst. Jedes natürlich-alltäglich ausgesprochene
»jetzt«
zum Beispiel hat diese Struktur und ist als solches, wenn-
1 Vgl. § 18, S. 83 ff. und § 69 c, S. 364 ff. 415
gleich unthematisch und vorbegrifflich, im besorgenden Sich-
Zeit-lassen des Daseins verstanden.
In der zum geworfen-verfallend existierenden Dasein gehören-
den Erschlossenheit der natürlichen Uhr liegt zugleich eine
ausge-
zeichnete, vom faktischen Dasein je schon vollzogene
Veröffent-
lichung der besorgten Zeit, die sich in der Vervollkommnung
der
Zeitrechnung und in der Verfeinerung des Uhrgebrauchs noch
steigert und verfestigt. Die geschichtliche Entwicklung der
Zeit-
rechnung und des Uhrgebrauchs soll hier nicht historisch in
ihren
möglichen Abwandlungen dargestellt werden. Vielmehr sei exi-
stenzial-ontologisch gefragt: welcher Modus der Zeitigung
der
Zeitlichkeit des Daseins wird an der Ausbildungsrichtung von
Zeitrechnung und Uhrgebrauch offenbar? Mit der Beantwortung
dieser Frage muß ein ursprünglicheres Verständnis davon
erwachsen, daß die Zeitmessung, das heißt zugleich die aus-
drückliche Veröffentlichung der besorgten Zeit, in der
Zeitlich-
keit des Daseins und zwar in einer ganz bestimmten Zeitigung
derselben gründet.
Wenn wir das »primitive« Dasein, das wir der Analyse der
»natürlichen« Zeitrechnung zugrunde legten, mit dem »fortge-
schrittenen« vergleichen, dann zeigt sich, daß für dieses
der Tag
und die Anwesenheit des Sonnenlichts keine vorzügliche Funk-
tion mehr besitzen, weil dieses Dasein den »Vorzug« hat,
auch
die Nacht zum Tag machen zu können. Imgleichen bedarf es für
die Zeitfeststellung nicht mehr eines ausdrücklichen,
unmittelba-
ren Blickes auf die Sonne und ihren Stand. Verfertigung und
Gebrauch von eigenem Meßzeug erlaubt, die Zeit an der eigens
dazu hergestellten Uhr direkt abzulesen. Das Wieviel-Uhr ist
das
»Wieviel-Zeit«. Wenngleich es der jeweiligen Zeitablesung
ver-
deckt bleiben mag, auch der Uhrzeuggebrauch gründet, weil
die
Uhr im Sinne der Ermöglichung einer öffentlichen
Zeitrechnung
auf die »natürliche« Uhr reguliert sein muß, in der
Zeitlichkeit
des Daseins, die mit der Erschlossenheit des Da allererst
eine
Datierung der besorgten Zeit ermöglicht. Das mit der
fortschrei-
tenden Naturentdeckung sich ausbildende Verständnis der
natür-
lichen Uhr gibt die Anweisung für neue Möglichkeiten der
Zeit-
messung, die relativ unabhängig sind vom Tag und der
jeweilig
ausdrücklichen Himmelsbeobachtung.
In gewisser Weise macht sich aber auch schon das »primitive«
Dasein unabhängig von einer direkten Ablesung der Zeit am
Himmel, sofern es nicht den Sonnenstand am Himmel
feststellt,
sondern den Schatten mißt, den ein jederzeit verfügbares
Seiendes
wirft. Das 416
kann zunächst in der einfachsten Form der antiken
»Bauernuhr«
geschehen. Im Schatten, der Jedermann ständig begleitet,
begeg-
net die Sonne hinsichtlich ihrer wechselnden Anwesenheit an
den
verschiedenen Plätzen. Die untertags verschiedenen
Schattenlän-
gen können »jederzeit« abgeschritten werden. Wenn auch die
Körper- und Fußlängen der Einzelnen verschieden sind, so
bleibt
doch das Verhältnis beider in gewissen Grenzen der
Genauigkeit
konstant. Die öffentliche Zeitbestimmung der besorgenden
Ver-
abredung zum Beispiel erhält dann die Form: »Wenn der Schat-
ten soviel Fuß lang ist, dann wollen wir uns dort treffen«.
Dabei
ist im Miteinandersein in den engeren Grenzen einer nächsten
Umwelt unausdrücklich die Gleichheit der Polhöhe des
»Ortes«,
an dem das Abschreiten des Schattens sich vollzieht,
vorausge-
setzt. Diese Uhr braucht das Dasein nicht einmal erst bei
sich zu
tragen, es ist sie in gewisser Weise selbst.
Die öffentliche Sonnenuhr, bei der sich ein Schattenstrich
ent-
gegengesetzt dem Lauf der Sonne auf einer bezifferten Bahn
bewegt, bedarf keiner weiteren Beschreibung. Aber warum
finden
wir jeweils an der Stelle, die der Schatten auf dem
Zifferblatt
einnimmt, so etwas wie Zeit? Weder der Schatten, noch die
ein-
geteilte Bahn ist die Zeit selbst und ebensowenig ihre
räumliche
Beziehung zu einander. Wo ist denn die Zeit die wir
dergestalt an
der »Sonnenuhr«, aber auch an jeder Taschenuhr direkt
ablesen?
Was bedeutet Zeitablesung? »Auf die Uhr sehen« kann doch
nicht nur besagen: das zuhandene Zeug in seiner Veränderung
betrachten und die Stellen des Zeigers verfolgen. Im
Uhrgebrauch
das Wieviel-Uhr feststellend, sagen wir, ob ausdrücklich
oder
nicht: jetzt ist es so und soviel, jetzt ist es Zeit zu...,
bzw. es hat
noch Zeit... nämlich jetzt, bis um... Das Auf-die-Uhr-sehen
grün-
det in einem und wird geführt von einem Sich-Zeit-nehmen.
Was
sich schon bei der elementarsten Zeitrechnung zeigte, wird
hier
deutlicher: das auf die Uhr sehende Sichrichten nach der
Zeit ist
wesenhaft ein Jetzt-sagen. Es ist so »selbstverständlich«,
daß wir
es garnicht beachten und noch weniger ausdrücklich darum
wis-
sen, daß hierbei das Jetzt je schon in seinem vollen
strukturalen
Bestände der Datierbarkeit, Gespanntheit, Öffentlichkeit und
Weltlichkeit verstanden und ausgelegt ist.
Das Jetzt-sagen aber ist die redende Artikulation eines
Gegen-
wärtigem, das in der Einheit mit einem behaltenden
Gewärtigen
sich zeitigt. Die im Uhrgebrauch sich vollziehende Datierung
erweist sich als ausgezeichnetes Gegenwärtigen eines
Vorhande-
nen. Die Datierung 417
nimmt nicht einfach auf ein Vorhandenes Bezug, sondern das
Bezugnehmen selbst hat den Charakter des Messens. Zwar kann
die Maßzahl unmittelbar abgelesen werden. Darin liegt
jedoch: es
wird ein Enthaltensein des Maßstabs in einer zu messenden
Strecke verstanden, das heißt das Wie-oft seiner Anwesenheit
in
ihr wird bestimmt. Das Messen konstituiert sich zeitlich im
Gegenwärtigen des anwesenden Maßstabes in der anwesenden
Strecke. Die in der Idee des Maßstabes liegende
Unveränderung
besagt, daß er jederzeit für jedermann in seiner
Beständigkeit
vorhanden sein muß. Messende Datierung der besorgten Zeit
legt
diese im gegenwärtigenden Hinblick auf Vorhandenes aus, das
als Maßstab und als Gemessenes nur in einem ausgezeichneten
Gegenwärtigen zugänglich wird. Weil in der messenden Datie-
rung das Gegenwärtigen von Anwesendem einen besonderen
Vorrang hat, spricht sich die messende Zeitablesung auf der
Uhr
auch in einem betonten Sinne mit dem Jetzt aus. In der
Zeitmes-
sung vollzieht sich daher eine Veröffentlichung der Zeit,
derge-
mäß diese jeweils und jederzeit für jedermann als »jetzt und
jetzt
und jetzt« begegnet. Diese »allgemein« an den Uhren
zugängliche
Zeit wird so gleichsam wie eine vorhandene
Jetztmannigfaltigkeit
vorgefunden, ohne daß die Zeitmessung thematisch auf die
Zeit
als solche gerichtet ist.
Weil die Zeitlichkeit des faktischen In-der-Welt-seins ur-
sprünglich die Raumerschließung ermöglicht und das räumliche
Dasein je aus einem entdeckten Dort sich ein daseinsmäßiges
Hier angewiesen hat, ist die in der Zeitlichkeit des Daseins
be-
sorgte Zeit hinsichtlich ihrer Datierbarkeit je an einen Ort
des
Daseins gebunden. Nicht die Zeit wird an einen Ort geknüpft,
sondern die Zeitlichkeit ist die Bedingung der Möglichkeit
dafür,
daß sich die Datierung an das Räumlichörtliche binden kann,
so
zwar, daß dieses als Maß für jedermann verbindlich ist. Die
Zeit
wird nicht erst mit dem Raum verkoppelt, sondern der
vermeint-
lich zu verkoppelnde »Raum« begegnet nur auf dem Grunde der
zeitbesorgenden Zeitlichkeit. Gemäß der Fundierung der Uhr
und
der Zeitrechnung in der Zeitlichkeit des Daseins, die dieses
Sei-
ende als geschichtliches konstituiert, läßt sich zeigen,
inwiefern
der Uhrgebrauch ontologisch selbst geschichtlich ist und
jede Uhr
als solche eine »Geschichte hat«1.
1 Auf das relativitätstheoretische Problem der Zeitmessung
ist hier
nicht einzugehen. Die Aufklärung der ontologischen
Fundamente dieser
Messung setzt schon eine Klärung der Weltzeit und der
Innerzeitigkeit
aus der Zeitlichkeit des Daseins und ebenso die Aufhellung
der
existenzial-zeitlichen 418
Die in der Zeitmessung veröffentlichte Zeit wird durch die
Datierung aus räumlichen Maßverhältnissen keineswegs zum
Raum. Ebensowenig ist das existenzial-ontologisch
Wesentliche
der Zeitmessung darin zu suchen, daß die datierte »Zeit« aus
Raumstrecken und dem Ortswechsel eines räumlichen Dinges
zahlenmäßig bestimmt wird. Vielmehr liegt das ontologisch
Ent-
scheidende in der spezifischen Gegenwärtigung, die Messung
ermöglicht. Die Datierung aus dem »räumlich« Vorhandenen ist
so wenig eine Verräumlichung der Zeit, daß diese
vermeintliche
Verräumlichung nichts anderes bedeutet als Gegenwärtigen des
in
jedem Jetzt für jeden vorhandenen Seienden in seiner
Anwesen-
heit. In der wesensnotwendig jetzt-sagenden Zeitmessung wird
über der Gewinnung des Maßes das Gemessene als solches
gleichsam vergessen, so daß außer Strecke und Zahl nichts zu
finden ist.
Je weniger das zeitbesorgende Dasein Zeit zu verlieren hat,
um
so »kostbarer« wird sie, um so handlicher muß auch die Uhr
sein. Nicht allein soll die Zeit »genauer« angegeben werden
kön-
nen, sondern das Zeitbestimmen selbst soll möglichst wenig
Zeit
in Anspruch nehmen und doch zugleich mit den Zeitangaben der
Anderen einstimmig sein.
Vorläufig galt es nur, überhaupt den »Zusammenhang« des
Uhrgebrauches mit der sich zeitnehmenden Zeitlichkeit
aufzuzei-
gen. So wie die konkrete Analyse der ausgebildeten
astronomi-
schen Zeitrechnung in die existenzial-ontologische
Interpretation
der Naturentdeckkung gehört, so läßt sich auch das Fundament
der kalendarischen historischen »Chronologie« nur innerhalb
des
Aufgabenkreises der existenzialen Analyse des historischen
Erkennens freilegen1.
1
Konstitution der Naturentdeckung und des zeitlichen Sinnes
von
Messung überhaupt voraus. Eine Axiomatik der physikalischen
Meßtechnik fußt auf diesen Untersuchungen und vermag
ihrerseits nie
das Zeitproblem als solches aufzurollen.
1 Als einen ersten Versuch der Interpretation der
chronologischen Zeit
und der »Geschichtszahl« vgl. die Freiburger Habilitationsvorlesung
des
Verf. (S.S. 1915): Der Zeitbegriff in der
Geschichtswissenschaft.
Veröffentlicht in der Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik
Bd. 161 (1916)
S. 173 ff. Die Zusammenhänge zwischen Geschichtszahl,
astronomisch
berechneter Weltzeit und der Zeitlichkeit und
Geschichtlichkeit des
Daseins bedürfen einer weitergehenden Untersuchung. – Vgl.
ferner: G.
Simmel, Das Problem der historischen Zeit. Philos. Vorträge
veröffentl.
von der Kantgesellschaft Nr. 12, 1916. – Die beiden
grundlegenden
Werke über die Ausbildung der historischen Chronologie sind:
Josephus
Justus Scaliger,
De emendatione temporum 1583 und Dionysius Petavim
S. J., Opus de
doctrina temporum 419
Die Zeitmessung vollzieht eine ausgeprägte Veröffentlichung
der Zeit, so daß auf diesem Wege erst das bekannt wird, was
wir
gemeinhin »die Zeit« nennen. Im Besorgen wird jedem Ding
»seine Zeit« zugesprochen. Es »hat« sie und kann sie wie
jedes
innerweltliche Seiende nur »haben«, weil es überhaupt »in
der
Zeit« ist. Die Zeit, »worinnen« innerweltliches Seiendes
begeg-
net, kennen wir als die Weltzeit. Diese hat auf dem Grunde
der
ekstatisch-horizontalen Verfassung der Zeitlichkeit, der sie
zuge-
hört, dieselbe Transzendenz wie die Welt. Mit der
Erschlossen-
heit von Welt ist Weltzeit veröffentlicht, so daß jedes
zeitlich
besorgende Sein bei innerweltlichem Seienden dieses als »in
der
Zeit« begegnendes umsichtig versteht.
Die Zeit, »in der« Vorhandenes sich bewegt und ruht, ist
nicht
»objektiv«, wenn damit das An-sich-vorhanden-sein des inner-
weltlich begegnenden Seienden gemeint wird. Aber ebensowenig
ist die Zeit »subjektiv«, wenn wir darunter das
Vorhandensein
und Vorkommen in einem »Subjekt« verstehen. Die Weltzeit ist
»objektiver« als jedes mögliche Objekt, weil sie als
Bedingung
der Möglichkeit des innerweltlich Seienden mit der
Erschlossen-
heit von Welt je schon ekstatisch-horizontal »objiciert«
wird. Die
Weltzeit wird daher auch, entgegen der Meinung Kants, am
Phy-
sischen ebenso unmittelbar vorgefunden wie am Psychischen
und
dort nicht erst auf dem Umweg über dieses. Zunächst zeigt
sich
»die Zeit« gerade am Himmel, das heißt dort, wo man sie, im
natürlichen Sich-richten nach ihr, vorfindet, so daß »die
Zeit«
sogar mit dem Himmel identifiziert wird.
Die Weltzeit ist aber auch »subjektiver« als jedes mögliche
Subjekt, weil sie im wohlverstandenen Sinne der Sorge als
des
Seins des faktisch existierenden Selbst dieses Sein erst mit
möglich
macht. »Die Zeit« ist weder im »Subjekt« noch im »Objekt«
vorhanden, weder »innen« noch »außen« und »ist« »früher« als
jede Subjektivität und Objektivität, weil sie die Bedingung
der
Möglichkeit selbst für dieses »früher« darstellt. Hat sie
denn
überhaupt ein »Sein«? Und wenn nicht, ist sie dann ein
Phantom
oder »seiender« als jedes mögliche Seiende? Die in der
Richtung
solcher Fragen weitergehende Unter-1
1627. – Über die antike Zeitrechnung vgl. G. Bilfinger, Die
antiken
Stundenangaben 1888. Der bürgerliche Tag. Untersuchungen
über den
Beginn des Kalendertages im klassischen Altertum und im
christlichen
Mittelalter 1888. – H. Diels, Antike Technik. 2. Aufl. 1920,
S. 155-232
ff. Die antike Uhr. – Über die neuere Chronologie handelt
Fr. Rühl,
Chronologie des Mittelalters und der Neuzeit 1897. 420
suchung wird an dieselbe »Grenze« stoßen, die sich schon für
die
vorläufige Erörterung des Zusammenhangs von Wahrheit und
Sein aufrichtete1. Wie immer diese Fragen im folgenden
beantwortet, bzw. allererst ursprünglich gestellt werden
mögen,
zunächst gilt es zu verstehen, daß die Zeitlichkeit als
ekstatisch-
horizontale so etwas wie Weltzeit zeitigt, die eine
Innerzeitigkeit
des Zuhandenen und Vorhandenen konstituiert. Dieses Seiende
kann dann aber im strengen Sinne nie »zeitlich« genannt
werden.
Es ist wie jedes nichtdaseinsmäßige Seiende unzeitlich, mag
es
real vorkommen, entstehen und vergehen oder »ideal«
bestehen.
Wenn sonach die Weltzeit zur Zeitigung der Zeitlichkeit
gehört, dann kann sie weder »subjektivistisch« verflüchtigt,
noch
in einer schlechten »Objektivierung« »verdinglicht« werden.
Beides wird nur dann aus klarer Einsicht und nicht lediglich
auf
Grund eines unsicheren Schwankens zwischen beiden Möglich-
keiten vermieden, wenn sich verstehen läßt, wie das
alltägliche
Dasein aus seinem nächsten Zeitverständnis »die Zeit«
theore-
tisch begreift und inwiefern ihm dieser Zeitbegriff und
dessen
Herrschaft die Möglichkeit verbaut, das in ihm Gemeinte aus
der
ursprünglichen Zeit, das heißt als Zeitlichkeit zu
verstehen. Das
alltägliche, sich Zeit gebende Besorgen findet »die Zeit« am
innerweltlichen Seienden, das »in der Zeit« begegnet. Daher
muß
die Aufhellung der Genesis des vulgären Zeitbegriffes ihren
Aus-
gang bei der Innerzeitigkeit nehmen.
§ 81. Die Innerzeitigkeit und die Genesis des vulgären
Zeitbegriffes
Wie zeigt sich für das alltägliche, umsichtige Besorgen
zunächst
so etwas wie »Zeit«? In welchem besorgenden, zeuggebrauchen-
den Umgang wird sie ausdrücklich zugänglich? Wenn mit der
Erschlossenheit von Welt Zeit veröffentlicht und mit der zur
Erschlossenheit von Welt gehörigen Entdecktheit des
innerweltli-
chen Seienden immer auch schon besorgt ist, sofern das
Dasein
mit sich rechnend Zeit berechnet, dann liegt das Verhalten,
in
dem »man« sich ausdrücklich nach der Zeit richtet, im Uhr-
gebrauch. Dessen existenzial-zeitlicher Sinn erweist sich
als ein
Gegenwärtigen des wandernden Zeigers. Das gegenwärtigende
Verfolgen der Zeigerstellen zählt. Dieses Gegenwärtigen
zeitigt
sich in der ekstatischen Einheit eines gewärtigenden
Behaltens,
Ge-
1 Vgl. § 44 c, S. 226 ff. 421
genwärtigend das »damals« behalten, bedeutet: jetzt-sagend
offen
sein für den Horizont des Früher, das heißt des
Jetzt-nicht-mehr.
Gegenwärtigend das »dann« gewärtigen, besagt: jetzt-sagend
offen sein für den Horizont des Später, das heißt des
Jetzt-noch-
nicht. Das in solchem Gegenwärtigen sich Zeigende ist die
Zeit.
Wie lautet demnach die Definition der im Horizont des
umsichti-
gen, sich Zeit nehmenden, besorgenden Uhrgebrauchs
offenbaren
Zeit? Sie ist das im gegenwärtigenden, zählenden Verfolg des
wandernden Zeigers sich zeigende Gezählte, so zwar, daß sich
das Gegenwärtigen in der ekstatischen Einheit mit dem nach
dem
Früher und Später horizontal offenen Behalten und Gewärtigen
zeitigt. Das ist aber nichts anderes als die
existenzial-ontologische
Auslegung der Definition, die Aristoteles von der Zeit gibt:
toàto
g£r œstin Ð crÒnoj, ¢riqmÕj kin?sewj kat¦ tÕ prÒteron kai
Ûsteron.
»Das nämlich ist die Zeit, das Gezählte an der im Horizont
des
Früher und Später begegnenden Bewegung«1. So fremdartig
diese
Definition auf den ersten Blick anmuten mag, so »selbstverständ-
lich« ist sie und echt geschöpft, wenn der
existenzial-ontologische
Horizont umgrenzt wird, aus dem sie Aristoteles genommen.
Der
Ursprung der so offenbaren Zeit wird für Aristoteles nicht
Prob-
lem. Seine Interpretation der Zeit bewegt sich vielmehr in
der
Richtung des »natürlichen« Seinsverständnisses. Weil dieses
selbst jedoch und das in ihm verstandene Sein durch die
vorlie-
gende Untersuchung grundsätzlich zum Problem gemacht wird,
kann erst nach der Auflösung der Seinsfrage die Aristotelische
Zeitanalyse thematisch interpretiert werden, so zwar, daß
sie eine
grundsätzliche Bedeutung für die positive Zueignung der
kritisch
begrenzten Fragestellung der antiken Ontologie überhaupt
gewinnt2.
Alle nachkommende Erörterung des Begriffes der Zeit hält
sich
grundsätzlich an die Aristotelische Definition, das heißt,
sie
macht die Zeit dergestalt zum Thema, wie sie sich im
umsichtigen
Besorgen zeigt. Die Zeit ist das »Gezählte«, das ist das im
Gegenwärtigen des wandernden Zeigers (bzw. Schattens) Ausge-
sprochene und, wenngleich unthematisch, Gemeinte. Gesagt
wird
in der Gegenwärtigung des Bewegten in seiner Bewegung:
»jetzt
hier, jetzt hier u. s. f.« Das Gezählte sind die Jetzt. Und
diese
zeigen sich »in jedem Jetzt« als »sogleich-nicht-mehr...«
und
»eben-noch-nicht-jetzt«. Wir nennen die in solcher Weise im
Uhrgebrauch »gesichtete« Weltzeit die Jetzt-Zeit.
1 Vgl. Physik, A 11, 219b 1 sq.
2 Vgl. § 6, S. 19-27. 422
Je »natürlicher« das sich zeitgebende Besorgen mit der Zeit
rechnet, umso weniger hält es sich bei der ausgesprochenen
Zeit
als solcher auf, sondern es ist an das besorgte Zeug
verloren, das
je seine Zeit hat. Je «natürlicher», das heißt je weniger
thema-
tisch auf die Zeit als solche gerichtet das Besorgen die
Zeit
bestimmt und angibt, umso mehr sagt das gegenwärtigend-ver-
fallende Sein beim Besorgten kurzerhand ob mit oder ohne
Ver-
lautbarung: jetzt, dann, damals. Und so zeigt sich denn für
das
vulgäre Zeitverständnis die Zeit als eine Folge von stän-
dig»vorhandenen«, zugleich vergehenden und ankommenden
Jetzt. Die Zeit wird als ein Nacheinander verstanden, als
»Fluß«
der Jetzt, als »Lauf der Zeit«. Was liegt in dieser
Auslegung der
besorgten Weltzeit?
Wir erhalten die Antwort, wenn wir auf die volle
Wesensstruk-
tur der Weltzeit zurückgehen und mit ihr das vergleichen,
was
das vulgäre Zeitverständnis kennt. Als erstes Wesensmoment
der
besorgten Zeit wurde die Datierbarkeit herausgestellt. Sie
grün-
det in der ekstatischen Verfassung der Zeitlichkeit. Das
»Jetzt«
ist wesenhaft Jetzt-da... Das im Besorgen verstandene,
wenngleich
nicht als solches erfaßte, datierbare Jetzt ist je ein
geeignetes,
bzw. ungeeignetes. Zur Jetztstruktur gehört die Bedeutsamkeit.
Daher nannten wir die besorgte Zeit Weltzeit. In der
vulgären
Auslegung der Zeit als Jetztfolge fehlt sowohl die
Datierbarkeit
als auch die Bedeutsamkeit. Die Charakteristik der Zeit als
pures
Nacheinander läßt beide Strukturen nicht »zum Vorschein kom-
men«. Die vulgäre Zeitauslegung verdeckt sie. Die
ekstatisch-
horizontale Verfassung der Zeitlichkeit, in der
Datierbarkeit und
Bedeutsamkeit des Jetzt gründen, wird durch diese Verdeckung
nivelliert. Die Jetzt sind gleichsam um diese Bezüge beschnitten
und reihen sich als so beschnittene aneinander lediglich an,
um
das Nacheinander auszumachen.
Diese nivellierende Verdeckung der Weltzeit, die das vulgäre
Zeitverständnis vollzieht, ist nicht zufällig. Sondern
gerade weil
die alltägliche Zeitauslegung sich einzig in der
Blickrichtung der
besorgenden Verständigkeit hält und nur versteht, was in
deren
Horizont sich »zeigt«, müssen ihr diese Strukturen entgehen.
Das
in der besorgenden Zeitmessung Gezählte, das Jetzt, wird im
Besorgen des Zuhandenen und Vorhandenen mitverstanden.
Sofern nun dieses Zeitbesorgen auf die mitverstandene Zeit
selbst
zurückkommt und sie »betrachtet«, sieht es die Jetzt, die ja
auch
irgendwie »da« sind, im Horizont des Seinsverständnisses,
von
dem dieses Besorgen selbst ständig 423
geleitet wird1. Die Jetzt sind daher auch in gewisser Weise
mitvorhanden: das heißt, das Seiende begegnet und auch das
Jetzt. Obzwar nicht ausdrücklich gesagt wird, die Jetzt
seien vor-
handen wie die Dinge, so werden sie ontologisch doch im
Hori-
zont der Idee von Vorhandenheit »gesehen«. Die Jetzt
vergehen,
und die vergangenen machen die Vergangenheit aus. Die Jetzt
kommen an, und die ankünftigen umgrenzen die »Zukunft«. Die
vulgäre Interpretation der Weltzeit als Jetzt-Zeit verfügt
garnicht
über den Horizont, um so etwas wie Welt, Bedeutsamkeit,
Datierbarkeit sich zugänglich machen zu können. Diese
Struktu-
ren bleiben notwendig verdeckt, umso mehr, als die vulgäre
Zeit-
auslegung diese Verdeckung noch verfestigt durch die Art, in
der
sie ihre Zeitcharakteristik begrifflich ausbildet.
Die Jetztfolge wird als ein irgendwie Vorhandenes aufgefaßt;
denn sie rückt selbst »in die Zeit«. Wir sagen: in jedem
Jetzt ist
Jetzt, in jedem Jetzt verschwindet es auch schon. In jedem
Jetzt ist
das Jetzt Jetzt, mithin ständig als Selbiges anwesend, mag
auch in
jedem Jetzt je ein anderes ankommend verschwinden. Als
dieses
Wechselnde zeigt es doch zugleich die ständige Anwesenheit
sei-
ner selbst, daher denn schon Platon bei dieser Blickrichtung
auf
die Zeit als entstehend-vergehende Jetztfolge die Zeit das
Abbild
der Ewigkeit nennen mußte: e=kë d' œpenÒei kinhtÒn tina
a=înoj
poiÁsai, kap diakosmîn ¤ma oÝranÕn poiev m?nontoj a=înojœn
Œnp
kat' ¢riqmÕn =oàsan ¢iènion e=kÒna, toàton d¾ crÒnon
çnom®kamen2.
Die Jetztfolge ist ununterbrochen und lückenlos. So »weit«
wir
auch im »Teilen« des Jetzt vordringen, es ist immer noch
Jetzt.
Man sieht die Stetigkeit der Zeit im Horizont eines
unauflösbaren
Vorhandenen. In der ontologischen Orientierung an einem
stän-
dig Vorhandenen sucht man das Problem der Kontinuität der
Zeit, bzw. man läßt hier die Aporie stehen. Dabei muß die
spezi-
fische Struktur der Weltzeit, da sie in eins mit der
ekstatisch fun-
dierten Datierbarkeit gespannt ist, verdeckt bleiben. Die
Gespanntheit der Zeit wird nicht aus der horizontalen
Erstreckt-
heit der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit verstanden,
die sich
im Zeitbesorgen veröffentlicht hat. Daß in jedem noch so
momentanen Jetzt je schon Jetzt ist, muß aus dem noch
»Frühe-
ren« begriffen werden, dem jedes Jetzt entstammt: aus der
eksta-
tischen Erstrecktheit der Zeitlichkeit, die jeder
Kontinuität
1 Vgl. § 21, bes. S. 100 f.
2 Vgl. Timaeus 37 d. 424
eines Vorhandenen fremd ist, ihrerseits aber die Bedingung
der
Möglichkeit des Zuganges zu einem vorhandenen Stetigen dar-
stellt.
Am eindringlichsten offenbart die Hauptthese der vulgären
Zeitinterpretation, daß die Zeit »unendlich« sei, die in
solcher
Auslegung liegende Nivellierung und Verdeckung der Weltzeit
und damit der Zeitlichkeit überhaupt. Die Zeit gibt sich
zunächst
als ununterbrochene Abfolge der Jetzt. Jedes Jetzt ist auch
schon
ein Soeben bzw. Sofort. Hält sich die Zeitcharakteristik
primär
und ausschließlich an diese Folge, dann läßt sich in ihr als
solcher
grundsätzlich kein Anfang und kein Ende finden. Jedes letzte
Jetzt ist als Jetzt je immer schon ein Sofort-nicht-mehr,
also Zeit
im Sinne des Nicht-mehr-jetzt, der Vergangenheit; jedes
erste
Jetzt ist je ein Soeben-noch-nicht, mithin Zeit im Sinne des
Noch-
nicht-jetzt, der »Zukunft«. Die Zeit ist daher »nach beiden
Sei-
ten« hin endlos. Diese Zeitthese wird nur möglich auf Grund
der
Orientierung an einem freischwebenden An-sich eines
vorhande-
nen jetzt-Ablaufs, wobei das volle Jetztphänomen
hinsichtlich der
Datierbarkeit, Weltlichkeit, Gespanntheit und daseinsmäßigen
Örtlichkeit verdeckt und zu einem unkenntlichen Fragment
herabgesunken ist. »Denkt man« in der Blickrichtung auf Vor-
handensein und Nichtvorhandensein die Jetztfolge »zu Ende«,
dann läßt sich nie ein Ende finden. Daraus, daß dieses zu
Ende
Denken der Zeit je immer noch Zeit denken muß, folgert man,
die Zeit sei unendlich.
Worin gründet aber diese Nivellierung der Weltzeit und Ver-
deckung der Zeitlichkeit? Im Sein des Daseins selbst, das
wir
vorbereitend als Sorge interpretierten1. Geworfen-verfallend
ist
das Dasein zunächst und zumeist an das Besorgte verloren. In
dieser Verlorenheit aber bekundet sich die verdeckende
Flucht
des Daseins vor seiner eigentlichen Existenz, die als
vorlaufende
Entschlossenheit gekennzeichnet wurde. In der besorgten Flucht
liegt die Flucht vor dem Tode, das heißt ein Wegsehen von
dem
Ende des In-der-Welt-seins2. Dieses Wegsehen von... ist an
ihm
selbst ein Modus des ekstatisch zukünftigen Seins zum Ende.
Die
uneigentliche Zeitlichkeit des verfallend-alltäglichen Daseins
muß
als solches Wegsehen von der Endlichkeit die eigentliche
Zukünf-
tigkeit und damit die Zeitlichkeit überhaupt verkennen. Und
wenn gar das vulgäre Daseinsverständnis vom Man geleitet
wird,
dann kann sich die selbstvergessene »Vorstellung« von der
»Un-
endlichkeit« der öffentlichen Zeit allererst verfestigen.
Das Man
stirbt nie, weil es nicht sterben kann, sofern der Tod je
mei-
1 Vgl. § 41, S.
191 ff.
2 Vgl. § 51, S.
252 ff. 425
ner ist und eigentlich nur in der vorlaufenden
Entschlossenheit
existenziell verstanden wird. Das Man, das nie stirbt und
das Sein
zum Ende mißversteht, gibt gleichwohl der Flucht vor dem
Tode
eine charakteristische Auslegung. Bis zum Ende »hat es immer
noch Zeit«. Hier bekundet sich ein Zeit-haben im Sinne des
Ver-
lierenkönnens: »jetzt erst noch das, dann das, und nur noch
das
und dann...« Hier wird nicht etwa die Endlichkeit der Zeit
ver-
standen, sondern umgekehrt, das Besorgen geht darauf aus,
von
der Zeit, die noch kommt und »weitergeht«, möglichst viel zu
erraffen. Die Zeit ist öffentlich etwas, was sich jeder
nimmt und
nehmen kann. Die nivellierte Jetztfolge bleibt völlig
unkenntlich
bezüglich ihrer Herkunft aus der Zeitlichkeit des einzelnen
Daseins im alltäglichen Miteinander. Wie soll das auch »die
Zeit« im mindesten in ihrem Gang berühren, wenn ein »in der
Zeit« vorhandener Mensch nicht mehr existiert? Die Zeit geht
weiter, wie sie doch auch schon »war«, als ein Mensch »ins
Leben trat«. Man kennt nur die öffentliche Zeit, die,
nivelliert,
jedermann und das heißt niemandem gehört.
Allein so wie auch im Ausweichen vor dem Tode dieser dem
Fliehenden nachfolgt und er ihn im Sichabwenden doch gerade
sehen muß, so legt sich auch die lediglich ablaufende,
harmlose,
unendliche Folge der Jetzt doch in einer merkwürdigen
Rätselhaf-
tigkeit »über« das Dasein. Warum sagen wir: die Zeit vergeht
und nicht ebenso betont: sie entsteht? Im Hinblick auf die
reine
Jetztfolge kann doch beides mit dem gleichen Recht gesagt
wer-
den. In der Rede vom Vergehen der Zeit versteht am Ende das
Dasein mehr von der Zeit, als es wahrhaben möchte, das heißt
die Zeitlichkeit, in der sich die Weltzeit zeitigt, ist bei
aller Ver-
deckung nicht völlig verschlossen. Die Rede vom Vergehen der
Zeit gibt der »Erfahrung« Ausdruck: sie läßt sich nicht
halten.
Diese »Erfahrung« ist wiederum nur möglich auf dem Grunde
eines Haltenwollens der Zeit. Hierin liegt ein
uneigentliches
Gewärtigen der »Augenblicke«, das die entgleitenden auch
schon
vergißt. Das gegenwärtigend-vergessende Gewärtigen der un-
eigentlichen Existenz ist die Bedingung der Möglichkeit der
vul-
gären Erfahrung eines Vergehens der Zeit. Weil das Dasein im
Sichvorweg zukünftig ist, muß es gewärtigend die Jetztfolge
als
eine entgleitend-vergehende verstehen. Das Dasein kennt die
flüchtige Zeit aus dem »flüchtigen« Wissen um seinen Tod. In
der betonten Rede vom Vergehen der Zeit liegt der
öffentliche
Widerschein der endlichen Zukünftigkeit der Zeitlichkeit des
Daseins. Und weil der Tod sogar in der Rede vom Vergehen der
Zeit verdeckt bleiben kann, zeigt sich die Zeit als ein
Vergehen
»an sich«. 426
Aber selbst noch an dieser an sich vergehenden, reinen
Jetzt-
folge offenbart sich durch alle Nivellierung und Verdeckung
hin-
durch die ursprüngliche Zeit. Die vulgäre Auslegung bestimmt
den Zeitfluß als ein nichtumkehrbares Nacheinander. Warum
läßt sich die Zeit nicht umkehren? An sich ist, und gerade
im
ausschließlichen Blick auf den Jetztfluß, nicht einzusehen,
warum
die Abfolge der Jetzt sich nicht einmal wieder in der
umgekehrten
Richtung einstellen soll. Die Unmöglichkeit der Umkehr hat
ihren
Grund in der Herkunft der öffentlichen Zeit aus der
Zeitlichkeit,
deren Zeitigung, primär zukünftig, ekstatisch zu ihrem Ende
»geht«, so zwar, daß sie schon zum Ende »ist«.
Die vulgäre Charakteristik der Zeit als einer endlosen,
verge-
henden, nichtumkehrbaren Jetztfolge entspringt der
Zeitlichkeit
des verfallenden Daseins. Die vulgäre Zeitvorstellung hat
ihr
natürliches Recht. Sie gehört zur alltäglichen Seinsart des
Daseins
und zu dem zunächst herrschenden Seinsverständnis. Daher
wird
auch zunächst und zumeist die Geschichte öffentlich als
innerzei-
tiges Geschehen verstanden. Diese Zeitauslegung verliert nur
ihr
ausschließliches und vorzügliches Recht, wenn sie
beansprucht,
den »wahren« Begriff der Zeit zu vermitteln und der
Zeitinter-
pretation den einzig möglichen Horizont vorzeichnen zu können.
Vielmehr ergab sich: nur aus der Zeitlichkeit des Daseins
und
ihrer Zeitigung wird verständlich, warum und wie Weltzeit zu
ihr
gehört. Die Interpretation der aus der Zeitlichkeit
geschöpften
vollen Struktur der Weltzeit gibt erst den Leitfaden, die im
vulgä-
ren Zeitbegriff liegende Verdeckung überhaupt zu »sehen« und
die Nivellierung der ekstatisch-horizontalen Verfassung der
Zeit-
lichkeit abzuschätzen. Die Orientierung an der Zeitlichkeit
des
Daseins ermöglicht aber zugleich, die Herkunft und die
faktische
Notwendigkeit dieser nivellierenden Verdeckung aufzuweisen
und die vulgären Thesen über die Zeit auf ihren Rechtsgrund
zu
prüfen.
Dagegen bleibt umgekehrt die Zeitlichkeit im Horizont des
vulgären Zeitverständnisses unzugänglich. Weil aber die
Jetzt-
Zeit nicht nur in der Ordnung der möglichen Auslegung primär
auf die Zeitlichkeit orientiert werden muß, sondern sich
selbst
erst in der uneigentlichen Zeitlichkeit des Daseins zeitigt,
recht-
fertigt es sich mit Rücksicht auf die Abkunft der Jetzt-Zeit
aus
der Zeitlichkeit, diese als die ursprüngliche Zeit
anzusprechen.
Die ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit zeitigt sich primär
aus
der Zukunft. Das vulgäre Zeitverständnis hingegen sieht das
Grundphänomen der Zeit im Jetzt und zwar dem in seiner
vollen
Struktur be- 427
schnittenen, puren Jetzt, das man »Gegenwart« nennt. Hieraus
läßt sich abnehmen, daß es grundsätzlich aussichtslos
bleiben
muß, aus diesem Jetzt das zur eigentlichen Zeitlichkeit
gehörige
ekstatisch-horizontale Phänomen des Augenblicks aufzuklären
oder gar abzuleiten. Entsprechend decken sich nicht die
eksta-
tisch verstandene Zukunft, das datierbare, bedeutsame »Dann«
und der vulgäre Begriff der »Zukunft« im Sinne der noch
nicht
angekommenen und erst ankommenden puren Jetzt. Ebensowe-
nig fallen zusammen die ekstatische Gewesenheit, das
datierbare,
bedeutsame »Damals« und der Begriff der Vergangenheit im
Sinne der vergangenen puren Jetzt. Das Jetzt geht nicht
schwan-
ger mit dem Noch-nicht-jetzt, sondern die Gegenwart
entspringt
der Zukunft in der ursprünglichen ekstatischen Einheit der
Zeiti-
gung der Zeitlichkeit1.
Wenngleich die vulgäre Zeiterfahrung zunächst und zumeist
nur die »Weltzeit« kennt, so gibt sie ihr doch zugleich auch
im-
mer einen ausgezeichneten Bezug zu »Seele« und »Geist«. Und
das auch dort, wo eine ausdrückliche und primäre
Orientierung
des philosophischen Fragens auf das »Subjekt« noch
fernliegt.
Zwei charakteristische Belege dafür mögen genügen:
Aristoteles
sagt: e= de mhden ¤llo p?fken ¢riqmevn À yuc¾ kap yucÁj
noàj,
¢dÚnaton eƒnai crÒnon yucÁj m¾ oÜshj...2 Und Augustinus
schreibt: inde mihi visum est, nihil esse aliud tempus quam
distentionem; sed cuius rei nescio; et mirum si non ipsius
animi3.
So liegt denn auch die Interpretation des Daseins als
Zeitlichkeit
grundsätzlich nicht außerhalb des Horizonts des vulgären
Zeit-
begriffes. Und Hegel hat schon den ausdrücklichen Versuch
gemacht, den Zusammenhang der vulgär verstandenen Zeit mit
dem Geist herauszustellen, wogegen bei Kant die Zeit zwar
»subjektiv« ist, aber unverbunden »neben« dem »ich denke«
steht4. Hegels ausdrück-
1 Daß der traditionelle Begriff der Ewigkeit in der
Bedeutung des
»stehenden Jetzt« (nunc stans) aus dem vulgären
Zeitverständnis
geschöpft und in der Orientierung an der Idee der
»ständigen«
Vorhandenheit umgrenzt ist, bedarf keiner ausführlichen
Erörterung.
Wenn die Ewigkeit Gottes sich philosophisch »konstruieren«
ließe, dann
dürfte sie nur als ursprünglichere und »unendliche«
Zeitlichkeit
verstanden werden. Ob hierzu die via negationis et
eminentiae einen
möglichen Weg bieten könnte, bleibe dahingestellt.
2 Physik D
14, 223 a 25; vgl. l. c. 11, 218 b 29-219 a, 1, 219 a 4-6.
3 Confessiones lib. XI, cap. 26.
4 Inwiefern bei Kant andererseits doch ein radikaleres
Verständnis der
Zeit aufbricht als bei Hegel, zeigt der erste Abschnitt des
zweiten Teiles
dieser Abhandlung. 428
liche Begründung des Zusammenhangs zwischen Zeit und Geist
ist geeignet, die vorstehende Interpretation des Daseins als
Zeit-
lichkeit und die Aufweisung des Ursprungs der Weltzeit aus
ihr
indirekt zu verdeutlichen.
§ 82. Die Abhebung des existenzial-ontologischen Zusammen-
hangs von Zeitlichkeit, Dasein und Weltzeit gegen Hegels
Auffas-
sung der Beziehung zwischen Zeit und Geist
Die Geschichte, die wesenhaft solche des Geistes ist,
verläuft
»in der Zeit«. Also »fällt die Entwicklung der Geschichte in
die
Zeit«1. Hegel begnügt sich aber nicht damit, die
Innerzeitigkeit
des Geistes als ein Faktum hinzustellen, sondern er sucht
die
Möglichkeit dessen zu verstehen, daß der Geist in die Zeit
fällt,
die »das unsinnliche Sinnliche«2 ist. Die Zeit muß den Geist
gleichsam aufnehmen können. Und dieser wiederum muß der
Zeit und ihrem Wesen verwandt sein. Daher gilt es ein
Doppeltes
zu erörtern: 1. wie umgrenzt Hegel das Wesen der Zeit? 2.
was
gehört zum Wesen des Geistes, das ihm ermöglicht, »in die
Zeit
zu fallen«? Die Beantwortung dieser beiden Fragen dient
lediglich
einer abhebenden Verdeutlichung der vorstehenden Interpreta-
tion des Daseins als Zeitlichkeit. Sie erhebt auf eine auch
nur
relativ vollständige Behandlung der gerade bei Hegel
notwendig
mitschwingenden Probleme keinen Anspruch. Um so weniger, als
es ihr nicht beifällt, Hegel zu »kritisieren«. Die Abhebung
der
exponierten Idee der Zeitlichkeit gegen Hegels Zeitbegriff
legt
sich vor allem deshalb nahe, weil Hegels Zeitbegriff die
radikalste
und zu wenig beachtete begriffliche Ausformung des vulgären
Zeitverständnisses darstellt.
a) Hegels Begriff der Zeit
Der »systematische Ort«, an dem eine philosophische Zeitin-
terpretation durchgeführt wird, kann als Kriterium für die
dabei
leitende Grundauffassung der Zeit gelten. Die erste
überlieferte,
thematisch ausführliche Auslegung des vulgären
Zeitverständnis-
ses findet sich in der »Physik« des Aristoteles, das heißt
im
Zusammenhang einer Ontologie der Natur. »Zeit« steht mit
»Ort« und »Bewegung« zusammen.
1 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Einleitung in die
Philosophie
der Weltgeschichte. Herausg. v. G. Lasson, 1917, S. 133.
2 a. a. O. 429
Hegels Analyse der Zeit hat getreu der Überlieferung ihren
Ort
im zweiten Teil seiner »Enzyklopädie der philosophischen
Wis-
senschaften«, der den Titel trägt: Philosophie der Natur.
Die erste
Abteilung behandelt die Mechanik. Deren erster Abschnitt ist
der
Erörterung von »Raum und Zeit« gewidmet. Sie sind das
»abstrakte Außereinander«1.
Wenngleich Hegel Raum und Zeit zusammenstellt, so geschieht
das doch nicht lediglich in einer äußerlichen
Aneinanderreihung:
Raum »und auch Zeit«. »Dieses ‘auch’ bekämpft die Philoso-
phie.« Der Übergang vom Raum zur Zeit bedeutet nicht das
Aneinanderfügen der sie behandelnden Paragraphen, sondern
»der Raum selbst geht über«. Der Raum »ist« Zeit, das heißt
die
Zeit ist die »Wahrheit« des Raumes2. Wenn der Raum dialek-
tisch in dem gedacht wird, was er ist, so enthüllt sich
dieses Sein
des Raumes nach Hegel als Zeit. Wie muß der Raum gedacht
werden?
Der Raum ist »die vermittlungslose Gleichgültigkeit des
Außer-
sichseins der Natur«3. Das will sagen: der Raum ist die
abstrakte
Vielheit der in ihm unterscheidbaren Punkte. Durch diese
wird
der Raum nicht unterbrochen, er entsteht aber auch nicht
durch
sie und gar in der Weise einer Zusammenfügung. Der Raum
bleibt, unterschieden durch die unterscheidbaren Punkte, die
selbst Raum sind, seinerseits unterschiedslos. Die
Unterschiede
sind selbst vom Charakter dessen, was sie unterscheiden. Der
Punkt ist aber gleichwohl, sofern er überhaupt im Raum etwas
unterscheidet, Negation des Raumes, jedoch so, daß er als
diese
Negation (Punkt ist ja Raum) selbst im Raum bleibt. Der
Punkt
hebt sich nicht als ein Anderes als der Raum aus diesem
heraus.
Der Raum ist das unterschiedslose Außereinander der Punkt-
mannigfaltigkeit. Der Raum ist aber nicht etwa Punkt,
sondern,
wie Hegel sagt, »Punktualität«4. Hierauf gründet der Satz,
in
dem Hegel den Raum in seiner Wahrheit, das heißt als Zeit
denkt:
»Die Negativität, die sich als Punkt auf den Raum bezieht
und
in ihm ihre Bestimmungen als Linie und Fläche entwickelt,
ist
aber in der Sphäre des Außersichseins ebensowohl für sich
und
ihre Bestim-
1 Vgl. Hegel, Encyklopädie der philosophischen
Wissenschaften im
Grundrisse, Hrsg. v. G. Bolland, Leiden 1906, §§ 254 ff.
Diese Ausgabe
bringt auch die »Zusätze« aus den Vorlesungen Hegels.
2 a. a. O. § 257, Zusatz.
3 a. a. O. § 254.
4 a. a. O. § 254, Zusatz. 430
mungen darin, aber zugleich als in der Sphäre des
Außersichseins
setzend, dabei als gleichgültig gegen das ruhige
Nebeneinander
erscheinend. So für sich gesetzt, ist sie die Zeit«1.
Wird der Raum vorgestellt, das heißt im gleichgültigen
Beste-
hen seiner Unterschiede unmittelbar angeschaut, dann sind
die
Negationen gleichsam schlicht gegeben. Dieses Vorstellen
aber
erfaßt noch nicht den Raum in seinem Sein. Das ist nur
möglich
im Denken als der durch Thesis und Antithesis
hindurchgegange-
nen und sie aufhebenden Synthesis. Gedacht und somit in
seinem
Sein erfaßt wird der Raum erst dann, wenn die Negationen
nicht
einfach in ihrer Gleichgültigkeit bestehen bleiben, sondern
aufge-
hoben, das heißt selbst negiert werden. In der Negation der
Negation (das heißt der Punktualität) setzt sich der Punkt
für sich
und tritt damit aus der Gleichgültigkeit des Bestehens
heraus. Als
der für sich gesetzte unterscheidet er sich von diesem und
jenem,
er ist nicht mehr dieser und noch nicht jener. Mit dem
Sichsetzen
für sich selbst setzt er das Nacheinander, darin er steht,
die
Sphäre des Außersichseins, die nunmehr die der negierten
Nega-
tion ist. Die Aufhebung der Punktualität als Gleichgültigkeit
bedeutet ein Nichtmehrliegenbleiben in der »paralysierten
Ruhe«
des Raumes. Der Punkt »spreizt sich auf« gegenüber allen
ande-
ren Punkten. Diese Negation der Negation als Punktualität
ist
nach Hegel die Zeit. Soll diese Erörterung überhaupt einen
aus-
weisbaren Sinn haben, dann kann nichts anderes gemeint sein
als:
das Sichfürsichsetzen jedes Punktes ist ein Jetzt-hier,
Jetzt-hier
und so fort. Jeder Punkt »ist« für sich gesetzt Jetzt-Punkt.
»In der
Zeit hat der Punkt also Wirklichkeit.« Wodurch der Punkt je
als
dieser da sich für sich setzen kann, ist je ein Jetzt. Die
Bedingung
der Möglichkeit des Sich-für-Sich-setzens des Punktes ist
das
Jetzt. Diese Möglichkeitsbedingung macht das Sein des
Punktes
aus, und das Sein ist zugleich die Gedachtheit. Weil sonach
das
reine Denken der Punktualität, das heißt des Raumes, je das
Jetzt
und das Außersichsein der Jetzt »denkt«, »ist« der Raum die
Zeit. Wie wird diese selbst bestimmt?
»Die Zeit, als die negative Einheit des Außersichseins ist
gleich-
falls ein schlechthin Abstraktes, Ideelles. – Sie ist das
Sein, das,
indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist: das
angeschaute
Werden; das heißt daß die zwar schlechthin momentanen,
unmit-
telbar sich aufhebenden Unterschiede als äußerliche, jedoch
sich
selbst äußerliche, bestimmt sind«2. Die Zeit enthüllt sich
für diese
Auslegung als das
1 Vgl. Hegel, Encyclopädie, krit. Ausgabe von Hoffmeister
1949, § 257.
2 a. a. O.
S 258. 431
»angeschaute Werden«. Dieses bedeutet nach Hegel Übergehen
vom Sein zum Nichts, bzw. vom Nichts zum Sein1. Werden ist
sowohl Entstehen als Vergehen. Das Sein »geht über«, bzw.
das
Nichtsein. Was besagt das hinsichtlich der Zeit? Das Sein
der
Zeit ist das Jetzt; sofern aber jedes Jetzt »jetzt« auch
schon nicht-
mehr-, bzw. je jetzt zuvor noch-nicht ist, kann es auch als
Nichtsein gefaßt werden. Zeit ist das »angeschaute« Werden,
das
heißt der Übergang, der nicht gedacht wird, sondern in der Jetzt-
folge sich schlicht darbietet. Wenn das Wesen der Zeit als
»ange-
schautes Werden« bestimmt wird, dann offenbart sich damit:
die
Zeit wird primär aus dem Jetzt verstanden und zwar so, wie
es
für das pure Anschauen vorfindlich ist.
Es bedarf keiner umständlichen Erörterung, um deutlich zu
machen, daß Hegel mit seiner Zeitinterpretation sich ganz in
der
Richtung des vulgären Zeitverständnisses bewegt. Hegels Cha-
rakteristik der Zeit aus dem Jetzt setzt voraus, daß dieses
in sei-
ner vollen Struktur verdeckt und nivelliert bleibt, um als
ein
wenngleich »ideell« Vorhandenes angeschaut werden zu können.
Daß Hegel die Interpretation der Zeit aus der primären
Orien-
tierung am nivellierten Jetzt vollzieht, belegen folgende
Sätze:
»Das Jetzt hat ein ungeheures Recht, – es ‘ist’ nichts als
das ein-
zelne Jetzt, aber dies Ausschließende in seiner Aufspreizung
ist
aufgelöst, zerflossen, zerstäubt, indem ich es ausspreche«2.
Ȇbrigens kommt es in der Natur, wo die Zeit Jetzt ist, nicht
zum ‘bestehenden’ Unterschiede von jenen Dimensionen« (Ver-
gangenheit und Zukunft)3. »Im positiven Sinne der Zeit kann
man daher sagen: nur die Gegenwart ist, das Vor und Nach ist
nicht; aber die konkrete Gegenwart ist das Resultat der
Vergan-
genheit und sie ist trächtig von der Zukunft. Die wahrhafte
Gegenwart ist somit die Ewigkeit«4.
Wenn Hegel die Zeit das »angeschaute Werden« nennt, dann
hat in ihr weder das Entstehen noch das Vergehen einen
Vorrang.
Gleichwohl charakterisiert er die Zeit gelegentlich als die
»Abstraktion des Verzehrens« und bringt so die vulgäre
Zeiter-
fahrung und Zeitauslegung auf die radikalste Formel5.
Anderer-
seits ist Hegel konsequent genug, um in der eigentlichen
Zeitdefi-
nition dem Verzehren und Vergehen keinen Vorrang zuzugeste-
hen, wie er doch in der alltäglichen
1 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, I. Buch, 1. Abschn. 1.
Kap. (ed.
G. Lasson
1923), S. 66 ff.
2 Vgl. Encyklopädie
a. a. O § 258, Zusatz.
3 a. a. O. § 259.
4 a. a. O § 259, Zusatz.
5 a. a. O. § 258, Zusatz. 432
Zeiterfahrung mit Recht festgehalten wird; denn Hegel ver-
möchte diesen Vorrang dialektisch so wenig zu begründen, wie
den von ihm als selbstverständlich eingeführten »Umstand«,
daß
gerade beim Sich-für-sich-setzen des Punktes das Jetzt
auftaucht.
Und so versteht denn Hegel auch in der Charakteristik der
Zeit
als Werden dieses in einem »abstrakten« Sinne, der über die
Vor-
stellung vom »Fluß« der Zeit noch hinausliegt. Der angemes-
senste Ausdruck der Hegelschen Zeitauffassung liegt daher in
der
Bestimmung der Zeit als Negation der Negation (das heißt der
Punktualität). Hier ist die Jetztfolge im extremsten Sinne
formali-
siert und unüberbietbar nivelliert1. Einzig von diesem formal-
dialektischen Begriff der Zeit aus vermag Hegel einen Zusam-
menhang zwischen Zeit und Geist herzustellen.
1 Aus dem Vorrang des nivellierten Jetzt wird deutlich, daß
auch die
Hegelsche Begriffsbestimmung der Zeit dem Zuge des vulgären
Zeitverständnisses und das heißt zugleich dem traditionellen
Zeitbegriff
folgt. Es läßt sich zeigen, daß Hegels Zeitbegriff sogar
direkt aus der
»Physik« des Aristoteles geschöpft ist. In der »Jenenser
Logik« (vgl. die
Ausgabe von G. Lasson 1923), die zur Zeit der Habilitation
Hegels
entworfen wurde, ist die Zeitanalyse der »Enzyklopädie« in
allen
wesentlichen Stücken schon ausgebildet. Der Abschnitt über
die Zeit (S.
202 ff.) enthüllt sich schon der rohesten Prüfung als eine
Paraphrase der
Aristotelischen Zeitabhandlung. Hegel entwickelt bereits in
der
»Jenenser Logik« seine Zeitauffassung im Rahmen der
Naturphilosophie
(S. 186), deren erster Teil überschrieben ist mit dem Titel
»System der
Sonne« (S. 195). Im Anschluß an die Begriffsbestimmung von
Äther und
Bewegung erörtert Hegel den Begriff der Zeit. Die Analyse
des Raumes
ist hier noch nachgeordnet. Wenngleich die Dialektik schon
durchbricht,
hat sie noch nicht die spätere starre, schematische Form,
sondern
ermöglicht noch ein aufgelockertes Verstehen der Phänomene.
Auf dem
Wege von Kant zu Hegels ausgebildetem System vollzieht sich
noch
einmal ein entscheidender Einbruch der Aristotelischen
Ontologie und
Logik. Als Faktum ist das längst bekannt. Aber Weg, Art und
Grenzen
der Einwirkung sind bislang ebenso dunkel. Eine konkrete
vergleichende
philosophische Interpretation der »Jenenser Logik« Hegels
und der
»Physik« und »Metaphysik« des Aristoteles wird neues Licht
bringen.
Für die obige Betrachtung mögen einige rohe Hinweise
genügen.
Aristoteles sieht das Wesen der Zeit im nàn, Hegel im Jetzt.
A. faßt das
nàn als Óroj, H. nimmt das Jetzt als »Grenze«. A. versteht
das nàn als
stigm?. H. interpretiert das Jetzt als Punkt. A.
kennzeichnet das nàn als
tÒde ti. H. nennt das Jetzt das »absolute Dieses« A. bringt
überlieferungsgemäß crÒnoj mit der sfavra in Zusammenhang,
H.
betont den »Kreislauf« der Zeit. Hegel entgeht freilich die
zentrale
Tendenz der Aristotelischen Zeitanalyse, zwischen dem nàn
Óroj, stigm?,
tÒde ti einen Fundierungszusammenhang (¢kolouqevn)
aufzudecken. –
Mit Hegels These: Der Raum »ist« Zeit, kommt Bergsons
Auffassung
bei aller Verschiedenheit der Begründung im Resultat
überein. B. sagt
nur umgekehrt: Die Zeit (temps) ist Raum. Auch Bergsons
Zeitauffassung ist offensichtlich aus einer Inter- 433
b) Hegels Interpretation des Zusammenhangs zwischen Zeit und
Geist
Wie ist der Geist selbst verstanden, daß gesagt werden kann,
es
sei ihm gemäß, mit seiner Verwirklichung in die als Negation
der
Negation bestimmte Zeit zu fallen? Das Wesen des Geistes ist
der
Begriff. Darunter versteht Hegel nicht das angeschaute
Allge-
meine einer Gattung als die Form eines Gedachten, sondern
die
Form des sich denkenden Denkens selbst: das sich – als
Erfassen
des Nicht-Ich – Begreifen, Sofern das Erfassen des Nicht-Ich
ein
Unterscheiden darstellt, liegt im reinen Begriff als
Erfassen dieses
Unterscheiden« ein Unterscheiden des Unterschieds. Daher
kann
Hegel das Wesen des Geistes formal-apophantisch als Negation
der Negation bestimmen. Diese »absolute Negativität« gibt
die
logisch formalisierte Interpretation von Descartes’ cogito
me
cogitare rem, worin er das Wesen der conscientia sieht.
Der Begriff ist sonach die sich begreifende Begriffenheit
des
Selbst, als welche das Selbst eigentlich ist, wie es sein
kann, das
heißt frei. »Ich ist der reine Begriff selbst, der als
Begriff zum
Dasein gekommen ist«1. »Ich aber ist diese erstlich reine, sich
auf
sich beziehende Einheit, und dies nicht unmittelbar,
sondern,
indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahiert und
in die
Freiheit der schranken-
pretation der Aristotelischen Zeitabhandlung erwachsen. Es
ist nicht
lediglich ein äußerer literarischer Zusammenhang, daß
gleichzeitig mit
B’s Essai sur les
donnés immédiates de la conscience, wo das Problem
von temps und dureé exponiert wird, eine Abhandlung B.’s
erschien mit
dem Titel: Quid Aristoteles de loco senserit. Mit Rücksicht
auf die
Aristotelische Bestimmung der Zeit als ¢riqmÕj kin?sewj
schickt B. der
Analyse der Zeit eine solche der Zahl voraus. Die Zeit als
Raum (vgl.
Essai p. 69) ist
quantitative Sukzession. Die Dauer wird aus der
Gegenorientierung an diesem Zeitbegriff als qualitative
Sukzession
beschrieben. Für eine kritische Auseinandersetzung mit
Bergsons
Zeitbegriff und den übrigen Zeitauffassungen der Gegenwart
ist hier
nicht der Ort. Soweit in den heutigen Zeitanalysen überhaupt
über
Aristoteles und Kant hinaus etwas Wesentliches gewonnen
wird, betrifft
es mehr die Zeiterfassung und das »Zeitbewußtsein«. Der
Hinweis auf
den direkten Zusammenhang zwischen Hegels Zeitbegriff und
der
Aristotelischen Zeitanalyse soll H. nicht eine
»Abhängigkeit«
vorrechnen, sondern auf die grundsätzliche ontologische
Tragweite
dieser Filiation für die Hegelsche Logik aufmerksam machen.
– Über
»Aristoteles und Hegel« vgl. den so betitelten Aufsatz von
Nicolai
Hartmann in den Beiträgen zur Philosophie des deutschen
Idealismus,
Bd. 3 (1923) S. 1-36.
1 Vgl. Hegel, Wissenschaft d. Logik, II. Bd. (ed. Lasson
1923), 2. Teil,
S. 220. 434
losen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht«1. So ist das
Ich »All-
gemeinheit« aber ebenso unmittelbar »Einzelnheit«.
Dieses Negieren der Negation ist in einem das »absolut Unru-
hige« des Geistes und seine Selbstoffenbarung, die zu seinem
Wesen gehört. Das »Fortschreiten« des in der Geschichte sich
verwirklichenden Geistes trägt »ein Prinzip der
Ausschließung«2
in sich. Diese wird jedoch nicht zu einer Ablösung vom
Ausge-
schlossenen, sondern zu seiner Überwindung. Das überwindende
und zugleich ertragende Sichfreimachen charakterisiert die
Frei-
heit des Geistes. Der »Fortschritt« bedeutet daher nie ein
nur
quantitatives Mehr, sondern ist wesentlich qualitativ und
zwar
von der Qualität des Geistes. Das »Fortschreiten« ist
gewußtes
und in seinem Ziel sich wissendes. In jedem Schritt seines
»Fort-
schritts« hat der Geist »sich selbst« als das wahrhaft
feindselige
Hindernis seines Zweckes zu überwinden3. Das Ziel der
Entwick-
lung des Geistes ist, »seinen eigenen Begriff zu
erreichen«4. Die
Entwicklung selbst ist »ein harter, unendlicher Kampf gegen
sich
selbst«5.
Weil die Unruhe der Entwicklung des sich zu seinem Begriff
bringenden Geistes die Negation der Negation ist, bleibt es
ihm,
sich verwirklichend, gemäß, »in die Zeit« als die
unmittelbare
Negation der Negation zu fallen. Denn »die Zeit ist der
Begriff
selbst, der da ist, und als leere Anschauung sich dem
Bewußtsein
vorstellt; deswegen erscheint der Geist notwendig in der
Zeit, und
er erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen
reinen Begriff
erfaßt, das heißt nicht die Zeit tilgt. Sie ist das äußere
ange-
schaute vom Selbst nicht erfaßte reine Selbst, der nur
angeschaute
Begriff«6. So erscheint der Geist notwendig seinem Wesen
nach
in der Zeit. »Die Weltgeschichte ist also überhaupt die
Auslegung
des Geistes in der Zeit, wie sich im Raum die Idee als Natur
aus-
legt«7. Das zur Bewegung der Entwicklung gehörige »Aus-
schließen« birgt eine Beziehung auf das Nichtsein in sich.
Das ist
die Zeit, verstanden aus dem sich aufspreizenden Jetzt.
Die Zeit ist die »abstrakte« Negativität. Als »angeschautes
Werden« ist sie das unmittelbar vorfindliche, unterschiedene
Sichunter-
1 a. a. O.
2 Vgl. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Einleitung in
die
Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg. von G. Lasson 1917, S.
130.
3 a. a. O. S. 132.
4 a. a. O.
5 a. a. O.
6 Vgl. Phänomenologie des Geistes. WW. II, S. 604.
7 Vgl. Die Vernunft in der Geschichte a. a. O. S. 134. 435
scheiden, der »daseiende«, das heißt vorhandene Begriff. Als
Vorhandenes und somit Äußeres des Geistes hat die Zeit keine
Macht über den Begriff, sondern der Begriff vielmehr »ist
die
Macht der Zeit«1.
Hegel zeigt die Möglichkeit der geschichtlichen
Verwirklichung
des Geistes »in der Zeit« im Rückgang auf die Selbigkeit der
formalen Struktur von Geist und Zeit als Negation der
Negation.
Die leerste, formal-ontologische und formal-apophantische
Abstraktion, in die Geist und Zeit entäußert werden,
ermöglicht
die Herstellung einer Verwandtschaft beider. Weil aber doch
zugleich die Zeit im Sinne der schlechthin nivellierten
Weltzeit
begriffen wird, und so ihre Herkunft vollends verdeckt
bleibt,
steht sie dem Geist als ein Vorhandenes einfach gegenüber.
Des-
wegen muß der Geist allererst »in die Zeit« fallen. Was gar
dieses
»Fallen« und die »Verwirklichung« des der Zeit mächtigen und
eigentlich außer ihr »seienden« Geistes ontologisch
bedeutet,
bleibt dunkel. So wenig Hegel den Ursprung der nivellierten
Zeit
aufhellt, so gänzlich ungeprüft läßt er die Frage, ob die
Wesens-
verfassung des Geistes als Negieren der Negation überhaupt
anders möglich ist, es sei denn auf dem Grunde der ursprüng-
lichen Zeitlichkeit.
Ob Hegels Interpretation von Zeit und Geist und ihrem
Zusammenhang zurecht besteht und überhaupt auf ontologisch
ursprünglichen Fundamenten ruht, kann jetzt noch nicht
erörtert
werden Daß jedoch die formal-dialektische »Konstruktion« des
Zusammenhang; von Geist und Zeit überhaupt gewagt werden
kann, offenbart eine ursprüngliche Verwandtschaft beider.
Hegels »Konstruktion« hat ihren Antrieb aus der Anstrengung
und dem Kampf um ein Begreifen der »Konkretion« des Geistes.
Das bekundet der folgende Satz aus dem Schlußkapitel seiner
»Phänomenologie des Geistes«: »Die Zeit erscheint daher als
das
Schicksal und die Notwendigkeit des Geistes, der nicht in
sich
vollendet ist, – die Notwendigkeit, den Anteil, den das
Selbstbe-
wußtsein an dem Bewußtsein hat, zu bereichern, die Unmittel-
barkeit des Ansich – die Form, in der die Substanz im
Bewußtsein
ist, – in Bewegung zu setzen oder umgekehrt das Ansich als
das
Innerliche genommen, das was erst innerlich ist, zu
realisieren
und zu offenbaren, das heißt es der Gewißheit seiner selbst
zu
vindizieren«2.
Die vorstehende existenziale Analytik des Daseins setzt
dagegen
in der »Konkretion« der faktisch geworfenen Existenz selbst
ein,
um die Zeitlichkeit als deren ursprüngliche Ermöglichung zu
enthüllen
1 Vgl. Encyklopädie, § 258.
2 Vgl. Phänomenologie des Geistes a. a. O. S. 605. 436
Der »Geist« fällt nicht erst in die Zeit, sondern existiert
als ur-
sprüngliche Zeitigung der Zeitlichkeit. Diese zeitigt die
Weltzeit,
in deren Horizont die »Geschichte« als innerzeitiges
Geschehen
»erscheinen« kann. Der »Geist« fällt nicht in die Zeit,
sondern:
die faktische Existenz »fällt« als verfallende aus der
ursprüng-
lichen, eigentlichen Zeitlichkeit. Dieses »Fallen« aber hat
selbst
seine existenziale Möglichkeit in einem zur Zeitlichkeit
gehören-
den Modus ihrer Zeitigung.
§ 83. Die existenzial-zeitliche Analytik des Daseins und die
fun-
damentalontologische Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt
Die Aufgabe der bisherigen Betrachtungen war, das ursprüng-
liche Ganze des faktischen Daseins hinsichtlich der
Möglichkei-
ten des eigentlichen und uneigentlichen Existierens
existenzial-
ontologisch aus seinem Grunde zu interpretieren. Als dieser
Grund und somit als Seinssinn der Sorge offenbarte sich die
Zeit-
lichkeit. Was daher die vorbereitende existenziale Analytik
des
Daseins vor der Freilegung der Zeitlichkeit bereitgestellt
hat, ist
nunmehr in die ursprüngliche Struktur der Seinsganzheit des
Daseins, die Zeitlichkeit, zurückgenommen. Aus den
analysierten
Zeitigungsmöglichkeiten der ursprünglichen Zeit haben die
frü-
her nur erst »aufgezeigten« Strukturen ihre »Begründung«
erhal-
ten. Die Herausstellung der Seinsverfassung des Daseins
bleibt
aber gleichwohl nur ein Weg. Das Ziel ist die Ausarbeitung
der
Seinsfrage überhaupt. Die thematische Analytik der Existenz
bedarf ihrerseits erst des Lichtes aus der zuvor geklärten
Idee des
Seins überhaupt. Das gilt zumal dann, wenn der in der
Einleitung
ausgesprochene Satz als Richtmaß jeglicher philosophischen
Untersuchung festgehalten wird: Philosophie ist universale
phä-
nomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des
Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des
Leitfadens
alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus
es
entspringt und wohin es zurückschlägt1. Freilich darf auch
die
These nicht als Dogma gelten, sondern als Formulierung des
noch
»eingehüllten« grundsätzlichen Problems: läßt sich die
Ontologie
ontologisch begründen oder bedarf sie auch hierzu eines
onti-
schen Fundamentes, und welches Seiende muß die Funktion der
Fundierung übernehmen?
Was so einleuchtend erscheint wie der Unterschied des Seins
des existierenden Daseins gegenüber dem Sein des
nichtdaseins-
mäßigen
1 Vgl. § 7, S. 38. 437
Seienden (Realität zum Beispiel), ist doch nur der Ausgang
der
ontologischen Problematik, aber nichts, wobei die
Philosophie
sich beruhigen kann. Daß die antike Ontologie mit
»Dingbegrif-
fen« arbeitet und daß die Gefahr besteht, das »Bewußtsein zu
verdinglichen«, weiß man längst. Allein was bedeutet
Verding-
lichung? Woraus entspringt sie? Warum wird das Sein gerade
»zunächst« aus dem Vorhandenen »begriffen« und nicht aus dem
Zuhandenen, das doch noch näher liegt? Warum kommt diese
Verdinglichung immer wieder zur Herrschaft? Wie ist das Sein
des »Bewußtseins« positiv strukturiert, so daß
Verdinglichung
ihm unangemessen bleibt? Genügt überhaupt der »Unterschied«
von »Bewußtsein« und »Ding« für eine ursprüngliche
Aufrollung
der ontologischen Problematik? Liegen die Antworten auf
diese
Fragen am Wege? Und läßt sich die Antwort auch nur suchen,
so
lange die Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt ungestellt
und
ungeklärt bleibt?
Nach dem Ursprung und der Möglichkeit der »Idee« des Seins
überhaupt kann nie mit den Mitteln formal-logischer
»Abstrak-
tion«, das heißt nicht ohne sicheren Frage- und
Antworthorizont
geforscht werden. Es gilt, einen Weg zur Aufhellung der
ontologi-
schen Fundamentalfrage zu suchen und zu gehen. Ob er der
ein-
zige oder überhaupt der rechte ist, das kann erst nach dem
Gang
entschieden werden. Der Streit bezüglich der Interpretation
des
Seins kann nicht geschlichtet werden, weil er noch nicht
einmal
entfacht ist. Und am Ende läßt er sich nicht »vom Zaun
brechen«, sondern das Entfachen des Streites bedarf schon
einer
Zurüstung. Hierzu allein ist die vorliegende Untersuchung
unter-
wegs. Wo steht sie?
So etwas wie »Sein« ist erschlossen im Seinsverständnis, das
als
Verstehen zum existierenden Dasein gehört. Die vorgängige,
obzwar unbegriffliche Erschlossenheit von Sein ermöglicht,
daß
sich das Dasein als existierendes In-der-Welt-sein zu
Seiendem,
dem innerweltlich begegnenden sowohl wie zu ihm selbst als
existierendem verhalten kann. Wie ist erschließendes
Verstehen
von Sein daseinsmäßig überhaupt möglich? Kann die Frage ihre
Antwort im Rückgang auf die ursprüngliche Seinsverfassung
des
Sein-verstehenden Daseins gewinnen? Die
existenzial-ontologi-
sche Verfassung der Daseinsganzheit gründet in der
Zeitlichkeit.
Demnach muß eine ursprüngliche Zeitigungsweise der ekstati-
schen Zeitlichkeit selbst den ekstatischen Entwurf von Sein
über-
haupt ermöglichen. Wie ist dieser Zeitigungsmodus der
Zeitlich-
keit zu interpretieren? Führt ein Weg von der ursprünglichen
Zeit
zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als
Horizont
des Seins?